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N. G. Tschernyschewski – Ausgewählte philosophische Schriften – 100<br />

Lebendigkeit, die einzig der Religion gehören; aus den innersten, tiefsten Wurzeln des Lebens der Menschheit<br />

geht sie hervor und ist deshalb der Ausdruck seiner internsten Geheimnisse; andererseits tut sich der menschliche<br />

Geist in verschiedenen Äußerungen kund – in den Wissenschaften, in der Kunst, im Interesse am politischen<br />

Leben, doch alle diese Äußerungen und die weit verschlungenen Beziehungen des Menschenlebens, alles, was<br />

für die Menschen Sinn und Wert hat, findet seinen letzten, tiefsten Ausdruck in der Religion, in dem Gedanken,<br />

Bewußtsein, Gefühl von Gott; alle Beziehungen des Menschenlebens laufen als Einzelstrahlen in der Religion<br />

als ihrem Brennpunkt zusammen, alle finden in ihr Stärkung und neues Leben; so sind, kann man sagen, Philosophie<br />

und Kunst die Blüte des Volksbewußtseins; aber ihre lebendige Wurzel ist, wie die der gesamten Volksbildung,<br />

doch nur die [248] Religion; von dieser Wurzel losgerissen und in rein abstrakte Begriffe eingesperrt,<br />

wird das philosophische Denken tot und bringt unreife und herbe Früchte; nur im religiösen Gefühl hat die Philosophie<br />

seit je einen unerschöpflichen Quell hoher, lebenspendender Gedanken gefunden; gewiß kann auch die<br />

Philosophie der Religion gewisse Dienste leisten – sie kann das religiöse Gefühl reinigen, zwar nicht als solches,<br />

wohl aber von fremden Beimischungen falscher Vorstellungen, von Aberglauben, Fanatismus usw.; jedoch<br />

auch das vollbringt die Philosophie nur dann, wenn sie wiederum der Stimme des Gefühls folgt; sie wird<br />

nur dann zu wirklichem Wissen, wenn sie dieses Gefühl rein zum Ausdruck bringt. Schließlich entwickelt sich<br />

die Philosophie in endlosen Widersprüchen und widerstreitenden Begriffen; darum kann sie auch, selbst wenn<br />

sie die Wißbegier der Vernunft mehr oder weniger befriedigt, doch niemals Frieden und Ruhe schenken, kann<br />

das Herz nicht befriedigen; sie denkt über das Absolute nach, aber sie denkt nur nach und führt nicht zur Vereinigung<br />

mit diesem Absoluten, wonach des Menschen Geist unaufhörlich dürstet; dabei ist die Religion jener<br />

Bereich des Bewußtseins, wo alle Rätsel der Welt gelöst werden, wo alle Widersprüche des Denkens sich versöhnen,<br />

wo des Herzens Trauer und Bedrängnis zur Ruhe kommt – sie ist der Bereich der ewigen Wahrheit, der<br />

ewigen Ruhe und des ewigen Friedens; nur die Religion, nicht aber das Nachdenken über sie, bringt dem Menschen<br />

Glückseligkeit; und eben deshalb – wiederholen wir von neuem –steht der Glaube über dem Wissen, steht<br />

die Religion über der Philosophie.“ (S. 12, 13, 14, 15.)<br />

Was den Formunterschied betrifft (fährt Herr Or. Nowizki fort), stehen Philosophie und Religion<br />

in verschiedenem Verhältnis zueinander. Er kennt zwei wesentliche Abarten der Religion:<br />

die Religion der natürlichen Offenbarung oder natürliche Religion und die Religion der<br />

höchsten, übernatürlichen Offenbarung.<br />

„Ungeachtet seiner ursprünglichen Größe und Heiligkeit“ (sagt Herr Or. Nowizki), „kann das religiöse und<br />

sittliche Fühlen, wie alles, was menschlich ist, durch Leidenschaften verdunkelt und verstellt werden; und es<br />

wird tatsächlich durch die Sünde verdüstert und verzerrt –wie sich jedermann leicht nicht nur aus der Geschichte<br />

der natürlichen Religionen und der Taten der Heiden überzeugen kann, sondern auch durch leidenschaftslose<br />

innere Erfahrung, was selbst die heidnischen Denker nicht leugneten. Deshalb wurde die höchste, übernatürliche<br />

Offenbarung, deren Möglichkeit die Vernunft begreift, zu einer Notwendigkeit für das Menschengeschlecht<br />

und ist durch die göttliche Milde dem Menschen auch wirklich zuteil geworden. Vielmalen hat Gott der Herr<br />

geruht, den Menschen durch den Mund der von ihm gewählten Männer seinen Willen kundzutun, bis schließlich<br />

der fleischgewordene Sohn [249] Gottes der Erde die göttliche Offenbarung in ihrer ganzen Fülle und Vollkommenheit<br />

darbrachte und der Menschheit damit die christliche, übernatürliche, geoffenbarte Religion<br />

schenkte.“ (S. 16 u. 17.)<br />

Die natürliche Religion (fährt Herr Or. Nowizki fort) konnte den Menschen nicht die wahre<br />

und erlösende Gotteserkenntnis bringen, aber die göttliche Religion „reinigte und erhöhte<br />

nach und nach die Vorstellungen der Völker, zügelte die Leidenschaften, stärkte den Willen<br />

zum Guten, verwandelte das häusliche und öffentliche Leben der Menschen, übte einen neuen,<br />

im höchsten Maße segensreichen Einfluß auf Kunst und Wissenschaft und damit auch auf<br />

die Philosophie aus. Sie machte den Menschen solche Geheimnisse von Gott, der Welt und<br />

dem Menschen offenbar, zu denen die menschliche Vernunft in der heidnischen Welt weder<br />

in der Religion noch in der Philosophie gelangte, mehr noch, zu denen sie niemals aus eigner<br />

Kraft gelangen kann. Angesichts dieser Bedeutung der von Gott offenbarten Religion darf<br />

sich die Philosophie ihr nicht gegenüberstellen, ohne sich selber Schaden zu tun, noch weniger<br />

aber kann sie über sie hinauswachsen und sie zu weiterer Entfaltung anregen wie in der<br />

heidnischen Welt: das Menschliche kann nicht über das Göttliche hinausgelangen; dafür kann<br />

aber diese göttliche Religion dank der Erhabenheit ihrer Wahrheiten, dank ihrer Größe und<br />

Tiefe in unvergleichlich höherem Maße als die natürliche Religion das philosophische Denken<br />

zu weiterer Entfaltung anregen, so daß es auf seinem eigenen Wege, dem Wege des rei-<br />

OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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