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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 101<br />
nen Denkens, nach und nach zu den unerschöpflich reichen Inhalten, die die göttliche Offenbarung<br />
uns gibt, gelangen, sich mit ihnen durchdringen und zu ihnen erheben kann...“<br />
Noch größere Wandlungen in den Beziehungen von Religion und Philosophie ergaben sich<br />
aus der Entwicklung der Philosophie selbst; 1. hält sich die Philosophie anfangs im Rahmen<br />
der Religion, dann 2. „löst sie sich“ – nach den Worten Herrn Or. Nowizkis – „von der Religion<br />
los, macht sich in ihrer Entwicklung von jener unabhängig, nimmt eine völlig andere<br />
Form an, die Form exakter, selbständiger Verstandesüberlegungen, und bezieht nicht selten<br />
der Religion gegenüber eine feindliche Stellung, will ihr eigenes Wissen [250] nicht im<br />
Glauben der Religion wiedererkennen; 3. schließlich kehrt die Philosophie wieder zur Religion<br />
zurück, sucht sich mit ihr auszusöhnen, als Vernunft anzuerkennen, was die Religion als<br />
Herz anerkennt, bemüht sich, den Glauben mit dem Vertrauen in die Vernunft zu vereinigen,<br />
und tritt so wieder in der Form der Gemeinschaft, jedoch einer klar herausgearbeiteten Gemeinschaft,<br />
in Erscheinung“.<br />
Vor dem Auftreten der übernatürlichen Religion machte die Philosophie – nach den Worten<br />
Herrn Or. Nowizkis – ihre erste Periode im Orient durch, ihre zweite Periode in Griechenland,<br />
wo sie „der gesellschaftlichen Religion gegenübertrat“. Die dritte Periode war die alexandrinische<br />
Philosophie, welche „die religiösen Glaubenssätze zusammenfaßte und sie zur<br />
spekulativen Anschauung umschmolz“. Nach dem Auftreten der übernatürlichen Religion<br />
mußte die Philosophie – nach den Worten Herrn Or. Nowizkis – die gleichen drei Perioden<br />
noch einmal durchmachen.<br />
„Die gleichen Wandlungen der Philosophie finden wir in der christlichen Welt. Auch hier hält sich das philosophische<br />
Denken zunächst in den Grenzen der christlichen Religion, entwickelt sich unter ihrem Einfluß und<br />
spricht ihren Inhalt in allgemeiner Form aus: das ist die Philosophie der Kirchenväter und die Scholastik; das ist<br />
ebenso auch die Philosophie der Araber in ihrem Verhältnis zum Islam. Dann sagt sich die Philosophie von der<br />
Religion los, beschreitet den Weg der selbständigen Erforschung der Dinge und stellt sich in ihrem heißen Bemühen<br />
um originelle Entwicklung manchmal gegen die religiösen Ideen: das ist die neuere Philosophie der<br />
Engländer, Franzosen und Deutschen. Am Ende darf man dann noch eine dritte Periode erwarten, wo die Philosophie<br />
zur christlichen Religion zurückkehrt. Eine solche Erwartung ist kein Voraussagen einer uns verschlossenen<br />
Zukunft; nachdem in der christlichen Welt die zwei Perioden gegeben sind, die den zwei ersten der drei<br />
Perioden der heidnischen Welt entsprechen, darf man nach einer vernünftigen Analogie eine dritte erwarten, als<br />
Schlußsatz nach zwei Prämissen. Und schon jetzt spürt man das Bedürfnis einer Annäherung von Philosophie<br />
und Religion, und die Zeit ist nahe, wo die religiösen Überzeugungen und philosophischen Anschauungen, dem<br />
höchsten Gebot von Vernunft und Glauben folgend, zu harmonischer Einheit verschmelzen; einstweilen jedoch<br />
ist das nur der Gegenstand unserer Wünsche und Hoffnungen.“<br />
Da wir keine Theologen sind, wollen wir uns nicht auf die Untersuchung einlassen, ob jene<br />
Vermengung von [251] Philosophie und Religion, nach der sich Herr Or. Nowizki sehnt, für<br />
die Religion von Nutzen gewesen ist. Wir meinen, daß jeder Mensch eben das tun soll, was er<br />
tut (vorausgesetzt natürlich, daß das, was er tut, nichts Schlechtes ist); wenn er jedoch eins tut<br />
und dabei denkt, er tue etwas anderes, dann handelt er unter dem Einfluß eines Irrtums, und<br />
alles, was er tut, wird falsch sein. Nach den Worten Herrn Or. Nowizkis unterscheidet sich<br />
die Religion von der Philosophie und von allen anderen Wissenschaften durch ihre Quelle<br />
und die Fähigkeit, die ihr als Organ dient: sie stammt aus der Offenbarung und besteht in<br />
Gefühl; die Philosophie stützt sich gleich den anderen Wissenschaften auf Beobachtungen<br />
und wird mit dem Verstande geschaffen; die Religion besteht in Glauben, die Wissenschaft in<br />
Wissen. Aber liegt hier wirklich der Hauptunterschied zwischen ihnen Nein, wenn wir uns,<br />
um über diese Frage Klarheit zu gewinnen, an die Lehrer wenden, die die geoffenbarte Religion<br />
am allerrichtigsten verstehen, an die großen Kirchenväter, so hören wir von ihnen, daß<br />
die geoffenbarte Religion sich von der weltlichen Wissenschaft auch nach dem Gegenstand<br />
der Wahrheiten, die sie lehrt, unterscheidet; die geoffenbarte Religion tut dem Menschen eine<br />
geistige Welt auf, die den äußeren Sinnen unzugänglich ist, sie spricht uns von den Geheimnissen<br />
der Hl. Dreieinigkeit, von Gottes ewigem Ratschluß der Erlösung der Menschen durch<br />
OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013