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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 112<br />
Ausdrücken von der Einheit der menschlichen Natur. Einige der bedeutenden Denker, die<br />
ihre Bildung in der Endzeit dieser Periode erhielten, bewahrten sich diese Auffassung fürs<br />
ganze Leben. So redeten zum Beispiel Pestalozzi und Hegel auch in den zwanziger Jahren<br />
unseres Jahrhunderts noch von der Gleichheit aller Menschen in demselben unbedingten Ton<br />
wie Rousseau: jeder gesund geborene Mensch wird mit den gleichen Anlagen geboren wie<br />
jeder andere; der natürliche Unterschied der geistigen und moralischen Kräfte nicht krank-,<br />
sondern gesundgeborener Menschen ist äußerst gering. Zehn oder zwanzig Jahre später jedoch<br />
gab es nur noch wenige Gelehrte, die diese Auffassung nicht als äußerst naiv verlacht<br />
hätten. Ihre Geringschätzung gehörte zu den konkreten Resultaten des Hasses, mit dem man<br />
damals den Theorien des 18. Jahrhunderts gegenüberstand. Aber die Zeit des Hasses ging<br />
vorüber, und die neuen Generationen fanden auf einmal, daß die Denker des 18. Jahrhunderts<br />
durchaus nicht so naiv waren wie es den Generationen erschienen war, die dieses Jahrhundert<br />
haßten. Eines der Resultate dieser Wandlung war das Aufkommen der Richtung, die heute in<br />
der Naturwissenschaft herrschend geworden ist. Auf das Teilproblem der Menschenrassen<br />
angewandt, kann man diese Richtung folgendermaßen kennzeichnen: die Rassenunterschiede<br />
beziehen sich auf den Gesamtorganismus; nicht nur der Schädel oder das Profil oder die Ferse<br />
ist bei jeder Rasse besonders geformt, sondern auch jeder Knochen, jeder Muskel, jede<br />
Drüse hat bei jeder [271] Rasse seine Besonderheiten; nicht nur die Hemisphären des Großhirns<br />
haben bei jeder Rasse ihre Besonderheiten, sondern solche finden sich auch bei jedem<br />
Nerv des Magens oder des Fußes; aber alle diese Unterschiede sind reichlich unbedeutend im<br />
Verhältnis zu den übereinstimmenden Elementen im Organismus aller Rassen.<br />
Die Naturwissenschaft hat sich die heute herrschende Richtung erst seit sehr kurzer Zeit zu<br />
eigen gemacht; auch die noch nicht sehr bejahrten Naturforscher haben seinerzeit aus Büchern<br />
der entgegengesetzten Richtung gelernt. Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung, und es<br />
läßt sich noch nicht bestimmt sagen, wie weit sie gehen wird. Doch sinkt, bisher wenigstens,<br />
die Bedeutung der Rassenunterschiede in der Wissenschaft schnell. Die Fachleute sind nicht<br />
Menschen eines besonderen Schlages; sie sind in ihrer Mehrheit genau wie die Mehrheit aller<br />
übrigen Menschen der öffentlichen Meinung unterworfen, die sich vorwiegend unter dem Einfluß<br />
der Ereignisse bildet. Deswegen hängt der weitere Verlauf dieser wie jeder anderen wissenschaftlichen<br />
Angelegenheit im hohen. Grade vom Gang der Ereignisse ab. Man sagt hin und<br />
wieder, das Denken der Naturforscher besitze eine sehr stabile Grundlage, so daß es nicht Gefahr<br />
laufe, den Forderungen der öffentlichen Meinung nachzugeben. Gewiß verdienen nicht nur<br />
die Astronomie, sondern auch die Physiologie, verglichen mit den Theorien der politischen und<br />
der Gesellschaftswissenschaften, als sehr stabile Begriffssysteme bezeichnet zu werden. Aber<br />
denken wir nur daran, was sich in der Geschichte nicht bloß der Physiologie, sondern selbst der<br />
Astronomie abgespielt hat. Es mag verzeihlich sein, daß Tycho de Brahe sein System eigens zu<br />
dem Zweck erfand, der wissenschaftlichen Notwendigkeit einer Anerkennung des Systems von<br />
Kopernikus zu entgehen, dessen Anhänger zu sein für ihn zwar nicht so gefährlich war wie für<br />
Galilei, ihm aber doch Unannehmlichkeiten bereiten konnte. Aber welche ernstliche Unannehmlichkeiten<br />
hätten den französischen Astronomen vom Ende des 17. und Anfang des 18.<br />
Jahrhunderts drohen können, wenn sie die Theorie Newtons annahmen Unannehmlichkeiten<br />
waren für sie damit [272] nicht verbunden; aber sie waren Franzosen; sie lebten in der französischen<br />
Gesellschaft; sie zogen das astronomische System ihres Landsmanns Descartes dem des<br />
Engländers Newton vor; und mehrere Jahrzehnte lang lehnte die Mehrheit der französischen<br />
Astronomen die Lehre Newtons ab und vertrat die Lehre Descartes.<br />
Unter Fachleuten der Anthropologie wird viel darüber gestritten, welche Unterschiede man<br />
der Einteilung der Menschen nach Rassen zugrunde legen, wieviel Grundrassen man annehmen<br />
und welcher Rasse oder welcher Rassenmischung man diesen oder jenen Stamm zuordnen<br />
soll. Aber die absolut sicher feststehenden Tatsachen betreffen die überwiegende Mehr-<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013