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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 117<br />
logie überhaupt schwer vorstellen, wie solche sonderbaren Vorstellungen von den Chinesen<br />
zustande kommen und noch bis vor kurzer Zeit der Mehrzahl der Gelehrten vernünftig erscheinen<br />
konnten. Bei näherem Zusehen muß man erkennen, daß die gelben Menschen genau<br />
dasselbe denken und fühlen wie die weißen Menschen auf der entsprechenden Entwicklungsstufe.<br />
Die Besonderheiten, die wir bei den Chinesen beobachten, sind nicht Besonderheiten<br />
der Chinesen, sondern allgemeine Eigenschaften der Menschen einer gegebenen historischen<br />
Situation und sozialen Lage. Man sagt zum Beispiel, daß die Chinesen sehr arbeitsam und<br />
genügsam sind. Das sind ganz allgemeine Eigenschaften von Menschen, deren Vorfahren seit<br />
alten Zeiten ein seßhaftes Leben geführt und von ihrer eigenen Arbeit, nicht aber von Raub<br />
gelebt haben, die immer unterdrückt und arm gewesen sind. Jene Teile der europäischen Völker,<br />
auf die diese Lebensbedingungen passen, sind genau so arbeitsam wie die Chinesen und<br />
geben sich genau so mit magerem Entgelt zufrieden. Das gleiche gilt hinsichtlich der anderen<br />
sogenannten Besonderheiten der Chinesen; das sind nicht Besonderheiten der Chinesen, sondern<br />
allgemeine Eigenschaften aller Menschen, aller Rassen, darunter auch der weißen Menschen,<br />
in der entsprechenden Lage.<br />
Insbesondere soll noch von einer der angeblichen chinesischen Besonderheiten die Rede sein,<br />
von der sogenannten Unbeweglichkeit der chinesischen Lebensweise und der chinesischen<br />
Begriffe. Die Geschichte Chinas zeigt die gleichen Züge wie die Geschichte jedes anderen<br />
Volkes unter den gleichen Bedingungen. Wir wissen heute, daß das Leben jedes zivilisierten<br />
Volkes beim Zusammentreffen bestimmter Umstände Perioden des Verfalls durchgemacht<br />
hat; der gewöhnlichste dieser zum Sinken der Zivilisation führenden Vorgänge war die Verwüstung<br />
des Landes durch den Einfall fremder Eroberer. In seiner extremsten Form nahm<br />
dieses Unglück den Charakter einer lang dauernden Fremdherr-[281]schaft an. In der Geschichte<br />
Westeuropas gehörten zu dieser Art Unglücksfällen zum Beispiel der Einfall der<br />
Hunnen, später die Überfälle der Ungarn und schließlich die türkische Invasion. Wir können<br />
eine beliebige Abhandlung über die Geschichte Westeuropas aufschlagen und werden stets<br />
ein und dieselbe, durchaus zutreffende Bemerkung finden, daß diese Unglücksfälle bei den<br />
Völkern, die von ihnen betroffen wurden, Wohlstand und Kultur für lange Zeit geschädigt<br />
haben. Vergleichen wir der Klarheit halber die chinesische Geschichte mit der englischen.<br />
Von der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ab hat England keine Eroberung durch Fremde<br />
mehr zu erdulden gehabt. Die Bevölkerung Englands hatte Zeit auszuruhen, sich zu erholen<br />
und, nach Wiederherstellung des Wohlstands und der Kultur auf dem früheren Niveau, neue<br />
Erfolge zu erzielen. Schlagen wir nun die Geschichte Chinas auf und zählen wir nach, wie oft<br />
es in der gleichen Zeit von Barbaren erobert wurde. Die chinesische Geschichte ist nicht<br />
„Stillstand“, sondern eine Reihe von Rückschlägen der Zivilisation unter der Last von Barbareneinfällen<br />
und Eroberungen. Nach jedem Rückschlag arbeiteten die Chinesen sich wieder<br />
empor, konnten manchmal wieder das frühere Niveau erreichen, manchmal auch darüber<br />
hinausgehen, fielen dann aber unter den Schlägen der Barbaren wieder zurück. Warum es den<br />
Barbaren gelang, das zivilisierte und ihnen an Zahl überlegene Volk zu überwinden, ist eine<br />
Frage, die besonderer Klärung bedarf, sie betrifft jedoch nicht die chinesische Geschichte<br />
allein: auch andere zivilisierte Völker sind durch zahlenmäßig relativ kleine Barbarenstämme<br />
unterjocht worden; das ist sowohl in Westasien als auch in Europa geschehen.<br />
Zweifellos gibt es zwischen den Menschen der gelben Rasse und denen der weißen Rasse,<br />
was ihre geistige und moralische Organisation betrifft, gewisse natürliche Unterschiede, denn<br />
jedem äußerlichen Unterschied muß auch ein Unterschied im Bau des Gehirns entsprechen;<br />
aber welche Zusammenhänge zwischen den Unterschieden bestehen, ist noch nicht erforscht,<br />
und es hieße aufs Geratewohl daherreden, wissenschaftlich unbegründete Kinkerlitzchen vorbringen,<br />
wollte man aus diesen Zusammenhängen ein Prinzip [282] der Erklärung bestimmter<br />
Tatsachen des geistigen und sittlichen Lebens machen. Um zu sehen, auf wie schwachen Fü-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013