Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
von max.stirner.archiv.leipzig.de Mehr von diesem Publisher
15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 122 kann unter der Einwirkung einer solchen Krankheit dicht vor dem Tode stehen und doch ganz gesund aussehen. Denken wir zum Beispiel an einige Formen des Typhus und die Pocken. Der Mensch hat bereits die Ansteckung in sich, sieht aber weiterhin völlig gesund aus. Gehört die physische Gesundheit zu den Eigenschaften des Menschen oder nicht Muß sie zur Vorstellung vom Charakter eines Menschen gerechnet werden Auf die erste Frage antwortet wahrscheinlich jeder: ja; auf die zweite Frage wird die Mehrzahl der Gelehrten, die die Geschichte der Völker gern aus ihren Eigenschaften erklären, antworten: nein. Gewöhnlich jedoch sagen sie vom Temperament der Völker: „Dieses Volk hat einen fröhlichen Charakter, jenes dagegen ist von Charakter mürrisch.“ Das Temperament wird durch Veränderungen im Gesundheitszustand stark gewandelt. Ein kranker Mensch hat gewöhnlich eine weniger fröhliche Stimmung als ein gesunder. Eine leichte chronische Gesundheitsstörung, die als Folge von unbefrie-[290]digenden Lebensverhältnissen eintritt, wird nicht als Krankheit bezeichnet, wirkt jedoch sehr stark auf die seelische Stimmung ein. Verlassen wir die Untersuchung der Frage nach den physischen Eigenschaften. Müssen wir zu den geistigen Fähigkeiten eines Menschen sein Wissen rechnen und zu den moralischen Eigenschaften seine Gewohnheiten Wenn wir diese Fragen mit Nein beantworten, sind wir nicht mehr imstande, einen Menschen in geistiger und moralischer Hinsicht zu charakterisieren, aber wenn wir das Wissen und die Gewohnheiten eines Menschen in den Begriff seiner Charakterisierung aufnehmen, so findet sich nur ganz selten ein Mensch, von dem man sagen könnte, daß er mit vierzig Jahren noch denselben Charakter hat, den er vor zwanzig Jahren besaß. So kurz unsere Liste der geistigen und moralischen Eigenschaften auch ausfallen mag, es werden immer solche dabei sein, die sich schwer erkennen lassen. Wahrscheinlich werden wir z. B. nicht vergessen haben, Besonnenheit, Willensstärke und Ehrlichkeit in die Liste aufzunehmen. Wenn wir auch nur eine dieser Eigenschaften aufgenommen haben, wird es uns in vielen Fällen Kopfzerbrechen machen, was wir betreffs dieser Eigenschaft hinter den Namen unseres Bekannten schreiben sollen. Man kann jahrelang mit einem Menschen zusammenleben und doch nicht sicher in Erfahrung bringen, ob er besonnen ist oder nicht, ob er einen schwachen oder starken Willen hat und ob er zuverlässig ehrlich ist; und er selber kann dreißig und fünfzig Jahre alt werden, ohne zu wissen, zu welchen Taten von hohem Edelmut oder niedriger Gemeinheit, von Kühnheit oder Feigheit er imstande ist. Wer hat nicht schon oft von nahen Bekannten die Worte gehört: „Ich staune, wie ich das habe tun können“, und hat sich mit ihnen über Taten gewundert, die absolut im Widerspruch zu unserer Vorstellung von ihrem Charakter standen. Ein Mensch hat sein fünfzigstes Jahr erreicht, ohne je etwas Unbesonnenes getan zu haben, ist dann in Schwierigkeiten geraten, wie sie ihm früher noch nie widerfahren sind, hat den Kopf verloren und handelt nun unbesonnen: kommt dergleichen etwa selten [291] vor Aber wir wollen uns nicht lange dabei aufhalten, daß unsere Kenntnisse von den schwer erkennbaren geistigen oder moralischen Eigenschaften unserer Bekannten mangelhaft sind; wir werden den zu charakterisierenden Menschen Besonnenheit oder Unbesonnenheit, festen oder schwachen Willen zuschreiben, ohne uns weiter um die Nachprüfung zu kümmern, ob unsere Meinung begründet ist. Mit dieser Nachprüfung würden wir uns auf eine so lange und schwierige Arbeit einlassen, daß wir wahrscheinlich nie mit ihr fertig werden würden. Ohne sie können wir die Charakteristik unserer Bekannten nach unserer Eigenschaftenliste leicht und schnell aufstellen. Es versteht sich, daß eine solche Liste nur sehr geringen wissenschaftlichen Wert haben wird. Echtes Wissen wird in ihr mit einer solchen Menge von Fehlern durchsetzt sein, daß wir die Liste am besten ins Feuer werfen. Aber das wollen wir erst eine Minute nach ihrer Fertigstellung tun, diese eine Minute aber wollen wir dazu verwenden, nachzusehen, in welchem Maße die von uns skizzierten Charaktere verschiedenartig sind. Und wir werden sehen, daß diese Verschiedenheit sehr groß ist. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 123 Das weiß übrigens aller Wahrscheinlichkeit nach jeder von uns, auch ohne daß er sich die unnötige Arbeit macht aufzuschreiben, was wir vom Charakter unserer Bekannten denken. Wenn das richtig ist, so haben wir es erst gar nicht nötig, die Probe zu machen, von der wir gesprochen haben. Stellen wir die Schlußfolgerungen dar, zu denen uns die Probe geführt hätte, wenn wir sie angestellt hätten. Im Bekanntenkreis eines jeden von uns gibt es keine zwei Menschen, deren Charaktere sich nicht in wichtigen Punkten voneinander unterschieden. Die Kombinationen von Eigenschaften sind sehr mannigfaltig. Mit Besonnenheit zum Beispiel geht manchmal hoher Verstand Hand in Hand, manchmal dagegen ein Maß von geistigen Fähigkeiten, das sich nur wenig von Stumpfsinn unterscheidet. Viele der Menschen, die in geistiger Hinsicht völlig unfähig gelten, sind sehr besonnen. Da haben wir schon vier Gruppen von Menschen; begabte und vernünftige, begabte und unvernünftige, unbegabte und vernünftige sowie unbegabte und unvernünftige. Nehmen wir noch die Bestimmung nach irgendeiner [292] anderen, dritten Eigenschaft, zum Beispiel der Ehrlichkeit, hinzu, so zerfällt jede Gruppe noch einmal in zwei Gruppen. Wieviel Gruppen erhalten wir, wenn wir der Einschätzung neun Eigenschaften zugrunde legen Wenn in Wirklichkeit nicht alle 1024 Gruppen dabei vorkommen, die sich nach der Formel der Kombinatorik ergeben, so doch sicher Hunderte von Typen. Der Versuch, den wir vorgeschlagen haben, ergibt Resultate, die wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen sind, da er sich nur unter der Bedingung zu Ende führen läßt, daß wir unsere Gedanken über die Eigenschaften unserer Bekannten niederschreiben, ohne uns darum zu kümmern, ob unsere Meinungen der Nachprüfung standhalten. Aber ist jemals wenigstens auch nur ein solch oberflächlicher Versuch zur Bestimmung des Charakters der Menschen unternommen worden, die nicht den Kreis unserer persönlichen Bekannten bilden, sondern ein ganzes Volk Wer hat jemals versucht nachzurechnen, in welchem Verhältnis zur Gesamtzahl der Menschen irgendeines Volkes zum Beispiel die Zahl der besonnenen oder der unbesonnenen, der willensstarken oder willensschwachen Menschen usw. steht, oder wie sich die Zahl der Menschen von diesem oder jenem durch die Kombination verschiedener Eigenschaften gebildeten Typus zur Gesamtzahl der Menschen des betreffenden Volkes verhält Nichts dergleichen ist jemals bei irgendeinem Volk versucht worden. Und wir müssen hinzufügen, daß die Arbeit, die zu einer befriedigenden direkten Erforschung der heutigen geistigen und moralischen Eigenschaften eines der zivilisierten Völker nötig wäre, mengenmäßig, ihres riesigen Umfangs wegen weit über die Kräfte des Gelehrtenstandes dieses Volkes hinausginge. Wir sind deshalb gezwungen, uns mit unseren subjektiven, zufälligen und sehr beschränkten Beobachtungen über den Charakter der Menschen und mit den Schlußfolgerungen über die moralischen Eigenschaften zufrieden zu geben, die wir aus unserem Wissen von den Lebensformen und den großen Ereignissen im Leben der Völker ziehen. Das Gesamtwissen, das uns diese Quellen liefern, ist kärglich und leidet darunter, daß es mit unsicheren Vermutungen [293] ist. Aber es wäre gut, wenn wir uns die Mühe gäben, wenigstens mit diesem unbefriedigenden Material aufmerksam und vorsichtig umzugehen. Wir tun nicht einmal das. Die landläufigen Begriffe vom Charakter der verschiedenen Völker sind flüchtig aufgestellt oder vorwiegend von unseren Sympathien oder Antipathien beeinflußt. Als Beispiel hierfür wollen wir die übliche Definition des Nationalcharakters der alten Griechen anführen. Wem von uns hat sich nicht die folgende Charakteristik des Volkes der alten Griechen eingeprägt „Nationale Eigenschaften der Griechen waren Kunstliebe, ästhetisches Feingefühl, Bevorzugung des Schönen vor dem Prunkvollen, Zurückhaltung im Genuß, Maß beim Weintrinken und noch mehr beim Essen. Die Gelage der Griechen waren fröhlich, kannten aber weder Trunkenheit noch Völlerei.“ Beschränken wir uns auf diese, den Griechen zugeschriebenen nationalen Charakterzüge. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 122<br />

kann unter der Einwirkung einer solchen Krankheit dicht vor dem Tode stehen und doch ganz<br />

gesund aussehen. Denken wir zum Beispiel an einige Formen des Typhus und die Pocken.<br />

Der Mensch hat bereits die Ansteckung in sich, sieht aber weiterhin völlig gesund aus. Gehört<br />

die physische Gesundheit zu den Eigenschaften des Menschen oder nicht Muß sie zur Vorstellung<br />

vom Charakter eines Menschen gerechnet werden Auf die erste Frage antwortet<br />

wahrscheinlich jeder: ja; auf die zweite Frage wird die Mehrzahl der Gelehrten, die die Geschichte<br />

der Völker gern aus ihren Eigenschaften erklären, antworten: nein. Gewöhnlich jedoch<br />

sagen sie vom Temperament der Völker: „Dieses Volk hat einen fröhlichen Charakter,<br />

jenes dagegen ist von Charakter mürrisch.“ Das Temperament wird durch Veränderungen im<br />

Gesundheitszustand stark gewandelt. Ein kranker Mensch hat gewöhnlich eine weniger fröhliche<br />

Stimmung als ein gesunder. Eine leichte chronische Gesundheitsstörung, die als Folge<br />

von unbefrie-[290]digenden Lebensverhältnissen eintritt, wird nicht als Krankheit bezeichnet,<br />

wirkt jedoch sehr stark auf die seelische Stimmung ein.<br />

Verlassen wir die Untersuchung der Frage nach den physischen Eigenschaften. Müssen wir<br />

zu den geistigen Fähigkeiten eines Menschen sein Wissen rechnen und zu den moralischen<br />

Eigenschaften seine Gewohnheiten Wenn wir diese Fragen mit Nein beantworten, sind wir<br />

nicht mehr imstande, einen Menschen in geistiger und moralischer Hinsicht zu charakterisieren,<br />

aber wenn wir das Wissen und die Gewohnheiten eines Menschen in den Begriff seiner<br />

Charakterisierung aufnehmen, so findet sich nur ganz selten ein Mensch, von dem man sagen<br />

könnte, daß er mit vierzig Jahren noch denselben Charakter hat, den er vor zwanzig Jahren<br />

besaß.<br />

So kurz unsere Liste der geistigen und moralischen Eigenschaften auch ausfallen mag, es<br />

werden immer solche dabei sein, die sich schwer erkennen lassen. Wahrscheinlich werden<br />

wir z. B. nicht vergessen haben, Besonnenheit, Willensstärke und Ehrlichkeit in die Liste<br />

aufzunehmen. Wenn wir auch nur eine dieser Eigenschaften aufgenommen haben, wird es<br />

uns in vielen Fällen Kopfzerbrechen machen, was wir betreffs dieser Eigenschaft hinter den<br />

Namen unseres Bekannten schreiben sollen. Man kann jahrelang mit einem Menschen zusammenleben<br />

und doch nicht sicher in Erfahrung bringen, ob er besonnen ist oder nicht, ob er<br />

einen schwachen oder starken Willen hat und ob er zuverlässig ehrlich ist; und er selber kann<br />

dreißig und fünfzig Jahre alt werden, ohne zu wissen, zu welchen Taten von hohem Edelmut<br />

oder niedriger Gemeinheit, von Kühnheit oder Feigheit er imstande ist. Wer hat nicht schon<br />

oft von nahen Bekannten die Worte gehört: „Ich staune, wie ich das habe tun können“, und<br />

hat sich mit ihnen über Taten gewundert, die absolut im Widerspruch zu unserer Vorstellung<br />

von ihrem Charakter standen. Ein Mensch hat sein fünfzigstes Jahr erreicht, ohne je etwas<br />

Unbesonnenes getan zu haben, ist dann in Schwierigkeiten geraten, wie sie ihm früher noch<br />

nie widerfahren sind, hat den Kopf verloren und handelt nun unbesonnen: kommt dergleichen<br />

etwa selten [291] vor Aber wir wollen uns nicht lange dabei aufhalten, daß unsere Kenntnisse<br />

von den schwer erkennbaren geistigen oder moralischen Eigenschaften unserer Bekannten<br />

mangelhaft sind; wir werden den zu charakterisierenden Menschen Besonnenheit oder Unbesonnenheit,<br />

festen oder schwachen Willen zuschreiben, ohne uns weiter um die Nachprüfung<br />

zu kümmern, ob unsere Meinung begründet ist. Mit dieser Nachprüfung würden wir uns auf<br />

eine so lange und schwierige Arbeit einlassen, daß wir wahrscheinlich nie mit ihr fertig werden<br />

würden. Ohne sie können wir die Charakteristik unserer Bekannten nach unserer Eigenschaftenliste<br />

leicht und schnell aufstellen. Es versteht sich, daß eine solche Liste nur sehr<br />

geringen wissenschaftlichen Wert haben wird. Echtes Wissen wird in ihr mit einer solchen<br />

Menge von Fehlern durchsetzt sein, daß wir die Liste am besten ins Feuer werfen. Aber das<br />

wollen wir erst eine Minute nach ihrer Fertigstellung tun, diese eine Minute aber wollen wir<br />

dazu verwenden, nachzusehen, in welchem Maße die von uns skizzierten Charaktere verschiedenartig<br />

sind. Und wir werden sehen, daß diese Verschiedenheit sehr groß ist.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!