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15.01.2015 Aufrufe

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 120 Gilt das auch für das Verhältnis unserer Kenntnisse von den Eigenschaften der Völker zu den Kenntnissen von den Formen ihres Alltagslebens und den wichtigsten Vorgängen [286] in ihrer Geschichte Gewöhnlich ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Reihen von Kenntnissen in bezug auf die Völker genau umgekehrt: wir kennen die Formen ihres Alltagslebens und die wichtigen Ereignisse ihrer Geschichte sehr viel besser und genauer als ihre Eigenschaften und unsere Vorstellungen von ihren Eigenschaften sind gewöhnlich nur Schlußfolgerungen aus unseren Kenntnissen von ihrem Leben und ihren Schicksalen. Nehmen wir zum Beispiel unser Wissen von einer der Eigenschaft des Volkes der alten Griechen, nämlich davon, ob die Griechen ein feiges oder kühnes Volk waren. Wir sagen alle: die Griechen waren ein kühnes Volk. Wir fragen uns: woher wissen wir das Wir denken sofort an Marathon, Salamis, Platää 4 und eine Menge von anderen Schlachten, in denen die Griechen Feinde besiegt haben, die ihnen zahlenmäßig überlegen waren. Wir wissen allerdings, daß sie diese Feinde an Disziplin übertrafen und besser bewaffnet waren; aber keine noch so gute Bewaffnung verhilft einem zahlenmäßig kleinen Heer zum Siege über einen zahlenmäßig überlegenen Feind, wenn es nicht aus kühnen Männern besteht, und nur kühne Männer können während der Schlacht Disziplin wahren. Das gleiche läßt sich von allen anderen Argumenten für die Überlegenheit der griechischen Truppen außer der Kühnheit sagen. Auch wenn wir diesen Argumenten alle nur erdenklichen Konzessionen machen, werden wir dennoch immer gezwungen sein anzuerkennen, daß die Siege der Griechen ein Beweis für ihre Kühnheit sind. Was ist nun eigentlich unser Wissen von dieser Eigenschaft der Griechen Es ist eine Schlußfolgerung aus unseren Kenntnissen der Schlachten, die sie geschlagen haben. In der gleichen Weise und ganz allgemein erklären wir uns die Ereignisse der griechischen Geschichte nicht aus unseren Kenntnissen von den Eigenschaften der Griechen, sondern kennen umgekehrt die Eigenschaften der Griechen aus den Vorgängen ihres Lebens. Von ihrer Kühnheit wissen wir aus ihren tatsächlichen Kriegshandlungen; von ihren anderen Eigenschaft wissen wir auf Grund der Resultate ihrer Tätigkeit auf anderen Gebieten, zum Beispiel sind uns die [287] geistigen Eigenschaften der Griechen aus ihren Kunstwerken und aus ihrer Literatur bekannt. Mithin sind alle unsere Kenntnisse von den geistigen und moralischen Eigenschaften früherer Völker und früherer Generationen heutiger Völker nicht direkte Kenntnisse, sondern Schlußfolgerungen aus unseren Kenntnissen von den wichtigen tatsächlichen Ereignissen ihrer Geschichte, von den Formen ihres Alltagslebens, von den Werken ihrer physischen, geistigen und moralischen Tätigkeit. Kann dieses abgeleitete Wissen verwendet werden, um Kenntnisse von Tatsachen eben jener Klasse zu erklären, die mit anderen Tatsachen die Grundlage für dieses Wissen abgegeben hat Das ist zweifellos möglich. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, die griechischen Historiker liefern uns folgende Nachricht: als das griechische Heer sich einem bestimmten Flusse näherte, zog das auf dem anderen Ufer stehende persische Heer ab, ohne den Flußübergang zu verteidigen. Nehmen wir weiter an, daß unsere Kenntnisse von dem Vorgang sich hierauf beschränken und daß wir keine weitere Nachricht über die Truppenzahl des griechischen und persischen Heeres besitzen und nicht wissen, warum das persische Heer abzog, ohne auch nur den Versuch zu machen, den Gegner aufzuhalten. Von unserem Wissen ausgehend, daß die Griechen kühn waren und daß die Perser in dieser Hinsicht die Überlegenheit der Griechen wenn nicht über das zahlenmäßig kleine Elitekorps von wirklich persischer Nationalität, so 4 In der Schlacht bei Marathon im Jahre 490 v. u. Z. schlugen die Athener den Überfall der Perser auf Attika zurück. In der Schlacht bei Salamis im Jahre 480 v. u. Z. wehrten die Athener einen neuen Überfall der Perser ab. Die Schlacht bei Platää fand im Jahre 479 v. u. Z. statt; in dieser Schlacht siegten die Griechen unter Pausanias über die Perser. Platää war im Jahre 480 v. u. Z. durch Xerxes zerstört worden. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 121 doch über die Masse ihrer aus verschiedenen Stämmen bestehenden Landwehr anerkannten, können wir den Rückzug des persischen Heeres mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit dadurch erklären, daß seine Anführer Angst hatten, die Landwehrkrieger, die wahrscheinlich die große Masse dieses Heeres bildeten, würden im Kampf mit den Griechen nicht standhalten. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß das nur eine Vermutung ist. Die persischen Feldherren konnten auch ganz andere Gründe für ihren Rückzug haben. Vielleicht war ihr am Fluß aufgestelltes Heer dem griechischen zahlenmäßig unterlegen; dann war der Grund für ihren Rückzug nicht ihre Meinung von der Überlegenheit der Griechen an Kühnheit, sondern [288] deren Zahl; oder der Rückzug war vielleicht eine Kriegslist, und die Perser wollten die Griechen in eine Gegend locken, wo sie sie leichter alle zusammen vernichten konnten; vielleicht auch zogen die persischen Feldherren ab, weil sie den Befehl erhalten hatten, irgendein anderes Gebiet eilends gegeneinen anderen Feind zu verteidigen; außer der Meinung von der Kühnheit der Griechen konnte es bei ihnen allerlei andere Gründe geben. Dabei bleibt unsere Vermutung dennoch wahrscheinlich, und man kann uns keinen Vorwurf daraus machen, wenn wir, solange andere Angaben für eine zureichende Erklärung des Vorgangs fehlen, an ihr festhalten. Fälle, wie der von uns angenommene, kommen jedoch selten vor und sind, allgemein gesprochen, wenig wichtig. Gewöhnlich besitzen wir entweder solche Berichte über die Vorgänge, daß der Gang der Ereignisse sich aus unseren zuverlässigen Kenntnissen von den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur und aus unseren Kenntnissen vom Zustand des betreffenden Volkes in gegebener Zeit und von den Details des Ereignisses hinreichend erklären läßt, oder unsere Kenntnisse von den besonderen Eigenschaften des betreffenden Volkes sind so kärglich und unsicher, daß ihre Verwendung zur Erklärung der Vorgänge so viel bedeuten würde wie die Verwandlung der Geschichte in ein willkürlich erfundenes Märchen. Unsere Kenntnisse von den geistigen und moralischen Eigenschaften der Völker vergangener Zeiten sind keine direkten Kenntnisse, sondern abgeleitet aus den Kenntnissen von den Vorgängen in ihrem Leben; es ist deshalb klar, daß sie sehr viel ärmer und sehr viel weniger exakt und zuverlässig sind als unsere Kenntnisse von den Vorgängen, die ihrer Ableitung zugrunde gelegen haben. Hinsichtlich der früheren Völker und der früheren Generationen der heute lebenden Völker läßt sich das nicht ändern. Wir können von ihren geistigen und moralischen Eigenschaften nicht anders Kenntnis erhalten als auf Grund der Tatsachen ihrer geschichtlichen Wirksamkeit. Aber können wir uns nicht vielleicht von den geistigen und moralischen Fähigkeiten der zeitgenössischen Völker direkte Kenntnisse verschaffen, die so umfassend und genau [289] sind, daß sie als feste Grundlage für die Erklärung der geschichtlichen Vorgänge dienen können Um zu sehen, ob eine solche Arbeit leicht zu bewältigen ist, wollen wir versuchen, eine Liste der Menschen aufzustellen, die wir gut kennen, und dabei ihre Eigenschaften kurz vermerken. Unsere Liste möge aus hundert Menschen bestehen. Werden wir schnell mit dieser Arbeit fertig sein, wenn wir sie mit einer Genauigkeit durchführen wollen, die den Anforderungen der Wissenschaften genügt Viele Eigenschaften eines Menschen lassen sich leicht erkennen; zu ihnen gehören zum Beispiel sein Äußeres und seine physische Kraft. Unter den Umständen, die gewöhnlich unsere Begegnungen mit Menschen begleiten, genügt es, den Menschen einfach anzusehen, um eine ziemlich exakte Vorstellung von seinem Äußeren zu erhalten; und um sich eine ziemlich genaue Vorstellung von seiner Kraft zu machen, braucht man nur zu sehen, wie er einen schweren Gegenstand in die Hand nimmt. Aber auch die rein physischen Eigenschaften lassen sich nicht immer leicht erkennen. Es gibt zum Beispiel Krankheiten, deren Wirkung nicht zu erkennen ist, ehe sie nicht einen sehr hohen Entwicklungsgrad erreicht haben. Der Mensch OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 120<br />

Gilt das auch für das Verhältnis unserer Kenntnisse von den Eigenschaften der Völker zu den<br />

Kenntnissen von den Formen ihres Alltagslebens und den wichtigsten Vorgängen [286] in<br />

ihrer Geschichte Gewöhnlich ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Reihen von Kenntnissen<br />

in bezug auf die Völker genau umgekehrt: wir kennen die Formen ihres Alltagslebens<br />

und die wichtigen Ereignisse ihrer Geschichte sehr viel besser und genauer als ihre Eigenschaften<br />

und unsere Vorstellungen von ihren Eigenschaften sind gewöhnlich nur Schlußfolgerungen<br />

aus unseren Kenntnissen von ihrem Leben und ihren Schicksalen. Nehmen wir zum<br />

Beispiel unser Wissen von einer der Eigenschaft des Volkes der alten Griechen, nämlich davon,<br />

ob die Griechen ein feiges oder kühnes Volk waren.<br />

Wir sagen alle: die Griechen waren ein kühnes Volk. Wir fragen uns: woher wissen wir das<br />

Wir denken sofort an Marathon, Salamis, Platää 4 und eine Menge von anderen Schlachten, in<br />

denen die Griechen Feinde besiegt haben, die ihnen zahlenmäßig überlegen waren. Wir wissen<br />

allerdings, daß sie diese Feinde an Disziplin übertrafen und besser bewaffnet waren; aber<br />

keine noch so gute Bewaffnung verhilft einem zahlenmäßig kleinen Heer zum Siege über<br />

einen zahlenmäßig überlegenen Feind, wenn es nicht aus kühnen Männern besteht, und nur<br />

kühne Männer können während der Schlacht Disziplin wahren. Das gleiche läßt sich von allen<br />

anderen Argumenten für die Überlegenheit der griechischen Truppen außer der Kühnheit<br />

sagen. Auch wenn wir diesen Argumenten alle nur erdenklichen Konzessionen machen, werden<br />

wir dennoch immer gezwungen sein anzuerkennen, daß die Siege der Griechen ein Beweis<br />

für ihre Kühnheit sind.<br />

Was ist nun eigentlich unser Wissen von dieser Eigenschaft der Griechen Es ist eine Schlußfolgerung<br />

aus unseren Kenntnissen der Schlachten, die sie geschlagen haben. In der gleichen<br />

Weise und ganz allgemein erklären wir uns die Ereignisse der griechischen Geschichte nicht<br />

aus unseren Kenntnissen von den Eigenschaften der Griechen, sondern kennen umgekehrt die<br />

Eigenschaften der Griechen aus den Vorgängen ihres Lebens. Von ihrer Kühnheit wissen wir<br />

aus ihren tatsächlichen Kriegshandlungen; von ihren anderen Eigenschaft wissen wir auf<br />

Grund der Resultate ihrer Tätigkeit auf anderen Gebieten, zum Beispiel sind uns die [287]<br />

geistigen Eigenschaften der Griechen aus ihren Kunstwerken und aus ihrer Literatur bekannt.<br />

Mithin sind alle unsere Kenntnisse von den geistigen und moralischen Eigenschaften früherer<br />

Völker und früherer Generationen heutiger Völker nicht direkte Kenntnisse, sondern Schlußfolgerungen<br />

aus unseren Kenntnissen von den wichtigen tatsächlichen Ereignissen ihrer Geschichte,<br />

von den Formen ihres Alltagslebens, von den Werken ihrer physischen, geistigen<br />

und moralischen Tätigkeit.<br />

Kann dieses abgeleitete Wissen verwendet werden, um Kenntnisse von Tatsachen eben jener<br />

Klasse zu erklären, die mit anderen Tatsachen die Grundlage für dieses Wissen abgegeben<br />

hat Das ist zweifellos möglich. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, die griechischen Historiker<br />

liefern uns folgende Nachricht: als das griechische Heer sich einem bestimmten Flusse<br />

näherte, zog das auf dem anderen Ufer stehende persische Heer ab, ohne den Flußübergang<br />

zu verteidigen. Nehmen wir weiter an, daß unsere Kenntnisse von dem Vorgang sich hierauf<br />

beschränken und daß wir keine weitere Nachricht über die Truppenzahl des griechischen und<br />

persischen Heeres besitzen und nicht wissen, warum das persische Heer abzog, ohne auch nur<br />

den Versuch zu machen, den Gegner aufzuhalten. Von unserem Wissen ausgehend, daß die<br />

Griechen kühn waren und daß die Perser in dieser Hinsicht die Überlegenheit der Griechen<br />

wenn nicht über das zahlenmäßig kleine Elitekorps von wirklich persischer Nationalität, so<br />

4 In der Schlacht bei Marathon im Jahre 490 v. u. Z. schlugen die Athener den Überfall der Perser auf Attika<br />

zurück. In der Schlacht bei Salamis im Jahre 480 v. u. Z. wehrten die Athener einen neuen Überfall der Perser<br />

ab. Die Schlacht bei Platää fand im Jahre 479 v. u. Z. statt; in dieser Schlacht siegten die Griechen unter Pausanias<br />

über die Perser. Platää war im Jahre 480 v. u. Z. durch Xerxes zerstört worden.<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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