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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 132 sich um ihre Verbesserung bemühen. Deshalb muß das Vorurteil, demzufolge die Gelehrten in alten Zeiten nur einigen wenigen Völkern Wißbegier zuerkannten, sie den anderen aber absprachen, einfach als nicht der Rede wert bezeichnet werden. Es hat niemals einen gesunden Menschen gegeben, und es konnte ihn nicht geben, der nicht eine gewisse Wißbegier und ein gewisses Verlangen gehabt hätte, sein Leben zu verbessern. Der Trieb, Kenntnisse zu erwerben, und die Neigung, sich um die Verbesserung des eigenen Lebens zu bemühen, sind also angeborene Eigenschaften des Menschen, gleich der Magentätigkeit. Aber die Existenz der Magentätigkeit und das Bedürfnis nach Speise können, wenn die äußeren Umstände nicht günstig sind, ungenügende Befriedigung finden, und in gewissen Fällen verschwindet der Appetit gänzlich. Wenn die äußeren Umstände dem Erwerben von Kenntnissen und den erfolgreichen Bemühungen um die Verbesserung des Lebens nicht günstig sind, wird die geistige Tätigkeit weniger aktiv sein als unter günstigen Umständen. In einigen Fällen kann sie zum Stillstand kommen, wie andere Triebe der menschlichen Natur zum Stillstand kommen können, ohne daß die Tätigkeit der Lungen, des [309] Magens und andere sogenannte vegetative Lebensfunktionen des Menschen dadurch geschwächt werden. Von allzu lang anhaltendem Hunger stirbt der Mensch, davon daß seine Wißlegier oder sein ästhetisches Empfinden erstarren, stirbt er nicht, sondern stumpft in dieser Hinsicht nur ab. Was beim Einzelmenschen vor sich geht, das kann auch bei der überwiegenden Mehrzahl des Volkes vor sich gehen, wenn sie dem gleichen Druck ausgesetzt ist, und mit einem ganzen Volk, wenn alle Menschen, die es bilden, diesem Druck unterliegen. Unter günstigen Umständen kommt die angeborene Neigung des Menschen, Wissen zu erwerben und sein Leben zu verbessern, zur Entfaltung; das gleiche gilt zweifellos auch für das Volk, weil alle Änderungen, sei es physischen, sei es geistigen Zustandes, die Summe der Änderungen sind, die bei den Einzelmenschen vor sich gehen. In alten Zeiten stritt man sich darüber, ob der Mensch mit guten oder schlechten moralischen Neigungen geboren wird. Heutzutage muß man jeden Zweifel daran, daß sie gut sind, als veraltet bezeichnen. Es handelt sich hier wieder um einen Sonderfall eines viel umfassenderen Lebensgesetzes der mit Bewußtsein begabten organischen Wesen. Es gibt Gattungen oder Arten von Lebewesen, die ein einsames Leben vorziehen und die Gesellschaft von ihresgleichen vermeiden. Bei den Säugetieren gilt das, wie man sagt, vom Maulwurf. Die große Mehrheit der Säugetierarten jedoch liebt es, in freundschaftlichen Beziehungen zu ihresgleichen zu stehen. Das trifft für alle Gruppen von Säugetieren zu, die ihrer körperlichen Organisation nach dem Menschen näherstehen als der Maulwurf. Solange man es noch für möglich hielt, von allen anderen Lebewesen, außer den Menschen, zu behaupten, sie hätten kein Bewußtsein, konnte man die Frage aufwerfen, ob der Mensch von Natur gut oder böse sei. Heute hat diese Frage jeden Sinn verloren. Der Mensch hat die natürliche Neigung, sich Wesen seiner Art gegenüber wohlwollend und freundlich zu verhalten, eine Neigung, wie sie allen Lebewesen eigen ist, die das Leben in Gesellschaft von ihresgleichen der Einsamkeit vorziehen. [310] Aber auch die Neigung zum wohlwollenden Verhalten kann unter dem Einfluß ungünstiger Umstände schwächer werden. Selbst die sanftmütigsten Wesen geraten in Streit miteinander, wenn die Umstände, die den Streit hervorrufen, stärker sind als die Neigung zu wohlwollendem Verhalten. Sowohl Damhirsche als auch Tauben kämpfen miteinander. Schwerlich hat man bisher genaue Beobachtungen zur Aufklärung der Frage angestellt, bis zu welchem Grade ihr Charakter unter dem Einfluß von Umständen, die böse Gewohnheiten fördern, verderben kann. Von den Säugetieren aber, die schon seit langem Gegenstand ständiger aufmerksamer Beobachtungen sind, wie zum Beispiel von den Pferden, weiß jedermann, daß ihr Charakter, wenn sie im Laufe ihres Lebens viel gereizt werden, sehr verderben kann. Umgekehrt wissen wir, daß Säugetiere, die ihrer Natur nach Geschöpfen anderer Art gegenüber grausam und stets geneigt sind, bei den kleinsten Interessenkonflikten miteinander in Streit zu OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 133 geraten, einen ziemlich sanften Charakter annehmen, sobald der Mensch sich Mühe gibt, die freundlichen Seiten in ihnen zu entwickeln. Wenn die Rede hierauf kommt, erwähnt man gewöhnlich den Hund. Viel bemerkenswerter jedoch ist die Entwicklung der Sanftmut bei der Katze. Ihrer natürlichen Neigung nach ist die Katze ein sehr viel grausameres Geschöpf als der Wolf. Wir alle wissen jedoch, daß die Katze leicht daran zu gewöhnen ist, sich dem Geflügel gegenüber friedlich zu verhalten. Es gibt viele Erzählungen von Katzen, die mit größter Sanftmut alle möglichen Quälereien von seiten kleiner Kinder, die mit ihnen spielen, erdulden. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den Säugetieren hinsichtlich ihrer moralischen Eigenschaften hat seine Ursache in der Anlage ihrer Mägen, der einige ihrer Familien sich ausschließlich von pflanzlichen, andere ausschließlich von tierischen Stoffen nähren läßt. Jedermann weiß, daß der Hund, ein Verwandter des Wolfs und des Schakals, die ausschließlich von Tierfleisch leben, sich leicht daran gewöhnt, Brot und alle anderen Sorten der pflanzlichen Speise zu fressen, von der sich der Mensch nährt. Er kann sich nur nicht von Heu nähren, das aber auch der Mensch nicht [311] zu sich nimmt. Es sind kaum irgendwelche genaue Beobachtungen darüber angestellt worden, ob der Hund gänzlich der Fleischnahrung entwöhnt werden kann. Jedermann weiß jedoch, daß einige Arten von Jagdhunden sich dazu abrichten lassen, Abscheu vor dem Verzehren jener Tiere zu empfinden, zu deren Jagd sie verwendet werden. Ein solcher Hund kann sogenanntes Wildfleisch auch dann nicht fressen, wenn ihn Hunger quält. Umgekehrt können Pferd und Kuh oder Ochse leicht daran gewöhnt werden, Fleischbrühe zu fressen. Es sind Fälle beobachtet worden, wo Gemsen oder Steppenantilopen in der Gefangenschaft Speck zu fressen lernten. Wenn wir uns derartige starke Veränderungen von Eigenschaften vor Augen halten, die unmittelbar von der Anlage des Magens abhängen, so müssen die Zweifel daran, ob weniger stabile Eigenschaften als die von der Anlage des Magens abhängigen Besonderheiten sich unter besonderen Umständen stark verändern können, für uns jeden Sinn verlieren. Die geistigen und die moralischen Eigenschaften sind weniger stabil als die physischen, und man muß deshalb annehmen, daß auch ihre Erblichkeit weniger stabil ist. Wie weit sie vererblich sind, ist durch wissenschaftliche Forschungen noch nicht in dem Maße festgestellt, das zur Beantwortung der Frage erforderlich ist, wie die geistigen und moralischen Ähnlichkeiten und Unterschiede bei Menschen vom gleichen physischen Typus zustande kommen. Eine Meinung hierüber können wir uns nur auf Grund der zufälligen und lückenhaften Kenntnisse bilden, die wir durch Alltagsbeobachtungen über die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit von Kindern mit ihren Eltern oder von Brüdern und Schwestern untereinander gewinnen. Um festzustellen, zu welcher Meinung verständige Menschen auf Grund der alltäglichen Beobachtung dieser Ähnlichkeiten und Unterschiede im wesentlichen gekommen sind, wollen wir die Methode der Lösung genau bestimmter Hypothesen anwenden, deren sich die Naturforscher zur Erhellung von Fragen bedienen, die sich durch Analyse konkreter Tatsachen schwer entscheiden lassen. Stellen wir uns die folgende Aufgabe: In einem der Län-[312]der Westeuropas leben in einem weltabgeschiedenen Dorf ein Mann und eine Frau, zwei Menschen von gleichem physischem Typus und von gleichem Charakter. Alle Männer in diesem Dorf sind Landwirte, und die Frauen helfen den Männern bei den Feldarbeiten. Unser Paar führt das gleiche Leben; sie sind arbeitsam, ehrlich und gut. Sie haben einen Sohn. Ein Jahr nach seiner Geburt sterben die Eltern. Der nächste Verwandte des Waisenkindes, ein Vetter seiner Mutter, ist verheiratet, hat aber keine Kinder. Von ihm und seiner Frau wissen wir nur, daß sie ehrliche, gute und arbeitsliebende Menschen und dabei nicht arm sind, daß sie in der Landeshauptstadt eines anderen Volkes leben, daß sie dort geboren sind und ihr ganzes Leben verbracht haben, die Sprache jener Hauptstadt sprechen, keine andere Sprache kennen und vom Acker niemals etwas zu OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 132<br />

sich um ihre Verbesserung bemühen. Deshalb muß das Vorurteil, demzufolge die Gelehrten<br />

in alten Zeiten nur einigen wenigen Völkern Wißbegier zuerkannten, sie den anderen aber<br />

absprachen, einfach als nicht der Rede wert bezeichnet werden. Es hat niemals einen gesunden<br />

Menschen gegeben, und es konnte ihn nicht geben, der nicht eine gewisse Wißbegier und<br />

ein gewisses Verlangen gehabt hätte, sein Leben zu verbessern.<br />

Der Trieb, Kenntnisse zu erwerben, und die Neigung, sich um die Verbesserung des eigenen<br />

Lebens zu bemühen, sind also angeborene Eigenschaften des Menschen, gleich der Magentätigkeit.<br />

Aber die Existenz der Magentätigkeit und das Bedürfnis nach Speise können, wenn die<br />

äußeren Umstände nicht günstig sind, ungenügende Befriedigung finden, und in gewissen Fällen<br />

verschwindet der Appetit gänzlich. Wenn die äußeren Umstände dem Erwerben von Kenntnissen<br />

und den erfolgreichen Bemühungen um die Verbesserung des Lebens nicht günstig sind,<br />

wird die geistige Tätigkeit weniger aktiv sein als unter günstigen Umständen. In einigen Fällen<br />

kann sie zum Stillstand kommen, wie andere Triebe der menschlichen Natur zum Stillstand<br />

kommen können, ohne daß die Tätigkeit der Lungen, des [309] Magens und andere sogenannte<br />

vegetative Lebensfunktionen des Menschen dadurch geschwächt werden. Von allzu lang anhaltendem<br />

Hunger stirbt der Mensch, davon daß seine Wißlegier oder sein ästhetisches Empfinden<br />

erstarren, stirbt er nicht, sondern stumpft in dieser Hinsicht nur ab. Was beim Einzelmenschen<br />

vor sich geht, das kann auch bei der überwiegenden Mehrzahl des Volkes vor sich gehen, wenn<br />

sie dem gleichen Druck ausgesetzt ist, und mit einem ganzen Volk, wenn alle Menschen, die es<br />

bilden, diesem Druck unterliegen. Unter günstigen Umständen kommt die angeborene Neigung<br />

des Menschen, Wissen zu erwerben und sein Leben zu verbessern, zur Entfaltung; das gleiche<br />

gilt zweifellos auch für das Volk, weil alle Änderungen, sei es physischen, sei es geistigen Zustandes,<br />

die Summe der Änderungen sind, die bei den Einzelmenschen vor sich gehen.<br />

In alten Zeiten stritt man sich darüber, ob der Mensch mit guten oder schlechten moralischen<br />

Neigungen geboren wird. Heutzutage muß man jeden Zweifel daran, daß sie gut sind, als veraltet<br />

bezeichnen. Es handelt sich hier wieder um einen Sonderfall eines viel umfassenderen<br />

Lebensgesetzes der mit Bewußtsein begabten organischen Wesen. Es gibt Gattungen oder<br />

Arten von Lebewesen, die ein einsames Leben vorziehen und die Gesellschaft von ihresgleichen<br />

vermeiden. Bei den Säugetieren gilt das, wie man sagt, vom Maulwurf. Die große Mehrheit<br />

der Säugetierarten jedoch liebt es, in freundschaftlichen Beziehungen zu ihresgleichen zu<br />

stehen. Das trifft für alle Gruppen von Säugetieren zu, die ihrer körperlichen Organisation<br />

nach dem Menschen näherstehen als der Maulwurf. Solange man es noch für möglich hielt,<br />

von allen anderen Lebewesen, außer den Menschen, zu behaupten, sie hätten kein Bewußtsein,<br />

konnte man die Frage aufwerfen, ob der Mensch von Natur gut oder böse sei. Heute hat diese<br />

Frage jeden Sinn verloren. Der Mensch hat die natürliche Neigung, sich Wesen seiner Art<br />

gegenüber wohlwollend und freundlich zu verhalten, eine Neigung, wie sie allen Lebewesen<br />

eigen ist, die das Leben in Gesellschaft von ihresgleichen der Einsamkeit vorziehen.<br />

[310] Aber auch die Neigung zum wohlwollenden Verhalten kann unter dem Einfluß ungünstiger<br />

Umstände schwächer werden. Selbst die sanftmütigsten Wesen geraten in Streit miteinander,<br />

wenn die Umstände, die den Streit hervorrufen, stärker sind als die Neigung zu wohlwollendem<br />

Verhalten. Sowohl Damhirsche als auch Tauben kämpfen miteinander. Schwerlich<br />

hat man bisher genaue Beobachtungen zur Aufklärung der Frage angestellt, bis zu welchem<br />

Grade ihr Charakter unter dem Einfluß von Umständen, die böse Gewohnheiten fördern,<br />

verderben kann. Von den Säugetieren aber, die schon seit langem Gegenstand ständiger<br />

aufmerksamer Beobachtungen sind, wie zum Beispiel von den Pferden, weiß jedermann, daß<br />

ihr Charakter, wenn sie im Laufe ihres Lebens viel gereizt werden, sehr verderben kann.<br />

Umgekehrt wissen wir, daß Säugetiere, die ihrer Natur nach Geschöpfen anderer Art gegenüber<br />

grausam und stets geneigt sind, bei den kleinsten Interessenkonflikten miteinander in Streit zu<br />

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