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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 12<br />
erniedrigender Stellung zu sehen; die Großen der Welt helfen aus reiner Menschlichkeit ihren<br />
weniger vom Glück begünstigten Brüdern: dank der mitleidigen Fürsorge wohlhabender Leute<br />
kommt der Sohn eines armen Handwerkers, der junge Hirte und Böttcherlehrling, in die<br />
Schule und tritt auf den Weg hinaus, auf dem er zu Ehren kommt und die Armut hinter sich<br />
läßt. Aber diese Hilfe ist, so sehr sie Lob verdient, unzureichend, und die Fürsorge bei all<br />
ihrer Menschenfreundlichkeit doch nicht genügend aufmerksam: noch nicht zum Jüngling<br />
geworden, wird der Knabe bereits von neuem brotlos und muß den Weg zu besseren Verhältnissen<br />
wieder aufgeben, um sich und seine Familie mit harter Arbeit zu ernähren. Viel Kraft<br />
und Zeit geht hier in der undankbaren Arbeit des Tagelöhners zugrunde, der von der Hand in<br />
den Mund lebt und vierzehn Stunden am Tage arbeiten muß, um ein unsicheres und mageres<br />
Auskommen zu haben. Doch seine natürliche Begabung ist groß; noch hat er nichts Richtiges<br />
zu Ende gelernt, doch er hat wenigstens schon erfahren, daß nur das Wissen [84] ihm Rettung<br />
bringen kann: mögen die Verhältnisse noch so schwer sein, er wird die geistige Arbeit nicht<br />
wieder aufgeben. Außerdem will er ja die Wahrheit wissen. Zu einem materiellen Wissensbedürfnis<br />
kommt bei ihm bereits Wißbegier. Und so widmet er, auf Kosten des Schlafs und<br />
unter Verzicht auf alle Vergnügungen, sogar auf Erholung, eine Stunde oder eine halbe Stunde<br />
am späten Abend der Lektüre, so übermenschlich auch die schwere Arbeit gewesen sein<br />
mag, die ihn den ganzen Tag über beschäftigte. Auf diese Weise lernt er vieles; noch mehr<br />
aber denkt er: sein Kopf beschäftigt sich, während seine Hände schwere Arbeit verrichten,<br />
mit allgemeinmenschlichen Fragen und mit den Fragen der Lage seines ganzen Standes. Lang<br />
und schwierig ist dieser Weg: fünfzehn Jahre braucht er, um sich die Kenntnisse anzueignen,<br />
die er unter besseren Bedingungen in zwei bis drei Jahren hätte erwerben können. Dafür hat<br />
er aber Zeit gehabt, alles, was er erfährt, tief zu durchdenken, und sein Denken hat dabei außerordentliche<br />
Schärfe gewonnen. Nun weiß er bereits alles, was die Gelehrten wissen, aber<br />
sein Urteil ist klarer als das ihre; er kann ihnen einiges mitteilen, was ihrer Aufmerksamkeit<br />
würdig ist: seine Gedanken enthalten etwas Neues, denn sie sind aus einem Leben entstanden,<br />
welches die Klassen, die Gelehrte haben, nicht kennen. Anfänglich gefällt dieses Neue<br />
den Gelehrten der anständigen Gesellschaft ebenso, wie früher die Begabung des Dorfjungen<br />
gefallen hatte: sie schenken dem fleißigen Mann ihre Billigung; der fährt in seiner geistigen<br />
Arbeit fort und entwickelt seine Gedanken – doch da finden seine Gönner schließlich heraus,<br />
daß seine anfänglich so unschuldig erscheinenden Gedanken eine schädliche Seite in sich<br />
bergen. An Stelle der früheren, recht herablassenden Anteilnahme tritt jetzt Verdacht, er<br />
wächst, er bestätigt sich, verwandelt sich in ausgesprochene Abneigung und schließlich in<br />
Haß, denn des jungen Mannes Denkweise ist schädlich, und seine Bestrebungen sind verhängnisvoll;<br />
wer immer eine gute Stellung in der Gesellschaft hat, lehnt ihn ab, er ist Verfolgungen<br />
ausgesetzt; aber es ist bereits zu spät: er braucht keine Gönnerschaft mehr, er ist<br />
schon stärker als seine Verfolger, er ist berühmt, alles zittert vor ihm, denn er vernich-[85]tet<br />
jeden, gegen den die Hand zu erheben er gezwungen ist. Diese Biographie eines einzelnen<br />
Mannes ist die Geschichte des Standes, dem er angehört.<br />
Dieser Mann ist interessant als besonderer Repräsentant der geistigen Situation, zu der der einfache<br />
Mann im Westen aufgestiegen ist. Wenn wir uns seinen Theorien zuwenden, finden wir, daß<br />
die Geschichte seiner Entwicklung sich auch in ihnen mit allen ihren Seiten, darunter auch mit<br />
ihren Mängeln, widerspiegelt. Er ist Autodidakt; welche Bücher hat er beim Studium benutzt<br />
Wußte er, welche Bücher er wählen sollte, wußte er, welcher Lehre er, als einer wirklich modernen,<br />
Aufmerksamkeit schenken sollte Nein, er hat an Hand von Büchern studiert, die ihm gerade<br />
unter die Finger gerieten, und das waren meistens Bücher, die im Geiste der bereits in der<br />
Gesellschaft zur Herrschaft gekommenen Theorien geschrieben waren, d. h. im Geiste reichlich<br />
alter und recht veralteter Theorien. Das ist das Schicksal jedes Autodidakten. Wenn einer von<br />
uns, der, sagen wir, nicht Chemie studiert hat, auf den Gedanken kommt, sich mit dieser Wissenschaft<br />
zu beschäftigen, wird er, falls er nicht rechtzeitig an gute Lehrer gerät, wahrscheinlich<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013