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MEIN PLATZ IN DER GESELLSCHAFT - Stiftung Mercator Schweiz

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N o 01<br />

13<br />

<strong>ME<strong>IN</strong></strong> <strong>PLATZ</strong><br />

<strong>IN</strong> <strong>DER</strong><br />

GESELlSCHAFT<br />

Hausaufgabenbetreuung, Angebote für die Freizeit,<br />

Elternbildung: Damit alle Kinder ihr Potenzial<br />

entfalten können, setzen sich Projekte für mehr<br />

Chancengerechtigkeit ein<br />

Engagement<br />

Studierende leisten mit eigenen<br />

Projekten und Veranstaltungen<br />

einen Beitrag für die Gesellschaft<br />

Entdeckungsreise<br />

Tamilische Kinder setzen sich<br />

kreativ mit ihren kulturellen<br />

Wurzeln auseinander<br />

BioBaumwolle<br />

Neue widerstandsfähige Biobaumwollsorten<br />

begegnen<br />

den Folgen des Klimawandels<br />

<strong>Mercator</strong> magazin


inhalt<br />

Nachrichten<br />

S. 2 — 6<br />

Aktuelle Meldungen aus Projekten;<br />

Klimatipp von myblueplanet<br />

frage an die wissenschaft<br />

S. 7<br />

Klimaschutz:<br />

Was schulden wir<br />

künftigen<br />

Generationen<br />

Der Philosoph Dr. Fabian Schuppert<br />

gibt Antworten.<br />

schwerpunkt<br />

gesellschaftliche integration<br />

S. 8 — 45<br />

Mein Platz in der<br />

Gesellschaft<br />

S. 10 — 19<br />

Fünf Wege der<br />

Förderung<br />

Sie setzen sich für die Integration<br />

von Kindern und Jugendlichen<br />

ein: Fünf Personen geben Einblicke<br />

in ihr Engagement.<br />

S. 20 — 23<br />

brücken in die<br />

Welt der<br />

Erwachsenen<br />

Die schulische und ausserschulische<br />

Bildung hilft Kindern und Jugendlichen,<br />

ihren Platz in der Gesellschaft<br />

zu finden.<br />

S. 24 — 30<br />

Das Ziel stets<br />

vor Augen<br />

Das Programm ChagALL bereitet<br />

Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

auf die Aufnahmeprüfungen<br />

zur Mittelschule vor.<br />

S. 31<br />

Chancen für die<br />

zukunft<br />

Das schulergänzende Training<br />

CHANSON möchte ungleiche<br />

Bildungschancen aufgrund der<br />

sozialen Herkunft reduzieren.<br />

S. 32 — 33<br />

Die Familie als<br />

Lernort<br />

Eltern erfahren an den Themenabenden<br />

‹ElternWissen – Schulerfolg›,<br />

wie sie ihren Familienalltag<br />

lernfördernd gestalten können.<br />

S. 34 — 38<br />

Ein Zentrum für<br />

die Bildung<br />

Frühförderung, Elternbildung, Lernbegleitung<br />

für Primarschüler: Das<br />

Bildungs-Café setzt sich für Chancengerechtigkeit<br />

ein.<br />

S. 39<br />

Wege zum Erfolg<br />

Welche Faktoren beeinflussen den<br />

Bildungserfolg von Immigrantenkindern<br />

Die Studie ‹Pathways<br />

to Success› sucht nach Antworten.<br />

S. 40 — 41<br />

Lebensraum,<br />

Freiraum, Lernraum<br />

Das Projekt Platz:Box ermöglicht<br />

Jugendlichen eine konfliktfreie<br />

Nutzung des öffentlichen Raums.<br />

S. 42— 45<br />

Ein wichtiger<br />

Schritt in<br />

die Arbeitswelt<br />

Schüler sammeln im Projekt LIFT<br />

praktische Arbeitserfahrungen,<br />

um sich auf die Lehrstellensuche<br />

vorzubereiten.<br />

tätigkeitsbereich<br />

Wissenschaft<br />

S. 46 — 49<br />

Ein Beitrag für die<br />

Gesellschaft<br />

Studierende setzen sich mit eigenen<br />

Projekten für die Gesellschaft<br />

ein. Das Programm ‹Engagier dich!›<br />

unterstützt sie dabei.<br />

S. 50 — 51<br />

Globale und lokale<br />

Perspektiven<br />

auf die Geschichte<br />

Die 3. <strong>Schweiz</strong>erischen Geschichtstage<br />

widmen sich historischen<br />

Fragestellungen in 16 Themenbereichen.<br />

tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

S. 52 — 59<br />

Kreative Reise<br />

zu den eigenen<br />

Wurzeln<br />

Tamilische Kinder aus der <strong>Schweiz</strong><br />

und aus Sri Lanka erhalten<br />

Einblicke in sehr unterschiedliche<br />

Lebenswelten.<br />

S. 60 — 61<br />

Überzeugende<br />

Argumente<br />

Im Finale von ‹Jugend debattiert›<br />

messen sich die besten<br />

Rhetorikkünstler der <strong>Schweiz</strong>.<br />

tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

S. 62 — 67<br />

In drei Stationen<br />

um die Welt<br />

Bei den Stadtrundgängen ‹konsum-<br />

GLOBAL› hinterfragen Schulklassen<br />

ihr Konsumverhalten.<br />

S. 68 — 71<br />

Angepasst,<br />

widerstandsfähig,<br />

umweltschonend<br />

Im Projekt ‹Green Cotton› entstehen<br />

neue Biobaumwollsorten, die<br />

den Bedürfnissen von indischen<br />

Kleinbauern entsprechen.<br />

engagiert<br />

S. 72<br />

Jeder kann etwas<br />

bewirken<br />

Mirjam Walser zeigt Jugendlichen<br />

im Parcours ‹STEP into action›,<br />

wie sie sich für die Gesellschaft<br />

einsetzen können.<br />

kalender<br />

S. 73<br />

Termine Juni bis Oktober 2013


vorwort<br />

Liebe Leserinnen und Leser<br />

Wo ist unser Platz in der Gesellschaft Da, wo wir herkommen<br />

In unserer Familie, an unserem Wohnort Schon<br />

als Kinder machen wir uns auf die Suche: Wir gehen zur<br />

Schule, um uns auf unsere Zukunft vorzubereiten. Wir engagieren<br />

uns in Vereinen, nutzen Freizeitangebote. Dabei<br />

knüpfen wir weitere Kontakte. Wir lernen, Verantwortung<br />

zu übernehmen und das Zusammenleben mitzugestalten.<br />

Bildung – schulische und ausserschulische – hilft uns, unser<br />

Potenzial zu entfalten und unseren Platz in der Gesellschaft<br />

zu finden. Doch leider haben nicht alle Kinder und<br />

Jugendlichen die gleichen Bildungschancen.<br />

Unsere <strong>Stiftung</strong> setzt sich für mehr Chancengerechtigkeit<br />

ein. Wir fördern die gesellschaftliche Integration<br />

von Kindern und Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen:<br />

Während wir mit ChagALL (S. 24 – 30) und CHANSON<br />

(S. 31) schulergänzende Förderprogramme für sozial benachteiligte<br />

Schüler ermöglichen, hilft das Projekt<br />

LIFT (S. 42 – 45) Jugendlichen mit Schulschwierigkeiten<br />

beim Schritt in die Arbeitswelt. Die Initiative Platz:Box<br />

(S. 40 – 41) macht den öffentlichen Raum als Lernraum zugänglich.<br />

Und die Veranstaltungsreihe ‹ElternWissen –<br />

Schulerfolg› (S. 32 – 33) zeigt Familien, wie sie ihren Alltag<br />

lernförderlich gestalten können. Elternbildung ist auch<br />

im Bildungs-Café (S. 34 – 38) zentral, das zudem eine Hausaufgabenbetreuung<br />

und Frühförderung anbietet. Vom<br />

Forschungsprojekt ‹Pathways to Success› (S. 39) erhoffen<br />

wir uns neue Erkenntnisse, wie Integrationsprozesse<br />

erfolgreich gestaltet werden können.<br />

stiftung mercator schweiz<br />

Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> fördert und<br />

initiiert Projekte in den drei Bereichen<br />

‹Wissenschaft›, ‹Kinder und Jugendliche›<br />

und ‹Mensch und Umwelt›. Das Engagement<br />

der <strong>Stiftung</strong> gilt einer lernbereiten<br />

und weltoffenen Gesellschaft, die verantwortungsvoll<br />

mit der Umwelt umgeht.<br />

Mit ihren Projekten an Hochschulen<br />

möchte sie zur Stärkung des Wissens- und<br />

Forschungsplatzes <strong>Schweiz</strong> beitragen.<br />

Die <strong>Stiftung</strong> unterstützt die Wissenschaft,<br />

Antworten auf gesellschaftlich wichtige<br />

Fragen wie den Schutz der natürlichen<br />

Lebensgrundlagen zu finden. Damit Kinder<br />

und Jugendliche ihre Persönlichkeit<br />

entfalten, Engagement entwickeln und<br />

ihre Chancen nutzen können, setzt<br />

sich die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> für<br />

optimale Bildungsmöglichkeiten innerhalb<br />

und ausserhalb der Schule ein.<br />

www.stiftung-mercator.ch<br />

Nadine Felix<br />

Geschäftsführerin<br />

≥ Mein Platz in der Gesellschaft<br />

≥ S. 8 — 45<br />

1 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Nachrichten<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Blickfelder erklärt die Welt<br />

Wer bin ich Wer ist mein Gegenüber Das<br />

waren nur zwei von vielen Fragen, auf<br />

die das Festival Blickfelder Antworten gab.<br />

In einem fünftägigen Workshop hatten<br />

sich die Schüler der 1. Sek des Schulhauses<br />

Hirschengraben in Zürich mit Gender- und<br />

Identitätsfragen auseinandergesetzt. Das<br />

Ergebnis zeigten sie im Theater Stadelhofen:<br />

‹Switch. Junge, willst du wissen, wie sich<br />

ein Mädchen fühlt› 180 Schulklassen haben<br />

die 30 Mitmach-Angebote des Festivals<br />

genutzt, um mit 150 Kunstschaffenden eigene<br />

Projekte auf die Beine zu stellen. «Kreativ,<br />

überraschend und humorvoll haben Kinder<br />

und Jugendliche die Besucher zum Nachdenken<br />

gebracht», freut sich Festivalorganisator<br />

André Grieder vom Volksschulamt<br />

Zürich über die hohe Qualität der Beiträge.<br />

Das Festival unter dem Motto ‹Blickfelder<br />

erklärt die Welt› war ein grosser Erfolg:<br />

24 583 Menschen haben vom 4. bis 21. April<br />

2013 das Festival der Künste in Zürich<br />

besucht, darunter waren 18 155 Kinder und<br />

Jugendliche und 464 Schulklassen. Neben<br />

den partizipativen Projekten warteten<br />

307 Aufführungen auf die Besucher.<br />

www.blickfelder.ch<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Zwölf Projekte, ein Buch<br />

Wer weiss am besten, wie man Schüler<br />

beim Lernen optimal begleitet Wer<br />

weiss, wie Lehrerteams konstruktiv zusammenarbeiten<br />

können Und wer<br />

kennt das Rezept für eine Schulhauskultur,<br />

die Leistung fordert und fördert<br />

Die <strong>Stiftung</strong> für hochbegabte Kinder<br />

und die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> sind<br />

überzeugt: Es sind die Schulen, die in<br />

den vergangenen Jahren mit dem LISSA-<br />

Preis ausgezeichnet wurden. Deshalb ist<br />

es beiden <strong>Stiftung</strong>en ein Anliegen, die<br />

Projekte zur Begabungs- und Begabtenförderung<br />

dieser Schulen bekannt<br />

zu machen und ihre Erfahrungen zu<br />

verbreiten.<br />

Nach dem Buch ‹Begabungsförderung<br />

leicht gemacht› und dem Film<br />

‹Begabungsförderung konkret gemacht›<br />

ist jetzt das Buch ‹Begabungsförderung<br />

integriert› erschienen. «Die Publikation<br />

gibt den Lesern Anregungen für die<br />

Umsetzung von ressourcenorientiertem<br />

und personalisiertem Unterricht»,<br />

erklärt Regula Haag, Projektleiterin<br />

des LISSA-Preises. Welchen Stellenwert<br />

der begabungsfördernde Unterricht<br />

in einer integrativen Schule hat, erklärt<br />

Peter Lienhard, Dozent an der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik,<br />

in einem einleitenden Text.<br />

Schliesslich werden die zwölf Projekte<br />

der LISSA-Preisträger 2010 und<br />

2012 vorgestellt, die jeweils auf unterschiedliche<br />

Weise guten, binnendifferenzierten<br />

Unterricht ermöglichen,<br />

wie er für eine integrative Schule<br />

notwendig ist. Die Beiträge geben<br />

Einblicke in die Konzepte der Projekte.<br />

Sie stellen die Rahmenbedingungen,<br />

die Entstehungsgeschichte<br />

und die konkrete Umsetzung vor<br />

Ort vor.<br />

Bestellung<br />

Interessierte können das LISSA-Buch<br />

(ISBN 978-3-033-03894-3, hep-Verlag)<br />

elektronisch bestellen: info@lissa-preis.ch.<br />

Personen, die im Schulbereich tätig sind,<br />

erhalten ein Buch unentgeltlich. Zudem<br />

wird das Buch allgemein zum Buchhandelspreis<br />

von 20 Franken je Exemplar verkauft.<br />

Bei der Bestellung wird um einen<br />

entsprechenden Vermerk gebeten.<br />

www.lissa-preis.ch<br />

2 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Nachrichten<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Positive Bilanz nach fünf<br />

Projektjahren<br />

Nicht jede Schule soll das Rad neu erfinden müssen. Diese Überlegung<br />

stand am Anfang des Projekts ‹Schulen lernen von<br />

Schulen› der Pädagogischen Hochschule Zürich. Nach fünf Jahren<br />

ist das Projekt nun abgeschlossen: 22 Schulen wurden in dieser<br />

Zeit für ihre Schulentwicklungsprojekte ausgezeichnet. Sie alle<br />

erhielten ein Preisgeld in Höhe von je 10 000 bis 40 000 Franken<br />

für die Weiterentwicklung ihrer Projekte. Einige der Schulen<br />

erregten durch die Auszeichnung so viel Aufmerksamkeit, dass<br />

sich um sie herum thematische Netzwerke bildeten. Aufgrund<br />

dieser Erfahrungen entstand im Rahmen von ‹Schulen lernen von<br />

Schulen› das Teilprojekt der Teilnahmeschulen: Schulen profitieren<br />

von den Erfahrungen einer Preisträgerschule und werden<br />

von sls bei der Umsetzung ihres Projekts finanziell unterstützt.<br />

So sind beispielsweise die für ihr Projekt zum altersdurchmischten<br />

Lernen (AdL) ausgezeichneten Schulen Brühlberg und Dättlikon<br />

in einem Netzwerk tätig und unterstützen viele andere Schulen bei<br />

der Einführung von individualisierten Lernformen.<br />

Projektleiterin Dr. Enikö Zala-Mezö zieht eine positive Bilanz:<br />

«Der Preis hat die Eigenständigkeit der Schulen gestärkt. Zudem<br />

engagieren sich einige Schulen in zwischenschulischen Kooperationen,<br />

was in der Schulentwicklung als zukunftsweisend gilt.» Damit<br />

diese Form von Schulentwicklung weiterhin möglich ist, wurde<br />

im Dezember 2012 die privat geführte <strong>Stiftung</strong> ‹Schulen lernen von<br />

Schulen› gegründet. Diese möchte innovative Entwicklungen der<br />

Volksschule in Kooperation mit der PH Zürich und weiteren Partnern<br />

fördern, um einen Beitrag zur Qualität der Volksschule zu leisten.<br />

www.projekt-sls.ch<br />

Mensch und Umwelt<br />

Neue Ideen für die<br />

Umweltbildung<br />

Wie müssen Umweltbildungsprojekte<br />

ausgestaltet sein, damit sie nicht<br />

nur für Umweltthemen sensibilisieren,<br />

sondern auch dazu motivieren, für die<br />

Umwelt aktiv zu werden Nicht nur<br />

für die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> ist<br />

das eine wichtige Frage. Deshalb hat<br />

sie zusammen mit dem WWF <strong>Schweiz</strong><br />

am 14. Dezember 2012 die Tagung<br />

‹Umweltbildung – was wirkt› organisiert.<br />

40 Vertreter unterschiedlicher<br />

Organisationen und Institutionen, die<br />

sich intensiv mit dem Thema Umweltbildung<br />

beschäftigen, tauschten sich<br />

über ihre Erfahrungen in diesem Bereich<br />

aus. Grundlage der Tagung bildete<br />

eine aktuelle Studie des WWF <strong>Schweiz</strong><br />

zu Erfolgsfaktoren in der Umweltbildung.<br />

Ziel der Veranstaltung war es<br />

nicht nur, aktuelles Wissen zur Wirkung<br />

von Umweltbildung darzulegen und<br />

zusammenzutragen. Es ging darum,<br />

zusammen mit den Teilnehmern neue<br />

Erkenntnisse zu entwickeln, nächste<br />

Schritte zu formulieren und im Idealfall<br />

auch anzustossen. Mit einem Projektfonds<br />

unterstützt die <strong>Stiftung</strong> deshalb<br />

Projekte, die sich aus der Tagung<br />

ergeben haben.<br />

Dokumentation<br />

Eine Dokumentation fasst die Tagung<br />

zusammen: www.stiftung-mercator.ch/<br />

stiftung/publikationen<br />

Kinder und jugendliche<br />

Mit Saltos zum sieg<br />

Sie springen mit Saltos über Hindernisse,<br />

schlagen Räder und machen Flick<br />

Flaks: Das Trio Runners-CH aus Horgen<br />

überzeugte am 13. April 2013 die Jury<br />

beim Finale des Zürcher Jugendprojektwettbewerbs<br />

Projekter nicht nur mit<br />

ihren Künsten – sondern vor allem mit<br />

ihrem Engagement: Simone Fröhlich,<br />

Samuel Brunner und Lukas Peter bieten<br />

Workshops und Trainings an, um ihren<br />

Sport ‹Parkour und Freerunning› bekannter<br />

zu machen. Dafür erhielten sie<br />

den ersten Preis in der Kategorie 1<br />

(Jugendliche bis 18 Jahre). In der Kategorie<br />

2 (bis 25 Jahre) wurde das<br />

Kulturmagazin Quottom ausgezeichnet.<br />

Das Projekt ‹Bist du, was du isst›<br />

gewann in der Kategorie 3 (Projekte<br />

unter Anleitung einer Fachperson).<br />

www.projekter.ch<br />

3


Nachrichten<br />

Mensch und Umwelt<br />

Auszeichnung für vier Umweltschulen<br />

Die ersten vier Volksschulen aus dem<br />

Kanton Zürich haben im Rahmen des<br />

Projekts ‹Umweltschulen – Lernen und<br />

Handeln› einen dreijährigen Entwicklungsprozess<br />

hin zur Umweltschule<br />

gestartet. Schulleitungen und Lehrpersonen<br />

haben ihre Schulen in punkto<br />

Umwelt unter die Lupe genommen und<br />

eigene Massnahmenpläne entwickelt.<br />

Erste Projekte wachsen bereits:<br />

So startete die Schule Milchbuck im<br />

Frühling mit einem Gartenclub. Die<br />

benachbarte Schule Riedtli packt im<br />

Sommer mit zwei Pilotklassen die<br />

Pflege des Bergwaldes in Klosters an.<br />

Mit Plakaten und regelmässigen Projektmorgen<br />

widmet sich die Schule In<br />

der Ey den Themen Papierverbrauch und<br />

Littering. Und die Schule Sternenberg<br />

plant unter Einbezug der örtlichen<br />

Gemeinde ein mehrwöchiges Projekt<br />

zum Thema Wetter und Klima.<br />

Am 15. Mai 2013 wurden die vier<br />

Schulen für ihr Engagement als Umweltschulen<br />

ausgezeichnet. Regierungsrätin<br />

Regine Aeppli überreichte ihnen im<br />

Botanischen Garten der Universität<br />

Zürich die Anerkennungsurkunden. «Der<br />

Wille zur Weiterentwicklung und das<br />

grosse Engagement dieser Schulen soll<br />

anerkannt und weit über das unmittelbare<br />

Umfeld hinausgetragen werden»,<br />

betont Projektleiterin Beatrix Winistörfer<br />

von der <strong>Stiftung</strong> éducation21. Um<br />

Schulen zu unterstützen, die Umweltbildung<br />

und Ökologie langfristig in ihren<br />

Alltag integrieren möchten, haben die<br />

<strong>Stiftung</strong> éducation21 und die <strong>Stiftung</strong><br />

<strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> das Projekt mit<br />

Unterstützung der Bildungsdirektion des<br />

Kantons Zürich initiiert. Bis 2014 soll<br />

ein grosses Netzwerk an Umweltschulen<br />

entstehen, in dem sich die beteiligten<br />

Schulteams austauschen können. Eine<br />

Beratungsstelle begleitet die Schulen<br />

und bietet viele Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

an. Zwei interessante Inputs<br />

zum Thema ‹Biodiversität konkret<br />

für die Schule› erhielten die Teilnehmer<br />

bereits bei der Auszeichnungsfeier.<br />

www.umweltschulen.ch<br />

wissenschaft<br />

Besuch bei der<br />

Afrikanischen Union<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Den Ort haben die Stipendiaten gewählt,<br />

auch das Programm konnten sie<br />

selbst auf die Beine stellen: Das Zwischentreffen<br />

des vierten Jahrgangs<br />

des <strong>Mercator</strong> Kollegs für internationale<br />

Aufgaben fand vom 14. bis 25. Mai<br />

2013 in Äthiopien statt. Zu diesem Zeitpunkt<br />

waren bereits neun Monate des<br />

Stipendienprogramms vergangen,<br />

in denen die 24 Hochschulabsolventen<br />

aus Deutschland und der <strong>Schweiz</strong><br />

vielfältige internationale Arbeitserfahrungen<br />

gesammelt haben. Die Organisation<br />

des Zwischentreffens 2013<br />

haben die Stipendiaten Leana Podeszfa<br />

und Hannah Dönges aus Deutschland<br />

zusammen mit Gabriela Blatter aus der<br />

<strong>Schweiz</strong> übernommen.<br />

Das Zwischentreffen ist fester<br />

Bestandteil des 13-monatigen Programms.<br />

In diesem Rahmen erhalten die<br />

Stipendiaten die Gelegenheit, sich<br />

abseits ihrer eigenen Projekte intensiv<br />

mit einem Land ihrer Wahl auseinanderzusetzen.<br />

In Äthiopien – Sitz der Afrikanischen<br />

Union – nutzte die Gruppe<br />

die Gelegenheit, persönliche Einblicke<br />

in diese internationale Organisation<br />

zu erhalten und internationale Akteure<br />

zu treffen. Im September 2013 startet<br />

der fünfte Jahrgang des <strong>Mercator</strong> Kollegs<br />

mit den vier <strong>Schweiz</strong>er Stipendiaten<br />

Nicola Forster und Emina Hadziabdic<br />

aus Zürich, Antonia Sutter aus Appenzell<br />

und Corinna Zuckerman aus Basel.<br />

www.mercator-kolleg.ch<br />

Lehrer werden zu Lernenden<br />

Auch nach dem Anmeldeschluss<br />

fragten täglich interessierte Lehrer die<br />

Organisatoren, ob sie nicht noch<br />

am SWiSE-Innovationstag teilnehmen<br />

könnten. «Leider konnten wir nicht<br />

mehr alle aufnehmen», erzählt Claudia<br />

Stübi, Projektleiterin der Initiative<br />

SWiSE (Swiss Science Education). 392<br />

Teilnehmer liessen sich am 9. März<br />

2013 in der Pädagogischen Hochschule<br />

St. Gallen und im OLMA-Kongresszentrum<br />

inspirieren, wie sie forschendes<br />

Lernen in ihrem naturwissenschaftlich-technischen<br />

Unterricht umsetzen<br />

können. Zwei Referate, elf Kurzvorträge,<br />

21 stufenspezifische Ateliers und ein<br />

Lehrmittel- und Ideenmarkt warteten<br />

auf die Lehrer. «Die grosse Neugier<br />

und das Engagement der Lehrpersonen<br />

waren deutlich spürbar», freut sich<br />

Claudia Stübi. Die Veranstaltung<br />

vermittelte nicht nur konkrete Unterrichtsideen,<br />

sie ermöglichte einen<br />

Erfahrungsaustausch unter Berufskollegen.<br />

Der nächste Innovationstag<br />

findet am 29. März 2014 an der Pädagogischen<br />

Hochschule Zürich statt.<br />

www.swise.ch<br />

4 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Nachrichten<br />

mensch und umwelt<br />

Kinder und jugendliche<br />

viele ideen für den<br />

Unterricht<br />

Genuss, Geschäft<br />

und Globalisierung<br />

Wir entscheiden täglich aufs Neue, was auf den Teller kommt.<br />

Manchmal spontan, manchmal nach reiflicher Überlegung.<br />

Woher stammen die Nahrungsmittel Wie wurden sie produziert<br />

Unsere Kaufentscheide haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit.<br />

Sie beeinflussen aber auch die Umwelt und das Leben<br />

anderer Menschen – in der <strong>Schweiz</strong>, in Afrika oder an anderen<br />

Orten der Welt. Das Naturama Aargau in Aarau ist die erste<br />

Station der Wanderausstellung ‹Wir essen die Welt› der Entwicklungsorganisation<br />

Helvetas. Am 3. Mai 2013 feierte die Ausstellung<br />

Vernissage und nahm zum ersten Mal die Besucher mit<br />

auf eine kulinarische Weltreise durch acht Länder.<br />

«Uns war es wichtig, die Ausstellung interaktiv zu gestalten»,<br />

sagt Projektleiterin Beatrice Burgherr. So können die Ausstellungsbesucher<br />

spielerisch soziale und ökologische Fragen rund<br />

um Essen, Nahrungsmittelproduktion und Handel, Genuss<br />

und Geschäft, Hunger und Überfluss erkunden. Auf ihrer Reise<br />

treffen sie Menschen, die ihnen erzählen, wie sie sich ernähren oder<br />

wie unsere Nahrung produziert und gehandelt wird. Eine Kakaobäuerin<br />

aus Honduras. Ein junger Sojazüchter aus Brasilien. Eine<br />

Marktfahrerin aus Burkina Faso. Eine kämpferische Agronomin<br />

aus Indien. Ein Börsenhändler aus den USA, der mit Mais handelt.<br />

Zugleich zeigt die Ausstellung den Besuchern Lösungsansätze<br />

und motiviert sie, einen persönlichen Beitrag zum nachhaltigen<br />

Konsum zu leisten. Was sie künftig für mehr Nachhaltigkeit<br />

tun möchten, können die Besucher in Videobotschaften festhalten.<br />

Für Schulen gibt es spezielle Führungen und Materialien für<br />

die Aufbereitung des Themas im Unterricht. Ein Begleitprogramm<br />

vertieft die Themen der Ausstellung. Nach der Station in Aarau<br />

(Ende: 9. Februar 2014) wird die Ausstellung unter anderem in<br />

Bern, Zürich und Vaduz zu sehen sein.<br />

www.wir-essen-die-welt.ch<br />

In einem Projekt, an dem viele Partner<br />

beteiligt sind, ist ein regelmässiger<br />

Austausch wichtig. Auch im Konsortium<br />

‹Personalisiertes Lernen in<br />

heterogenen Lerngemeinschaften› der<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> spielen<br />

Wissenstransfer und Vernetzung eine<br />

entscheidende Rolle: Über 50 Schulen<br />

setzen in diesem Rahmen zusammen<br />

mit Hochschulen, Lehrmittelverlagen<br />

und Software-Spezialisten zehn<br />

Teilprojekte um, um das personalisierte<br />

Lernen weiterzuentwickeln. Am 12.<br />

Januar 2013 kamen 130 am Projekt<br />

beteiligte Personen – die meisten von<br />

ihnen Lehrpersonen und Schulleiter –<br />

im Zürcher Gymnasium Unterstrass zu<br />

einer Koordinationstagung zusammen.<br />

In 15 Workshops informierten sie<br />

sich über den Verlauf der Projekte und<br />

holten sich Anregungen für den<br />

eigenen Berufsalltag.<br />

«Ist die Hattie-Studie ein Killerargument<br />

gegen offene Lernformen»<br />

Diese Frage verneinten Professor<br />

Wolfgang Beywl (Pädagogische Hochschule<br />

Nordwestschweiz), Professor<br />

Kurt Reusser (Universität Zürich),<br />

Professor Dieter Rüttimann (Gesamtschule<br />

Unterstrass Zürich) und Professor<br />

Michael Schratz (Universität Innsbruck)<br />

in der Podiumsdiskussion zum<br />

Abschluss der Tagung: Die Experten<br />

sehen die aktuell vieldiskutierte Studie<br />

vielmehr als Aufforderung zu einer<br />

Unterrichtsentwicklung, die die Bedürfnisse<br />

der Lernenden ins Zentrum stellt.<br />

www.lernkonzepte.ch<br />

5


Nachrichten<br />

mensch und umwelt<br />

Engel und Herold<br />

verteilen Komplimente<br />

Suffizienz bezeichnet einen Lebensund<br />

Konsumstil, der die Bedürfnisse<br />

von heute sichern soll, ohne die<br />

Bedürfnisse zukünftiger Generationen<br />

zu gefährden. «Hinter diesem Begriff<br />

verbergen sich Fragen nach dem<br />

richtigen Mass», erklärt Petra Hirsig,<br />

Geschäftsführerin des Vereins sun21.<br />

«Vielen Menschen ist der Begriff<br />

Suffizienz nicht geläufig.» Um dieses<br />

Thema einem breiten Publikum näher<br />

zu bringen, nahm der Verein vom<br />

28. Februar bis 2. März 2013 mit drei<br />

Anlässen an der NATUR Messe<br />

Basel teil: Tägliche, gut besuchte Talkrunden<br />

mit Gästen aus verschiedenen<br />

Fachbereichen beleuchteten das Thema<br />

‹Lebensmittel: Nahrung oder Abfall›.<br />

Ziel war es, den Zuhörern Ideen und<br />

mögliche Handlungsweisen für den<br />

Alltag mit auf den Weg zu geben und<br />

ihnen zu zeigen, wie sie selbst Lebensmittelabfälle<br />

vermeiden können.<br />

Neben den ‹Suffizienz-Talks› und einer<br />

Schreibwerkstatt war eine Suffizienz-Performance<br />

ein zentraler Messebeitrag<br />

von sun21: Zwei Schauspieler<br />

– Engel und Herold – mischten sich<br />

unter die Messebesucher und verteilten<br />

Komplimente. Denn einige Menschen<br />

leben schon heute die Idee der Suffizienz.<br />

Ihnen wollte sun21 einfach einmal<br />

«Danke» sagen und sie darauf hinweisen,<br />

dass genau das, was sie tun,<br />

Suffizienz bedeutet. «Die angesprochenen<br />

Personen waren meistens<br />

sehr überrascht, dass ihr Verhalten<br />

eine positive Rückmeldung wert ist»,<br />

erzählt Petra Hirsig. In Zukunft<br />

möchte sich der Verein verstärkt dem<br />

Thema Suffizienz widmen.<br />

www.sun21.ch<br />

Aktiv für die Umwelt<br />

≥ In ihrer Freizeit fahren die<br />

<strong>Schweiz</strong>er jeden Tag 990 Mal<br />

mit dem Auto um die Welt.<br />

Dabei verbrauchen sie 2,5 Millionen<br />

Liter Treibstoff und<br />

produzieren 6100 Tonnen CO2.<br />

Die <strong>Schweiz</strong>er Klimaschutzorganisation myblueplanet<br />

nimmt die Mobilität in der <strong>Schweiz</strong><br />

unter die Lupe: Die aktuelle Erhebung ‹Mikrozensus<br />

Verkehr und Mobilität› zeigt, dass<br />

der Freizeitverkehr mit 40 Prozent aller Fahrten<br />

einen sehr grossen Teil des Verkehrs ausmacht.<br />

Und dabei ist das Auto meistens die erste<br />

Wahl. Der Strassenverkehr verursacht in der<br />

<strong>Schweiz</strong> 31 Prozent der klimaschädlichen<br />

CO2-Emissionen. Dieser Anteil hat mit dem<br />

wachsenden Verkehrsaufkommen trotz sparsamerer<br />

Fahrzeuge und besserer Treibstoffe<br />

nicht abgenommen. Das grösste Potenzial zur<br />

CO2-Reduktion im Verkehr liegt in der Nutzung<br />

von Alternativen zum Auto, appelliert die<br />

Klimaschutzorganisation. Vor allem, wenn man<br />

bedenkt, dass die Hälfte aller Autofahrten<br />

unter einer Distanz von fünf Kilometern liegt.<br />

KLIMATIPP VON MYBLUEPLANET<br />

Jedes Kilo zählt! Jeder kann in seinem Alltag<br />

CO2 einsparen und damit einen Beitrag<br />

zum Klimaschutz leisten:<br />

— Legen Sie Kurzstrecken zu Fuss oder mit<br />

dem Fahrrad zurück. Das fördert die<br />

Fitness und schützt das Klima.<br />

— Profitieren Sie vom öffentlichen Verkehr.<br />

Das Angebot und die Pünktlichkeit von<br />

Zug, Postauto und Schiff in der <strong>Schweiz</strong><br />

sind legendär.<br />

— Oft liegt das Gute so nahe: Wer das lokale<br />

Freizeitangebot nutzt, spart eine Anreise<br />

im Auto.<br />

— Wenn es unbedingt ein Auto braucht:<br />

Bilden Sie Fahrgemeinschaften und<br />

nutzen Sie Car-Sharing-Angebote.<br />

Entsprechende Netzwerke wie Mobility<br />

gibt es an vielen Orten in der <strong>Schweiz</strong>.<br />

www.myblueplanet.ch<br />

6 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


frage an die Wissenschaft<br />

Klimaschutz:<br />

Was schulden wir<br />

künftigen<br />

Generationen<br />

Dr. Fabian Schuppert<br />

Philosoph<br />

Der vom Menschen herbeigeführte Klimawandel<br />

ist ein globales Problem. Der Klimawandel verursacht<br />

bereits heute Ernteausfälle, Überschwemmungen<br />

und vielerlei vermeidbares Leid. Die<br />

schlimmsten Folgen des Klimawandels liegen jedoch<br />

in der Zukunft. Viele Auswirkungen können noch<br />

beeinflusst oder im besten Fall sogar verhindert werden.<br />

Das bedeutet: Unsere heutigen Entscheidungen<br />

haben massive Auswirkungen auf das Leben zukünftiger<br />

Generationen. Aus philosophischer Sicht<br />

ist der Klimaschutz damit nicht nur ein Problem<br />

der Gerechtigkeit im Hier und Jetzt, sondern ein<br />

Problem der Gerechtigkeit zwischen Generationen.<br />

Achtung der Grundrechte<br />

Die Idee, dass die heute Lebenden gewisse Pflichten<br />

gegenüber ihren Kindern und Kindeskindern<br />

haben, erscheint den meisten Menschen einleuchtend.<br />

Doch wie sieht es mit unseren Pflichten<br />

gegenüber zukünftigen Generationen aus Haben<br />

wir gegenüber Menschen, von denen wir nicht<br />

wissen, wer diese sind, wie sie heissen und wo sie<br />

wohnen, Gerechtigkeitspflichten Die meisten<br />

Philosophen geben auf diese Frage eine klare Antwort:<br />

Ja. Auch wenn wir die zukünftigen Generationen<br />

nicht kennen, sollten wir ihre Grundrechte<br />

achten, ihre Bedürfnisse und Grundinteressen<br />

respektieren und ihnen kein vermeidbares Leid<br />

verursachen.<br />

Was schulden wir also künftigen Generationen<br />

Eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung dieser<br />

Frage kommt der ökologischen Nachhaltigkeit, beziehungsweise<br />

der Verteilung und Verwaltung<br />

natürlicher Ressourcen zu. Denn letzten Endes können<br />

Menschen – heute und in der Zukunft – ihre<br />

Rechte nur wahrnehmen, wenn sie Zugang zu<br />

Frischwasser und Nahrung haben. Die natürlichen<br />

Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen,<br />

sind die Produkte komplexer ökologischer Prozesse,<br />

weshalb man diese auch als ‹ökosystemische Dienstleistungen›<br />

bezeichnet. Diese schliessen nicht nur<br />

die Produktion von Nahrung ein, sondern auch den<br />

Kreislauf von Nährstoffen, die natürliche Abfallbeseitigung<br />

und die Filtration von Niederschlagswasser.<br />

Ein Ansatzpunkt für generationenübergreifende<br />

Gerechtigkeitstheorien ist es, die Erhaltung<br />

elementarer ökosystemischer Dienstleistungen<br />

zu fordern, um die Grundrechte auf Wasser und<br />

Nahrung zu sichern. Für viele Gerechtigkeitstheorien<br />

geht eine solche Forderung jedoch nicht<br />

weit genug: Schulden wir künftigen Generationen<br />

nicht sogar, dass sie die gleichen Lebensbedingungen<br />

erhalten wie wir oder wenigstens einen (relativ)<br />

gesunden Planeten<br />

Hinterfragung täglicher Handlungen<br />

Wenn es um Nachhaltigkeit geht, müssen wir viele<br />

unserer täglichen Entscheidungen und unter<br />

Umständen unser ganzes wirtschaftliches System<br />

hinterfragen: Tue ich zukünftigen Generationen<br />

unrecht, wenn ich mit dem Flugzeug fliege oder<br />

meine Wohnung auf 21 Grad heize Ist es moralisch<br />

vertretbar, begrenzte natürliche Ressourcen für<br />

die Produktion von Konsumgütern aufzubrauchen<br />

Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es problematisch,<br />

dass Handlungen, die im Einzelfall harmlos<br />

erscheinen – wie der Flug in den Urlaub oder das<br />

Essen von Fleisch – häufig stark klimaschädliche<br />

und ressourcenvernichtende Konsequenzen haben,<br />

wenn sie zur Gewohnheit werden. Die Klimaethik<br />

kann damit nicht die moralische Vertretbarkeit<br />

isolierter Handlungen bewerten, sondern muss die<br />

Konsequenzen sozialer Praktiken analysieren.<br />

Die meisten Menschen in Ländern wie der <strong>Schweiz</strong>,<br />

in Deutschland oder den USA leben derart ressourcenverbrauchend,<br />

dass wir diese Lebensstile als<br />

unnachhaltig bezeichnen müssen. Aus Sicht der<br />

generationenübergreifenden Gerechtigkeit scheint<br />

es geboten, dass jeder versucht, seinen Ressourcenverbrauch<br />

zu verringern und sich für eine ökologisch<br />

nachhaltigere Politik und ressourcenschonendere<br />

Wirtschaft einzusetzen.<br />

Dr. Fabian Schuppert beschäftigt sich im Rahmen des<br />

Graduiertenprogramms ‹Gerechtigkeit in praktischen<br />

Kontexten› der Universität Zürich mit Fragen ökologischer<br />

Nachhaltigkeit und generationenübergreifender Gerechtigkeit.<br />

Ziel seiner Postdoc-Arbeit mit dem Titel ‹Scarcity<br />

of Natural Resources and Intergenerational Justice:<br />

De-Territorializing and Re-Territorializing Sovereignty› ist<br />

es, eine Theorie von Ressourcenrechten zu entwickeln,<br />

die ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaften sicherstellt.<br />

fabian.schuppert@ethik.uzh.ch<br />

7


Gesells<br />

schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

S. 20 — 23<br />

brücken in die Welt<br />

der Erwachsenen<br />

S. 24 — 30<br />

Das Ziel stets<br />

vor Augen<br />

S. 31<br />

chancen für die<br />

Zukunft<br />

S. 32 — 33<br />

Die Familie als<br />

Lernort<br />

S. 34 — 38<br />

Ein Zentrum für<br />

die Bildung<br />

S. 39<br />

Wege zum Erfolg<br />

S. 40 — 41<br />

Lebensraum,<br />

Freiraum, Lernraum<br />

S. 42 — 45<br />

Ein wichtiger<br />

Schritt in<br />

die Arbeitswelt<br />

Mein<br />

in<br />

Fünf Wege der Förderung<br />

Wie kann man die gesellschaftliche Integration<br />

von Kindern und Jugendlichen fördern Fünf<br />

Personen erzählen, wie sie junge Menschen auf<br />

dem Weg in die Gesellschaft unterstützen.<br />

Sie engagieren sich in fünf unterschiedlichen<br />

Bereichen für die Integration von Kindern und<br />

Jugendlichen. S. 10 — 19<br />

8 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Platz<br />

der<br />

chaft<br />

Integriert zu sein, bedeutet an der Gesellschaft teilzuhaben.<br />

In der Schule. Auf dem Arbeitsmarkt. In der<br />

Freizeit. Es bedeutet, sich einbringen zu können und<br />

das gesellschaftliche Leben mitzugestalten. Wenn<br />

die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> sich für die gesellschaftliche<br />

Integration von Kindern und Jugendlichen einsetzt,<br />

hat sie dieses Ziel vor Augen. Junge Menschen<br />

sollen unabhängig ihrer sozialen und kulturellen<br />

Herkunft ihr Potenzial und ihre Persönlichkeit entfalten<br />

können, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.


«Ich sehe jedes Jahr, wie schwer es meine<br />

Schüler im Bewerbungsprozess haben.<br />

Jugendlichen mit schulischen Schwierigkeiten<br />

sollte man frühzeitig die nötigen Mittel<br />

an die Hand geben, mit denen sie in der<br />

Berufswelt Fuss fassen können. Dazu zählen<br />

vor allem praktische Arbeitserfahrungen,<br />

wie wir sie im Projekt LIFT ermöglichen: Die<br />

Jugendlichen können zeigen, was sie können.<br />

Sie erfahren, dass ihre Arbeit wertvoll<br />

ist. Das stärkt ihr Selbstvertrauen, ihre<br />

Persönlichkeit. Um ihre gesellschaftliche Integration<br />

zu fördern, sollte man Jugendliche<br />

abholen, wo sie stehen – auch wenn der Weg<br />

steinig werden mag. Es ist wichtig, sie eng<br />

zu begleiten, ihnen zuzuhören, sie zu<br />

motivieren und ihnen ihre Möglichkeiten<br />

aufzuzeigen.»<br />

LIFT<br />

David Lorenz ist im Schulhaus Grentschel in<br />

Lyss (BE) Lehrer einer Förderklasse und<br />

dort mitverantwortlich für das Projekt LIFT. Im<br />

Zentrum von LIFT stehen wöchentliche Arbeitseinsätze<br />

in Betrieben der Region, die die<br />

teilnehmenden Jugendlichen in ihrer Freizeit<br />

absolvieren. Schulungen in Selbst- und<br />

Sozialkompetenzen und eine enge Begleitung<br />

im Berufswahlprozess sind weitere zentrale<br />

Inhalte des Programms, dessen Verbreitung die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> in den Jahren<br />

2010 bis 2014 mit 380 000 Franken fördert.<br />

www.jugendprojekt-lift.ch


Begleitung<br />

in die<br />

Berufswelt


Niederschwellige<br />

Angebote


«In einem Orchester ist man Teil einer heterogenen<br />

Gruppe, wie in der Gesellschaft:<br />

Bei BaBeL Strings musizieren Kinder unterschiedlicher<br />

Kulturen und Altersgruppen<br />

zusammen. Sie erfahren gemeinsam Freude<br />

und üben wichtige Kompetenzen wie Disziplin,<br />

Respekt und Rücksichtnahme. Die<br />

Musik ist ein ausgezeichnetes Mittel der Integration.<br />

Sie spricht die Sinne an und verbindet.<br />

Doch nicht alle Familien können sich<br />

eine Musikschule leisten. Deshalb sind niederschwellige<br />

Angebote wichtig: In unserem<br />

Fall heisst dies, dass wir zu den Kindern<br />

gehen. Unser Unterricht findet im Schulhaus<br />

statt, gleich im Anschluss an den regulären<br />

Unterricht. So können wir auch Kinder<br />

erreichen, deren Eltern keine Möglichkeit<br />

haben, sie zum Musikunterricht zu begleiten.»<br />

BaBeL Strings<br />

Nicole Bucher ist Musiklehrerin im Projekt<br />

BaBeL Strings. Mit diesem Angebot<br />

möchte der Verein für Quartierentwicklung<br />

‹BaBeL› Kindern im multikulturellen Luzerner<br />

Quartier Basel-/Bernstrasse die Welt der<br />

klassischen Musik eröffnen. Das regelmässige<br />

und aktive Zusammenspiel steht im Zentrum<br />

des Projekts. BaBeL Strings leistet einen<br />

Beitrag zur Integration und Kulturvermittlung<br />

und schafft Raum für eine sinnvolle<br />

Freizeitbeschäftigung. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> hat den Aufbau von BaBeL Strings<br />

mit 10 000 Franken unterstützt.<br />

www.babelquartier.ch


«Eltern, die neu in der <strong>Schweiz</strong> sind, haben<br />

viele Fragen: Welche Spielgruppen gibt<br />

es Wie funktioniert das Bildungssystem<br />

Wie können sie ihre Kinder fördern Man kann<br />

Familien bei der Integration unterstützen,<br />

indem man auf ihre Fragen eingeht und sie in<br />

der Förderung ihrer Kinder begleitet. Bei<br />

meinen Hausbesuchen im Rahmen des Projekts<br />

schritt:weise spreche ich mit den Eltern<br />

über wichtige Entwicklungsschritte ihres<br />

Kindes – und vor allem zeige ich ihnen, wie sie<br />

es spielerisch fördern können. Den Kindern<br />

macht es Spass. Und die Eltern sind dankbar<br />

für die Unterstützung. Sie möchten alle, dass<br />

ihre Kinder eine gute Zukunft haben.»<br />

schritt:weise<br />

Ayse Yüser engagiert sich als Hausbesucherin<br />

für das Projekt schritt:weise. Das Spielund<br />

Lernprogramm des Vereins a:primo fördert<br />

Kinder im Vorschulalter in ihrem vertrauten<br />

Umfeld zuhause. Das Programm dauert eineinhalb<br />

Jahre und richtet sich an sozial benachteiligte<br />

Familien. Regelmässige Gruppentreffen<br />

vermitteln den Eltern Kompetenzen zur Förderung<br />

ihrer Kinder und ermöglichen es ihnen,<br />

sich mit anderen Familien auszutauschen. Das<br />

Programm wird bereits an 20 Standorten in<br />

der Deutschschweiz erfolgreich durchgeführt,<br />

jetzt werden neue Umsetzungsmodelle entwickelt,<br />

an Pilotstandorten erprobt und evaluiert.<br />

Dafür stellt die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

250 000 Franken zur Verfügung.<br />

www.a-primo.ch


Unterstützung<br />

der Eltern


Öffnung von<br />

Verbänden<br />

und Vereinen


«In Verbänden können Kinder und Jugendliche<br />

entdecken, was es heisst, eine Herausforderung<br />

gemeinsam anzugehen. Sie knüpfen<br />

Kontakte und erhalten die Möglichkeit, sich<br />

zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen.<br />

Doch bisher profitieren in der <strong>Schweiz</strong><br />

nur wenige Kinder mit Migrationshintergrund<br />

von dieser Form der informellen Bildung.<br />

Ihre Mitgliederzahl spiegelt nicht die Vielfalt<br />

unserer Gesellschaft wider. Die Pfadibewegung<br />

möchte das ändern und sich mit anderen<br />

Organisationen vernetzen, um soziale und<br />

kulturelle Öffnungsprozesse voranzutreiben.<br />

Mit unseren internationalen Austauschaktivitäten<br />

fördern wir das Verständnis von<br />

Jugendlichen für andere Kulturen und entwickeln<br />

Ideen für die Integration von Kindern<br />

mit Migrationshintergrund in die Pfadi.»<br />

Unity in Diversity<br />

Sandro Toldo ist Pfadileiter in Zürich-<br />

Schwamendingen. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> und die Pfadibewegung <strong>Schweiz</strong><br />

verbindet ein gemeinsames Projekt: Im<br />

Rahmen von ‹Unity in Diversity› organisiert<br />

die Pfadibewegung <strong>Schweiz</strong> zusammen<br />

mit ihren Partnerverbänden in Serbien und<br />

Georgien internationale Sommerlager<br />

und Ausbildungskurse für Pfadileiter, um<br />

sie auf die Arbeit mit kulturell vielfältigen<br />

Gruppen vorzubereiten. Die <strong>Stiftung</strong><br />

<strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> unterstützt das Projekt<br />

mit 700 000 Franken.<br />

www.pbs.ch


«Entscheidend für eine erfolgreiche Integration<br />

ist eine gute Bildung. Unsere Schulen<br />

vermitteln nicht nur Fachwissen, sondern<br />

auch kulturelle Zusammenhänge und ein<br />

kritisches Denken. Dies kann jungen Migranten<br />

helfen, einen Weg zwischen den zwei<br />

Welten zu finden, in denen sie leben. Studien<br />

zeigen, dass eine erfolgreiche Schulbildung<br />

von den Deutschkenntnissen und von der<br />

Unterstützung durch die Eltern abhängt. Jungen<br />

Migranten aus bildungsfernen Familien<br />

fehlt oft beides. Selbst wenn sie begabt<br />

und motiviert sind, bleibt ihnen die höhere<br />

Bildung oft verschlossen. Mit einer gezielten<br />

Förderung, wie wir sie im Programm<br />

ChagALL bieten, kann man ihnen gerechtere<br />

Chancen für die Zukunft eröffnen.»<br />

ChagALL<br />

Dorothea Baumgartner ist eine von sechs<br />

Trainerinnen, die im Rahmen des Förderprogramms<br />

ChagALL (Chancengerechtigkeit<br />

durch Arbeit an der Lernlaufbahn) des Zürcher<br />

Gymnasiums Unterstrass jedes Jahr zwölf<br />

begabte Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

auf die Aufnahmeprüfungen zum Gymnasium<br />

und zu weiteren Mittelschulen vorbereiten.<br />

Zehn Monate dauert das Programm, zwei Mal<br />

in der Woche finden die Trainingseinheiten<br />

statt. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> fördert das<br />

Programm und die begleitende Evaluation mit<br />

128 000 Franken.<br />

www.unterstrass.edu


Schulische<br />

Förderung


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Brücken in die<br />

Welt der<br />

erwachsenen<br />

Text / nadine fieke<br />

Es gibt keine allgemeingültige Definition<br />

von Integration. Je nach Perspektive<br />

verschieben sich Schwerpunkte, Forderungen<br />

und Ziele. Man spricht von der<br />

Integration von Migranten, von Arbeitsmarktintegration,<br />

von der Integration<br />

von Menschen mit Behinderung. Die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> macht sich für<br />

die gesellschaftliche Integration von<br />

Kindern und Jugendlichen stark. So unterschiedlich<br />

die einzelnen Ausgangslagen<br />

sind, all diese Integrationsbereiche haben<br />

etwas gemeinsam: Sie möchten Menschen<br />

helfen, ihr Potenzial zu entfalten<br />

und ihren Platz in der Gesellschaft zu<br />

finden. «Integration bedeutet, die gesellschaftliche<br />

Teilhabe zu sichern», fasst<br />

Professor Gianni D’Amato, Leiter des<br />

Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien<br />

der Universität Neuchâtel,<br />

zusammen. Integration sei ein Prozess.<br />

Und dieser erfordere von den einzelnen<br />

Gesellschaftsmitgliedern den Willen,<br />

sich auf diesen einzulassen. Gleichzeitig<br />

müsse die Gesellschaft ihnen auch die<br />

Möglichkeit dazu geben.<br />

Was bedeuten diese Überlegungen für<br />

die gesellschaftliche Integration von<br />

Kindern und Jugendlichen «Jugendlichen<br />

muss bewusst sein, dass sie<br />

die Gesellschaft einmal übernehmen<br />

werden», erklärt Gianni D‘Amato. «Sie<br />

sollten schon früh lernen, Verantwortung<br />

zu tragen und Gelegenheiten<br />

erhalten, die Gesellschaft mitzugestalten.»<br />

Doch das, so stellt er fest, ist<br />

nicht selbstverständlich: «Die Welten<br />

der Erwachsenen und der Jugendlichen<br />

stehen in einem ambivalenten Verhältnis.»<br />

Die Erwachsenen wissen, dass<br />

sie Jugendliche in die Gestaltung der<br />

Gesellschaft einbeziehen sollten. Aber<br />

sie zögern, ihnen das entsprechende<br />

Vertrauen zu schenken. Sie unterstellen<br />

Jugendlichen, nicht zu verstehen,<br />

worum es geht und halten sie aussen<br />

vor. «Entsprechend wichtig ist es,<br />

Brücken in die Welt der Erwachsenen<br />

zu schlagen», sagt der Sozialwissenschaftler.<br />

Und diese Brücken führen<br />

über die schulische und ausserschulische<br />

Bildung.<br />

20 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Bildung in der<br />

schule<br />

«Seit Einführung der Schulpflicht im<br />

19. Jahrhundert ist die Schule das<br />

zentrale Werkzeug der gesellschaftlichen<br />

Integration junger Menschen», sagt<br />

Gianni D’Amato. Kinder und Jugendliche<br />

unterschiedlicher sozialer und kultureller<br />

Hintergründe lernen zusammen.<br />

Sie werden auf ihre Zukunft in der<br />

Gesellschaft vorbereitet, sie legen mit<br />

ihrer Bildung den Grundstein für ihre<br />

berufliche Laufbahn und persönliche<br />

Lebensgestaltung. Doch es zeigt sich,<br />

dass die Integrationsleistung der Schule<br />

begrenzt ist: «Die Bildungschancen<br />

von Kindern hängen stark von ihrer sozialen<br />

und kulturellen Herkunft ab»,<br />

betont der Wissenschaftler. Er macht auf<br />

ihre sozialen Netzwerke und die Unterstützung<br />

ihres Umfelds (das so genannte<br />

soziale Kapital) aufmerksam, auf die<br />

finanziellen Möglichkeiten (ökonomisches<br />

Kapital) und vor allem auf das<br />

kulturelle Kapital, das die Bildungswege<br />

von Kindern stark beeinflusst: Haben<br />

die Eltern eine höhere Bildung genossen<br />

Stehen zuhause Bücher und Lexika in<br />

den Regalen Werden diese genutzt<br />

Geht man mit der Familie ins Museum<br />

Dies seien einfache Indikatoren, die<br />

zeigen, ob Kinder schon früh in Kreise<br />

eingeführt werden, die versiert mit<br />

Bildung umgehen können – und ob sich<br />

die Kinder deren Werte aneignen. «Die<br />

Schule fragt diese Werte ab», erklärt<br />

Gianni D’Amato. Und Kinder, die diese<br />

Werte in ihrem Umfeld nicht mitbekommen,<br />

haben Nachteile.<br />

«Kinder und Jugendliche mit<br />

Migrationshintergrund sind in Sonderklassen<br />

der Volksschule und in den<br />

leistungsmässig niedrigeren Schultypen<br />

der Sekundarstufe I nach wie vor deutlich<br />

übervertreten», stellt Professor<br />

Andrea Lanfranchi, Leiter des Schwerpunkts<br />

‹Kinder mit besonderem Bildungsbedarf›<br />

an der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik Zürich,<br />

fest. Gleichzeitig seien sie am Gymnasium<br />

und an Hochschulen untervertreten.<br />

Ähnliches könne man bei Kindern<br />

aus sozial benachteiligten <strong>Schweiz</strong>er<br />

Familien beobachten, ergänzt Gianni<br />

D’Amato. Woran liegt das «Man erwartet<br />

weniger von diesen Kindern», beobachtet<br />

der Experte. So werden sie bei der<br />

Selektion in höhere Bildungsgänge<br />

niedrigeren Niveaus zugeordnet.<br />

Dabei brauchen manche Kinder vielleicht<br />

nur ein bisschen mehr Zeit beim<br />

Lernen – weil sie noch Schwierigkeiten<br />

mit der fremden Sprache haben,<br />

weil ihnen zuhause die Unterstützung<br />

in schulischen Fragen fehlt.<br />

Und diese Zeit, davon ist Professorin<br />

Doris Edelmann überzeugt, sollte<br />

man den Kindern auch geben. Die<br />

Leiterin des Instituts ‹Bildung und Gesellschaft›<br />

der Pädagogischen Hochschule<br />

St. Gallen sieht deshalb neben<br />

einer schulergänzenden Förderung<br />

in einer differenzierenden Unterrichtsgestaltung<br />

einen wichtigen Beitrag<br />

zu mehr Chancengerechtigkeit. Indem<br />

die Schüler Lernaufgaben auf unterschiedlichen<br />

Niveaus lösen und persönliche<br />

Lernziele verfolgen, werden<br />

sie abgeholt, wo sie stehen. «Schwache<br />

Schüler können durch eine individuelle<br />

Förderung aufholen», betont die<br />

Erziehungswissenschaftlerin. «Und<br />

stärkere können sich weiterentwickeln.»<br />

Es gibt Schulen, die solche Wege bereits<br />

gehen. «Diese Initiativen kommen<br />

oft aus den Schulen selbst», erklärt Jürg<br />

Brühlmann, Leiter der pädagogischen<br />

Arbeitsstelle des Dachverbands <strong>Schweiz</strong>er<br />

Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Und<br />

ihre Erfahrungen dienen anderen Schulen<br />

als Beispiele. «Die Chancengerechtigkeit<br />

wird in Zukunft verstärkt ein<br />

Thema, wenn die soziale und kulturelle<br />

Vielfalt weiter zunimmt.» Und dafür<br />

müsse man passende Antworten finden.<br />

«Doch die Schule ist schwer zu<br />

reformieren», bemerkt Gianni D’Amato.<br />

Deshalb sieht er eine wichtige Rolle<br />

bei den einzelnen Lehrpersonen: «Es<br />

hängt von ihnen ab, wie Schule wirkt,<br />

wie Bildungswege verlaufen.» Entsprechend<br />

sei es wichtig, in die Aus- und<br />

Weiterbildung von Lehrpersonen zu<br />

investieren und ihnen Kompetenzen im<br />

Umgang mit Vielfalt zu vermitteln. Für<br />

Doris Edelmann gehören dazu vor allem<br />

umfassende Kenntnisse über Ursachen<br />

der Benachteiligung, eine anerkennende<br />

Haltung gegenüber allen Kindern und<br />

ihren Eltern und Qualifikationen für eine<br />

durchgängige Sprachförderung. «Sprachliche<br />

Probleme wirken sich auf alle<br />

Fächer aus», weiss sie. Um in der Schule<br />

bestehen zu können, reiche es nicht, sich<br />

im Alltag unterhalten zu können. «Eine<br />

gewisse Bildungssprache ist wichtig.»<br />

Deshalb gehört für die Bildungsexpertin<br />

Sprachförderung in den Unterricht jedes<br />

Fachs, auf jeder Schulstufe. «Von<br />

einer durchgängigen Sprachförderung<br />

profitieren nicht nur Kinder mit<br />

Migrationshintergrund, sondern auch<br />

Kinder aus sozial benachteiligten<br />

Familien.»<br />

Von der Bedeutung des Engagements<br />

einzelner Lehrpersonen für<br />

individuelle Bildungswege ist auch Jürg<br />

Brühlmann überzeugt – insbesondere<br />

mit Blick auf den Schritt in die Arbeitswelt.<br />

«Engagierte Lehrpersonen auf<br />

der Sekundarstufe mit Grundanforderungen<br />

setzen sich enorm dafür ein, dass<br />

alle ihre Jugendlichen eine Lehrstelle<br />

finden», beobachtet der LCH-Fachmann.<br />

Dass dies sehr wichtig ist, unterstreicht<br />

Gianni D’Amato: «Wichtig für<br />

die Jugendlichen ist, dass sie in die<br />

Lehre hineinkommen.» Die Arbeitswelt<br />

sollte ihnen die Möglichkeit geben,<br />

sich zu bewähren – auch wenn sie in der<br />

Schule nicht erfolgreich waren. Denn<br />

ohne anerkannte Qualifikationen sei es<br />

schwierig, seinen Platz in der Gesellschaft<br />

zu finden.<br />

bildung in der<br />

freizeit<br />

Neben der Schule bieten Angebote in der<br />

Freizeit die zweite zentrale Brücke in<br />

die Gesellschaft: «Vereine und Verbände<br />

sind wichtige Orte der Sozialisation»,<br />

betont Gianni D’Amato. Kinder und<br />

Jugendliche knüpfen Kontakte. Sie gehen<br />

gemeinsam Aufgaben an, sie übernehmen<br />

Verantwortung, verwirklichen eigene<br />

Ideen. Sie erfahren, dass sie etwas bewirken<br />

können und erhalten Anerkennung.<br />

«All das stärkt ihre Persönlichkeit,<br />

ihre sozialen Kompetenzen, ihr Engagement.»<br />

Doch wie Schulen stossen auch<br />

Vereine und Verbände in ihrer Integrationskraft<br />

an Grenzen. «Es ist vor allem<br />

der <strong>Schweiz</strong>er Mittelstand vertreten»,<br />

stellt Sonja Preisig von der <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände<br />

(SAJV) fest. Kinder und<br />

Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

und aus sozial benachteiligten Familien<br />

seien selten Mitglieder in Vereinen<br />

und Verbänden. Und damit profitieren<br />

sie auch nicht von den wertvollen<br />

informellen Bildungsmöglichkeiten, die<br />

diese bieten.<br />

21


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

«Jugendliche brauchen Orte, wo<br />

sie sich treffen und ihren Interessen<br />

nachgehen können. Sie suchen<br />

sich diese Räume und erleben dabei<br />

die Welt der Erwachsenen.»<br />

Professor Gianni D’Amato, Universität Neuchâtel<br />

«Verbände und Vereine bilden in der<br />

<strong>Schweiz</strong> sehr wichtige, traditionell verankerte<br />

Säulen der Gesellschaft»,<br />

weiss Elena Konstantinidis, Geschäftsführerin<br />

des Dachverbands offene<br />

Kinder- und Jugendarbeit <strong>Schweiz</strong> (DOJ).<br />

«Das ist ihre grosse Stärke.» Doch<br />

diese Stärke wird für manche Menschen<br />

zu einem Nachteil. «Der Zugang ist<br />

informell geregelt. Er geschieht oft über<br />

soziale Beziehungen.» Die DOJ-Geschäftsführerin<br />

nennt ein Beispiel: «Der Vater<br />

war schon in der Pfadi und profitiert bis<br />

heute von den damals geknüpften<br />

Kontakten. Und so wird auch der kleine<br />

Sohn angemeldet, wenn er alt genug<br />

ist.» Oder in einem Wohnquartier gut<br />

gestellter Mittelstandsfamilien gehen<br />

einige Mädchen zum Reiten. So komme<br />

eine Familie auch auf die Idee, die<br />

Tochter dort anzumelden. Es sei nicht<br />

so, dass diese Angebote sozial schwachen<br />

Jugendlichen oder solchen mit Migrationshintergrund<br />

grundsätzlich verschlossen<br />

sind. Doch da sie sich oft<br />

in anderen sozialen Gruppen aufhalten,<br />

komme dieser automatische Zugang<br />

nicht zustande.<br />

Mit niederschwelligen Angeboten<br />

richtet sich die offene Jugendarbeit<br />

traditionell an Kinder und Jugendliche,<br />

die nicht durch Vereine und Verbände<br />

erreicht werden. Aber nicht nur: «Sie<br />

kann auch eine gute Ergänzung bieten,<br />

indem sie mit Vereinen und Verbänden<br />

zusammenarbeitet», sagt Elena Konstantinidis.<br />

Als Partnerin könne die offene<br />

Jugendarbeit Jugendlichen den Zugang<br />

zu Vereinen und Verbänden eröffnen.<br />

Umgekehrt kommen auch viele Kinder,<br />

die regelmässig samstags zur Pfadi<br />

gehen, mittwochs ins Jugendhaus. Doch<br />

es gibt auch Jugendliche, die bewusst<br />

nicht Mitglieder in Verbänden sein möchten.<br />

«Jugendliche testen sich gerne<br />

als unabhängige Individuen aus», weiss<br />

Elena Konstantinidis. Sie lösen sich<br />

vom Elternhaus und unter Umständen<br />

von bekannten, strukturierten Angeboten<br />

wie der Vereinsmitgliedschaft. «Ein<br />

flexibles, niederschwelliges Freizeitangebot,<br />

das stärker selbst mitgestaltet<br />

werden kann, bietet dann eine attraktive<br />

Alternative.» In den vergangenen Jahren<br />

hat Elena Konstantinidis eine starke<br />

Bewegung hin zur mobilen Jugendarbeit<br />

beobachtet, die dort mit den Jugendlichen<br />

zusammenarbeitet, wo sie sich gerne<br />

aufhalten – im öffentlichen Raum. Dafür<br />

sieht sie gute Gründe: «Öffentliche<br />

Räume bieten Jugendlichen die Möglichkeit,<br />

Verantwortung zu übernehmen,<br />

aber auch Grenzen auszuloten und auszuhandeln»,<br />

sagt die DOJ-Geschäftsführerin.<br />

«Das sind wichtige Grundlagen<br />

für das Verständnis des demokratischen<br />

Zusammenlebens.»<br />

Welche besonderen Bedürfnisse<br />

Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten<br />

Migrationsfamilien haben,<br />

weiss der Verein BaBeL in Luzern:<br />

«Viele Eltern sind wenig oder höchstens<br />

in ihrem Kulturkreis vernetzt», erklärt<br />

Esther Camara-Stillhart. Sie haben<br />

oft einen oder mehr Jobs und damit<br />

kaum Zeit, ihre Kinder zu Freizeitangeboten<br />

zu begleiten. Zudem reichen<br />

die finanziellen Mittel nur für das Nötigste.<br />

«Es müssen also Angebote her,<br />

die räumlich gut erreichbar sind, die das<br />

Vertrauen der Eltern gewinnen können<br />

und die wenig oder nichts kosten.»<br />

Wenn solche Angebote fehlen, bemerkt<br />

die BaBeL-Mitarbeiterin, verbringen<br />

die Kinder unbeaufsichtigt viel Zeit am<br />

Computer und Fernseher oder im<br />

öffentlichen Raum, was zu Konflikten<br />

mit der Nachbarschaft führt. Der Verein<br />

BaBeL ist aus einem Projekt der Fachhochschule<br />

Zentralschweiz und der<br />

Stadt Luzern zur Aufwertung des Quartiers<br />

Basel-Bernstrasse entstanden,<br />

das schweizweit als wegweisendes Beispiel<br />

zur nachhaltigen Quartierentwicklung<br />

gilt. «Kinder und Jugendliche<br />

haben Bedürfnis nach Freiraum, den<br />

sie mit Gleichaltrigen und Erwachsenen<br />

ausserhalb ihres Familienkreises gestalten<br />

können», weiss Esther Camara-<br />

Stillhart. Gerade wenn Kinder autoritär<br />

erzogen werden, sei es für sie eine<br />

neue Erfahrung, mit Erwachsenen auf<br />

Augenhöhe zu diskutieren. Durch<br />

gemeinsam geplante Aktivitäten könne<br />

man dies regelmässig üben. Im BaBeL-<br />

Quartier sind alle Angebote miteinander<br />

vernetzt. Viele Kinder kommen<br />

schon als Babys und Kleinkinder mit<br />

22 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


ihren Müttern ins Deutsch- und Integrationsprojekt.<br />

Einige besuchen dann die<br />

Spielgruppe. Wenn sie in die Schule<br />

kommen, gehen sie zur Kinderanimation,<br />

für ältere Kinder gibt es weitere<br />

Angebote. «Auf diese Weise begleiten wir<br />

die Kinder über Jahre hinweg in ihrer<br />

Entwicklung», berichtet Esther Camara-<br />

Stillhart.<br />

Die gesellschaftlichen Veränderungen<br />

haben in Vereinen und Verbänden<br />

Entwicklungsprozesse ausgelöst: Wie<br />

können sie zeitgemässe Freizeitangebote<br />

sein Wie können sie ihr grosses Potenzial<br />

zur gesellschaftlichen Integration<br />

ausschöpfen Die SAJV und ihre 60 Mitgliederverbände<br />

suchen nach Antworten<br />

auf diese Fragen und beschäftigen<br />

sich mit Möglichkeiten der kulturellen<br />

und sozialen Öffnung. «Es ist gesellschaftlich<br />

ein Muss, dass Vereine und Verbände<br />

sich Gedanken machen, wie sie<br />

mit der wachsenden Vielfalt umgehen»,<br />

betont Sonja Preisig, die bei der SAJV für<br />

dieses Thema verantwortlich ist. Doch<br />

ein Patentrezept gebe es nicht. «Das Thema<br />

der Öffnung ist sehr komplex. Es<br />

braucht viel Fachwissen, Ressourcen und<br />

einen langen Atem, um Veränderungen<br />

hervorzubringen.»<br />

Rolle der Eltern<br />

«Die Eltern haben einen grossen Einfluss<br />

auf die Bildungswege ihrer Kinder»,<br />

sagt Andrea Lanfranchi. Doch nicht alle<br />

Eltern können ihren Kindern bei den<br />

Hausaufgaben helfen. Nicht alle wissen,<br />

wie sie ihnen ein lernförderliches Umfeld<br />

bieten können. Und nicht alle kennen<br />

das <strong>Schweiz</strong>er Schul- und Ausbildungssystem<br />

oder die wertvollen Lernmöglichkeiten,<br />

die Angebote in der Freizeit<br />

bieten. «Zusammen mit weiteren Massnahmen<br />

ist Elternbildung ein guter<br />

Ansatz, um die Chancengerechtigkeit zu<br />

fördern», erklärt Doris Edelmann.<br />

Wegen ihrer wichtigen Rolle für den<br />

Schulerfolg ihrer Kinder fordert Andrea<br />

Lanfranchi, dass die Zusammenarbeit<br />

mit allen Eltern fester Bestandteil der<br />

Schule wird. Doch dabei reiche es nicht<br />

aus, diese «von oben herab» an Elternabenden<br />

über schulische Belange zu<br />

informieren. Man sollte sie unterstützen,<br />

damit sie ihren Kindern beim Lernen<br />

behilflich sein können. «Schulen müssen<br />

neue Wege finden, die Eltern in die Bildungsprozesse<br />

einzubinden», meint<br />

auch Doris Edelmann. Der Dachverband<br />

Elternbildung CH setzt sich für einen<br />

eben solchen Perspektivenwechsel in der<br />

Elternarbeit ein: «Die meisten Schulen<br />

behandeln die Eltern als homogene<br />

Gruppe. Sie bieten das gleiche Angebot<br />

für alle Eltern», stellt Geschäftsführerin<br />

Maya Mulle fest. Die Frage müsse<br />

jedoch sein: Welche Eltern brauchen<br />

was Elternarbeit sollte gezielt geplant,<br />

niederschwellig und auf die Bedürfnisse<br />

der Eltern zugeschnitten sein,<br />

betont die Elternbildungsexpertin. Vor<br />

diesem Hintergrund entstehen an<br />

einigen Schulen Elternmitwirkungsprojekte,<br />

die einen regelmässigen, unkomplizierten<br />

Kontakt zwischen Eltern<br />

und Schule ermöglichen.<br />

Über punktuelle Veranstaltungen<br />

hinaus sieht Doris Edelmann gerade<br />

in der kontinuierlichen Elternarbeit einen<br />

wirkungsvollen Ansatz – und das möglichst<br />

schon, wenn die Kinder noch klein<br />

sind. In Angeboten wie Deutschlerngruppen<br />

für Mütter und ihre Kinder oder<br />

bei regelmässigen Elterntischen können<br />

sich die Familien austauschen, die<br />

Fachpersonen können im vertrauten<br />

Umfeld auf die individuellen Fragen und<br />

Bedürfnisse der Eltern eingehen. Statt<br />

ganz allgemein über die Entwicklung von<br />

Kindern zu sprechen, erfahren die<br />

Eltern, was ihre eigenen Kinder konkret<br />

brauchen. Eine besondere Form der<br />

Elternarbeit sind Hausbesuchsprogramme<br />

für benachteiligte Familien: Fachpersonen<br />

fördern Kinder zuhause in<br />

ihrem vertrauten Umfeld, zum Teil bereits<br />

ab Geburt. Die Eltern werden in die<br />

Aktivitäten einbezogen und erfahren<br />

auf diese Weise, wie sie die Entwicklung<br />

ihrer Kinder im Alltag unterstützen<br />

können. Sie lernen Förderangebote in<br />

ihrem Umfeld und das <strong>Schweiz</strong>er<br />

Bildungssystem kennen. Hausbesuchsprogrammen<br />

gelingt es, Familien zu<br />

erreichen, die klassische Angebote der<br />

Familienbildung nicht in Anspruch<br />

nehmen.<br />

«Die ersten Lebensjahre sind für<br />

die Entwicklung von bestimmten Fähigkeiten<br />

sehr wichtig», betont Andrea<br />

Lanfranchi. Kinder erlernen die Sprache<br />

und soziales Verhalten, sie bauen motorische<br />

und kognitive Fähigkeiten auf –<br />

die Grundlagen für späteres schulisches<br />

Lernen. Da Kinder sich Wissen und<br />

Können aneignen, indem sie spielerisch<br />

ihre Welt erforschen, brauchen sie Menschen,<br />

die ihnen ein anregendes Umfeld<br />

bieten. Für die meisten Kinder geschieht<br />

solch eine frühe Förderung ganz<br />

selbstverständlich im Familienalltag –<br />

indem sie Freunde besuchen, Kinderbücher<br />

vorgelesen bekommen, im Wald<br />

oder im Park spielen. «Doch aus verschiedenen<br />

Gründen können viele sozial<br />

benachteiligte Eltern ihre Kinder nicht<br />

so unterstützen, wie es für eine altersgemässe<br />

Entwicklung nötig wäre», sagt<br />

der Frühförder- und Migrationsexperte.<br />

Und damit haben einige Kinder<br />

schlechtere Voraussetzungen beim<br />

Schulstart. «Diese Nachteile können sie<br />

im Laufe der Schulzeit kaum aufholen»,<br />

betont Doris Edelmann. Beide Experten<br />

sind sich einig: Gerade für Kinder<br />

aus unterprivilegierten Familien ist eine<br />

konsequente frühe Förderung durch<br />

Spielgruppen, Kinderkrippen und Förderprogramme<br />

ab Geburt sehr wichtig.<br />

Diese Angebote können Familien unterstützen<br />

und einen Ausgleich zu nicht<br />

optimalen Lernbedingungen zuhause<br />

schaffen. «Entscheidend ist jedoch, dass<br />

die Angebote von hoher Qualität sind»,<br />

unterstreicht Doris Edelmann. «Und<br />

dass die Förderung der Kinder auch nach<br />

Eintritt in Kindergarten und Schule<br />

fortgeführt wird.»<br />

Nadine Fieke ist verantwortlich für die<br />

Kommunikation der <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>. n.fieke@stiftung-mercator.ch<br />

Engagement der <strong>Stiftung</strong><br />

Ob schulergänzende Förderung, niederschwellige<br />

Angebote in der Freizeit oder<br />

Elternbildung: Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

setzt sich mit Projekten auf verschiedenen<br />

Ebenen dafür ein, dass Kinder und Jugendliche<br />

gerechte Chancen haben, ihr persönliches<br />

Potenzial zu entfalten und ihren Platz in<br />

der Gesellschaft zu finden. Diese Ausgabe<br />

des <strong>Mercator</strong> Magazins konzentriert sich auf<br />

die schulergänzende und ausserschulische<br />

Förderung von Kindern und Jugendlichen.<br />

Auch im personalisierten Lernen<br />

und in der frühkindlichen Bildung sieht die<br />

<strong>Stiftung</strong> wichtige Ansätze, um die gesellschaftliche<br />

Integration von Kindern und<br />

Jugendlichen zu unterstützen. Das <strong>Mercator</strong><br />

Magazin 02/2012 gibt Einblicke in vielfältige<br />

Schulentwicklungsmassnahmen, in denen<br />

das personalisierte Lernen im Zentrum steht.<br />

Die Ausgabe 01/2012 widmet sich der frühkindlichen<br />

Bildung. Die Magazine sind online<br />

abrufbar: www.stiftung-mercator.ch/<br />

stiftung/publikationen<br />

23


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration


Das Ziel stets<br />

vor Augen<br />

Sie sind begabt, motiviert – und trotzdem ist der Weg<br />

zur höheren Bildung für sie nicht selbstverständlich:<br />

Jedes Jahr bereitet das Zürcher Gymnasium Unterstrass<br />

mit seinem Förderprogramm ChagALL Jugendliche mit<br />

Migrationshintergrund auf die Aufnahmeprüfungen zur<br />

Mittelschule vor. Und das mit Erfolg, wie die Universität<br />

Zürich in ihrer Evaluation bestätigt. Text / nadine fieke<br />

25


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Zufrieden legt Professor Jürg Schoch den<br />

druckfrischen Evaluationsbericht auf den<br />

Tisch. «Die Universität Zürich bestätigt,<br />

dass unser Programm funktioniert», sagt<br />

der Leiter des Zürcher Gymnasiums<br />

und Instituts Unterstrass. Dafür sprechen<br />

schon allein die Zahlen: Jedes Jahr nehmen<br />

zwölf Jugendliche am Förderprogramm<br />

ChagALL (Chancengerechtigkeit<br />

durch Arbeit an der Lernlaufbahn) teil,<br />

um sich auf die Aufnahmeprüfungen zum<br />

Gymnasium oder zu einer anderen<br />

Mittelschule vorzubereiten. Zwei Drittel<br />

von ihnen bestehen die Prüfungen.<br />

Bereits während des Programms wirkt<br />

sich das intensive Training positiv auf<br />

die Schulnoten der Jugendlichen aus. Alle<br />

ChagALL-Schüler haben einen Migrationshintergrund,<br />

für alle ist Deutsch eine<br />

Fremdsprache. Und ihre Familien<br />

können sich keine spezielle Mittelschulvorbereitung<br />

leisten. Jürg Schoch<br />

und Programmleiter Stefan Marcec sind<br />

zufrieden, wie sich das Projekt in den<br />

vergangenen fünf Jahren entwickelt hat.<br />

Sie sind überzeugt: ChagALL leistet einen<br />

wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit<br />

– und damit zur Integration von<br />

Jugendlichen mit Migrationshintergrund.<br />

Was ist das Erfolgsrezept von ChagALL<br />

Jürg Schoch: Klare, hohe Anforderungen<br />

an die Jugendlichen, genügend<br />

Lernzeit, eine gute Unterstützung<br />

durch unsere Trainerinnen – fachlich<br />

und persönlich. Personen, die sich<br />

für diese jungen Menschen engagieren,<br />

die an sie glauben und wissen, was in<br />

einer Mittelschule verlangt wird. Vielleicht<br />

muss man auch sagen: eine gute Selektion.<br />

Die Jugendlichen, die an ChagALL<br />

teilnehmen, sind hochmotiviert und<br />

haben Potenzial.<br />

Stefan Marcec: Wichtig ist auch<br />

das Gespür der Sekundarlehrer, die<br />

die Jugendlichen für unser Programm<br />

empfehlen. Sie wissen genau, wer<br />

von ihnen das Potenzial für die Mittelschule<br />

hat.<br />

Jürg Schoch: Und nicht vergessen<br />

darf man die Eltern. Diese müssen<br />

auch mitmachen. Sie alle wünschen ihren<br />

Kindern einen guten Bildungsweg.<br />

≥ 1<br />

Wie ist Ihr Programm entstanden<br />

Schoch: Die Förderung von Aufsteigerkindern<br />

war unserer Schule immer<br />

ein grosses Anliegen. Vor 50 Jahren<br />

wurden diese vor allem aus dem ländlichen<br />

Raum der <strong>Schweiz</strong> an unser Seminar<br />

geholt. So haben wir uns gefragt:<br />

Wo sind heute die jungen Menschen, die<br />

nicht zu höherer Bildung kommen,<br />

obwohl sie das Potenzial dazu haben<br />

Schnell haben wir festgestellt, dass dies<br />

Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

aus bildungsfernen Familien sind.<br />

Für diese Jugendlichen wollten wir<br />

etwas tun, ihnen wollten wir die Möglichkeit<br />

geben, ihr Potenzial zu entfalten<br />

und auf die Mittelschule zu gehen. So<br />

startete 2008 der erste ChagALL-Jahrgang.<br />

Woran liegt es, dass verhältnismässig<br />

wenige Kinder aus bildungsfernen<br />

Migrationsfamilien das Gymnasium oder<br />

eine andere Mittelschule besuchen<br />

Schoch: Aus der Forschung weiss<br />

man, dass ein bildungsfernes Elternhaus<br />

ein grosses Hindernis für Kinder ist,<br />

um in höhere Bildungsgänge zu kommen.<br />

Wenn sich dies mit einem Migrationshintergrund<br />

und mit Sprachbarrieren<br />

kumuliert, haben die Jugendlichen praktisch<br />

kaum eine Chance. Lehrpersonen<br />

haben bei der Selektion ein gutes<br />

Gespür dafür, ob ein Kind in der nächst<br />

höheren Schulstufe erfolgreich sein<br />

wird oder nicht – und das hängt zu einem<br />

grossen Teil von der Unterstützung zuhause<br />

und von den Deutschkenntnissen<br />

ab. Beides ist bei diesen Jugendlichen<br />

nicht gegeben. Also werden sie schon gar<br />

nicht an die Aufnahmeprüfungen geschickt.<br />

Und wenn sie doch gehen, haben<br />

sie oft sprachliche Schwierigkeiten.<br />

1 Der 52-seitige Evaluationsbericht<br />

von Professor Urs Moser und Stéphanie<br />

Berger vom Institut für Bildungsevaluation<br />

der Universität Zürich lobt insbesondere<br />

die Zielorientierung des Programms:<br />

Die Inhalte des Trainings sind<br />

klar auf die Aufnahmeprüfungen für<br />

die Mittelschule ausgerichtet. Und<br />

dadurch, dass die Förderung an einer<br />

Mittelschule stattfindet, haben die<br />

Schüler ihr Ziel stets vor Augen. Zehn<br />

Monate lang kommen sie während<br />

des letzten Schuljahrs der Sekundarschule<br />

jeden Mittwochnachmittag<br />

ins Gymnasium Unterstrass in Zürich,<br />

um gemeinsam zu lernen. Je eine<br />

Lektion Mathematik, Deutsch und<br />

Französisch steht auf dem Programm.<br />

Samstags arbeiten sie im Beisein einer<br />

Betreuungsperson eigenständig an<br />

ihren Aufgaben. Neben fachlicher<br />

Unterstützung durch ein sechsköpfiges<br />

Trainerteam aus Sekundar- und<br />

Gymnasiallehrern prägen Persönlichkeits-<br />

und Motivationstrainings das<br />

Programm. Das Angebot wird optimal<br />

auf die individuellen Bedürfnisse der<br />

Jugendlichen abgestimmt. Das verlangt<br />

von den Lehrpersonen neben fachlichen<br />

und fachdidaktischen vor allem<br />

auch diagnostische Kompetenzen:<br />

Nur wenn sie die schulischen Lücken<br />

erkennen, können sie die Schüler zielgerichtet<br />

fördern. Regelmässige<br />

Lernkontrollen sind deshalb ein wichtiger<br />

Bestandteil des Trainings. ChagALL<br />

gelingt es laut Evaluationsbericht,<br />

den Jugendlichen ideale Lernvoraussetzungen<br />

zu schaffen.<br />

26 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


≥ 2<br />

Welche Erfahrungen machen Sie in der<br />

Zusammenarbeit mit den Jugendlichen<br />

Schoch: Die Schüler sind unglaublich<br />

motiviert. Man merkt, sie wollen<br />

arbeiten – und sie arbeiten richtig gut<br />

miteinander. Es macht mir unglaublich<br />

Freude, das zu beobachten.<br />

Wo sehen Sie die grösste Herausforderung<br />

für die Schüler<br />

Marcec: In eben dieser Motivation<br />

und darin, sie zehn Monate lang aufrecht<br />

zu erhalten. Das Programm ist sehr<br />

intensiv: Jeden Mittwochnachmittag<br />

und jeden Samstagmorgen zu uns in die<br />

Schule zu kommen, zu lernen und<br />

zusätzliche Aufgaben zu erhalten, das<br />

verlangt eine grosse Motivation. Neben<br />

dem Lernen bleibt den Jugendlichen<br />

kaum noch Freizeit.<br />

≥ 3<br />

Das Programm hat sich seit dem ersten<br />

Durchgang stetig weiterentwickelt.<br />

Was haben Sie gelernt<br />

Schoch: Zum Beispiel, dass man<br />

früher anfangen muss. Im ersten Jahr<br />

startete das Programm erst im Oktober,<br />

heute beginnt es bereits im August.<br />

Wir haben gemerkt, dass wir die Schüler<br />

nicht nur fachlich, sondern auch auf<br />

der Persönlichkeitsebene unterstützen<br />

müssen. Wir geben ihnen Werkzeuge an<br />

die Hand, um sich in Prüfungssituationen<br />

zu beruhigen. Wir vermitteln ihnen<br />

Arbeits- und Lernstrategien und unterstützen<br />

sie, ihre Stärken und Schwächen<br />

zu erkennen, um daran zu arbeiten.<br />

Ausserdem haben wir die Intensität der<br />

Trainings erhöht: Anfangs war das<br />

Samstagstraining freiwillig. Heute sind<br />

beide Tage obligatorisch. Wir mussten<br />

nach dem Pilotjahr feststellen, dass<br />

es für Sek-B-Schüler ein zu weiter Weg<br />

ist, um die Prüfungen zu bestehen.<br />

Wenn neben Deutsch zu grosse fachliche<br />

Lücken da sind, schaffen wir es<br />

nicht, sie ausreichend vorzubereiten.<br />

(Anmerkung der Redaktion: Im Kanton<br />

Zürich gliedert sich die Sekundarschule<br />

in drei Abteilungen mit unterschiedlichen<br />

Anforderungen. Die Sek A ist das<br />

anspruchsvollste Niveau.)<br />

Marcec: Im ersten Programmjahr<br />

hat niemand aus der Sek B die Aufnahmeprüfung<br />

zu einer Mittelschule<br />

geschafft. Deshalb geben wir inzwischen<br />

Sek-A-Schülern den Vorzug. Für die<br />

Prüfungsvorbereitung von Sek-B-Schülern<br />

bräuchten wir mindestens zwei<br />

Jahre. Dafür müsste man ein eigenes<br />

Programm kreieren.<br />

Schoch: So haben wir mit der Zeit<br />

auch das Aufnahmeverfahren verbessert:<br />

Nicht nur Motivation und Intelligenz<br />

sind entscheidend, sondern auch die fachlichen<br />

Niveaus der Jugendlichen. Deshalb<br />

führen wir heute neben Intelligenzund<br />

Motivationstests auch webbasierte<br />

individuelle Standortbestimmungen, so<br />

genannte Stellwerk-Tests, durch. Wir<br />

haben ausserdem gemerkt, dass wir die<br />

Eltern und die Schülerinnen und Schüler<br />

viel besser informieren müssen,<br />

welche unterschiedlichen Möglichkeiten<br />

es im Anschluss an die Sekundarschule<br />

gibt: Was ist eine Berufsmittelschule<br />

Was ist eine Fachmittelschule Was ist<br />

ein Gymnasium Welche Profile vom<br />

Gymnasium gibt es Was gibt es für Zugänge<br />

zu Fachhochschulen und Universitäten<br />

Das ist alles sehr kompliziert.<br />

Und zuletzt haben wir auch festgestellt,<br />

dass wir die Jugendlichen in der<br />

Probezeit und darüber hinaus besser<br />

unterstützen müssen. Schliesslich ist es<br />

unser Ziel, sie nicht nur in die Mittelschule<br />

zu bringen – sie sollen diese auch<br />

erfolgreich beenden. Deshalb begleiten<br />

wir die Jugendlichen nun während<br />

der ersten Zeit in der Mittelschule mit<br />

dem Programm ChagALL+. Das heisst,<br />

die Schüler kommen während der<br />

Probezeit jeden Samstagmorgen zu uns,<br />

um ihre Hausaufgaben zu machen<br />

oder sich auf Prüfungen vorzubereiten.<br />

Eine erfahrene Mittelschullehrperson<br />

steht ihnen dabei zur Seite. Daneben<br />

haben die Jugendlichen eine definierte<br />

2 Die Evaluation zeigt: Es gibt in<br />

der Sekundarschule Jugendliche, die<br />

das Potenzial für die Mittelschule<br />

haben – doch ohne besondere Angebote<br />

könnten sie dieses nicht entfalten.<br />

Die ChagALL-Schüler sind überdurchschnittlich<br />

intelligent, besonders ihre<br />

mathematischen Fähigkeiten sind<br />

hoch. Ihre schulischen Lücken liegen<br />

vor allem in den sprachlichen Fächern.<br />

So reichen die Deutschkenntnisse<br />

der 14- bis 16-Jährigen zu Beginn des<br />

Trainings kaum aus, um erfolgreich in<br />

die Mittelschule übertreten zu können.<br />

Vor allem in Deutsch verbessern sich<br />

laut Evaluation die Noten der Jugendlichen<br />

während des Programms.<br />

3 Eine halbherzige Teilnahme am<br />

Programm ist nicht möglich. Für die<br />

Verfasser des Evaluationsberichts<br />

ist das eine wichtige Voraussetzung für<br />

den Erfolg von ChagALL. Die Jugendlichen<br />

verpflichten sich, regelmässig an<br />

den Trainings teilzunehmen. Zudem<br />

stellt das Auswahlverfahren sicher,<br />

dass nur Jugendliche aufgenommen<br />

werden, die wirklich ausreichend<br />

motiviert sind. Obwohl ChagALL ein<br />

stark individualisiertes Förderprogramm<br />

ist, ist der Klassenverband in<br />

den Augen der Wissenschaftler<br />

sehr wichtig: Alle Teilnehmer haben<br />

mit ähnlichen Schwierigkeiten zu<br />

kämpfen. Sie wollen gemeinsam ein<br />

Ziel erreichen. Und sie alle sind<br />

bereit, viel für dieses Ziel zu leisten.<br />

Dieses leistungsfreundliche Lernklima<br />

motiviert. Das Programm ermutigt<br />

auch das Umfeld der Jugendlichen, sie<br />

zu unterstützen: Die Sekundarlehrer<br />

beginnen, die Schüler zusätzlich zu fördern.<br />

Auch die Eltern erkennen die<br />

Chancen ihrer Kinder und unterstützen<br />

sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten.<br />

27


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Ansprechperson, die mit ihnen regelmässig<br />

Standortgespräche führt und sie<br />

persönlich begleitet.<br />

≥ 4<br />

Wie machen sich die Jugendlichen heute<br />

in der Mittelschule<br />

Marcec: Wir haben zurzeit bei uns<br />

im Kurzgymnasium drei ChagALL-<br />

Schüler in der ersten Klasse. Alle drei<br />

sind damals knapp durch die Aufnahmeprüfungen<br />

gekommen. Beim letzten<br />

Notenkonvent hat sich gezeigt: Jetzt sind<br />

sie mehr als gut. Natürlich gibt es<br />

auch Niederlagen. Erst kürzlich musste<br />

ein Schüler das Gymnasium verlassen.<br />

Aber gleichzeitig haben wir viele Schüler,<br />

die spielend durch die Schule gehen.<br />

Schoch: Für mich ist das eigentlich<br />

erschreckend. Denn was machen<br />

wir Wir stellen diesen jungen Menschen<br />

mit ChagALL+ am Samstagmorgen<br />

eine Person für drei Stunden zur Verfügung.<br />

Das heisst, wir ersetzen das<br />

gutbürgerliche Elternhaus, das unsere<br />

Mittelschulen einfach voraussetzen –<br />

und das diese Schüler nicht haben. Das<br />

genügt offensichtlich schon.<br />

Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />

des Programms<br />

Schoch: Dass andere es nachmachen.<br />

Wir wissen: ChagALL funktioniert.<br />

Wir können das Wissen weitergeben.<br />

Jetzt braucht es die eine oder<br />

andere Schule in der <strong>Schweiz</strong>, die sagt:<br />

«Ja, das finden wir sinnvoll, das möchten<br />

wir auch machen.» Zurzeit befragen<br />

wir systematisch die Kantone, ob ein<br />

Interesse an unserem Programm besteht.<br />

Wir stellen einen Businessplan auf und<br />

schauen, welche Unterstützung Schulen<br />

in punkto Know-how und finanziellen<br />

Ressourcen für die Umsetzung des<br />

Programms brauchen.<br />

≥ 5<br />

Kontakt: Gymnasium Unterstrass,<br />

Jürg Schoch, juerg.schoch@unterstrass.edu /<br />

Stefan Marcec, stefan.marcec@unterstrass.edu<br />

Das Förderprogramm ChagALL verlangt viel Durchhaltevermögen: Jeden Mittwochnachmittag<br />

und jeden Samstagvormittag kommen die Schüler ins Gymnasium Unterstrass zum Lernen.<br />

4 Die Evaluation betrachtet die<br />

ersten vier Jahrgänge genauer –<br />

und präsentiert einige Zahlen: 30 der<br />

49 Teilnehmer von ChagALL I bis IV<br />

haben mindestens eine Aufnahmeprüfung<br />

für eine Mittelschule bestanden.<br />

Das ist eine Erfolgsquote von<br />

61 Prozent. Zählt man die Pilotphase<br />

nicht mit, so liegt die Erfolgsquote<br />

bei 68 Prozent. Die Wissenschaftler<br />

gehen davon aus, dass die Anpassungen<br />

am Programm nach dem Pilotjahr<br />

Grund für die höhere Erfolgsquote<br />

sind. Von den 30 Jugendlichen, die<br />

in den ersten vier Programmjahren den<br />

Sprung in die Mittelschule geschafft<br />

haben, haben 25 die Probezeit bestanden.<br />

2013 gingen die ersten fünf<br />

ChagALL-Schüler an die Maturaprüfungen.<br />

Für die Wissenschaftler zeigen<br />

diese Zahlen: ChagALL bereitet die<br />

Jugendlichen nicht nur gut auf die Aufnahmeprüfungen<br />

vor, sondern auch auf<br />

die Zeit an der Mittelschule.<br />

5 Die Evaluation unterstreicht den<br />

Wunsch nach einer Verbreitung<br />

des Programms: Die Wissenschaftler<br />

der Universität Zürich sehen in<br />

ChagALL ein bedeutsames Projekt,<br />

das auch anderen Schulen eine<br />

Möglichkeit bietet, einen Beitrag zur<br />

besseren Nutzung des Potenzials<br />

von Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />

zu leisten. Die Volksschule<br />

verfüge in diesem Bereich noch kaum<br />

über wirksame Instrumente, heisst<br />

es im Evaluationsbericht. Deshalb seien<br />

die Erkenntnisse von ChagALL von<br />

grossem Interesse.<br />

Chagall<br />

Die positive Beurteilung durch die Universität<br />

Zürich hat Folgen: Während ChagALL in<br />

der Pilotphase von <strong>Stiftung</strong>en und weiteren<br />

Förderern finanziert wurde, übernimmt ab<br />

dem Schuljahr 2012/2013 für die nächsten<br />

vier Jahre die Bildungsdirektion des Kantons<br />

Zürich die Kosten. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> unterstützt ChagALL auch nach der<br />

Pilotphase weiter – konkret die Erprobung<br />

des Programms ChagALL+ zur Begleitung der<br />

Schüler während der Probezeit in der Mittelschule,<br />

die Weiterführung der Evaluation und<br />

den Businessplan für eine allfällige Ausdehnung<br />

von ChagALL auf weitere Schulen. Die<br />

Weiterführung der Evaluation soll dazu<br />

beitragen, den gesamten schulischen Verlauf<br />

der ersten drei ChagALL-Jahrgänge bis<br />

zum Bestehen der Maturaprüfungen zu erfassen.<br />

Auch die Wirksamkeit der Begleitung<br />

durch ChagALL+ wird überprüft. Insgesamt<br />

wird die Evaluation auf eine breitere Datenbasis<br />

gestellt, um die Chancen zu erhöhen,<br />

dass andere Schulen das Programm übernehmen.<br />

Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> stellt<br />

in den Jahren 2008 bis 2014 insgesamt<br />

128 000 Franken für ChagALL zur Verfügung.<br />

www.unterstrass.edu<br />

28 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Die Mühen haben<br />

sich gelohnt<br />

Athanasia Zafeiropoulou<br />

16 Jahre<br />

Jahrgang 2012/2013<br />

Als ich vor zweieinhalb Jahren mit meinen Eltern<br />

aus Griechenland in die <strong>Schweiz</strong> gekommen<br />

bin, konnte ich kaum Deutsch. ChagALL hat mir<br />

vor allem sprachlich sehr geholfen. Ich habe<br />

mich in Aufsätzen verbessert, mein Wortschatz ist<br />

viel grösser geworden. Natürlich war es anstrengend,<br />

jeden Mittwoch und jeden Samstag zum<br />

ChagALL-Training zu kommen. Doch die Arbeit hat<br />

sich gelohnt! Unsere Lerngruppe war wie eine<br />

kleine Familie. Jeder hat jedem geholfen. Alle haben<br />

ähnliche Ziele. Viele wollen studieren. Das war<br />

eine besondere Motivation. Wir wurden sehr gut auf<br />

die Prüfungen vorbereitet: Wir haben an unseren<br />

Schwächen gearbeitet und unsere Stärken weiter<br />

ausgebaut. Wir haben verschiedene Techniken<br />

gelernt, wie wir uns beruhigen können. Ich bin froh,<br />

dass ich diese Unterstützung hatte. Meine Eltern<br />

sind es auch. Sie glauben fest an mich. Jetzt fange<br />

ich eine Banklehre an und gehe zur Berufsmittelschule.<br />

Später möchte ich einmal Wirtschaft studieren.<br />

Ich bin gut in Mathe. Es macht mir Spass, mit<br />

Zahlen umzugehen.<br />

29


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Gazmend Dushica<br />

19 Jahre<br />

Jahrgang 2008/2009<br />

Ich habe einen Preis für die beste Maturaarbeit am<br />

Zürcher Gymnasium MNG Rämibühl bekommen:<br />

In einem Film habe ich vier Albaner porträtiert. Ich<br />

habe sie über Vorurteile, Integration und Tradition<br />

befragt. Mit ihrer Hilfe wollte ich einen Blick auf die<br />

albanische Kultur werfen. Ohne ChagALL würde<br />

ich jetzt wahrscheinlich nicht Matura machen. Ich<br />

hatte die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium zwei<br />

Mal versucht und nicht geschafft. ChagALL hat mir<br />

vor allem in den sprachlichen Fächern geholfen.<br />

Doch noch wichtiger war, dass meine Motivation und<br />

mein Selbstvertrauen gestärkt wurden. ChagALL<br />

habe ich immer als besondere Chance gesehen – und<br />

die anderen in meiner Sekundarschulklasse haben<br />

mich darum beneidet: Meine Noten wurden immer<br />

besser. Und am Ende hatte ich sogar das beste Abschlusszeugnis<br />

meines Jahrgangs. Meine Familie<br />

kommt aus dem Kosovo. Meinen Eltern war es wichtig,<br />

dass ich Deutsch lerne und viel für die Schule<br />

arbeite. Sie haben mich immer unterstützt. Nach<br />

der Matura kann ich mir vorstellen, internationale<br />

Beziehungen zu studieren.<br />

Mathuschanka Baskaran<br />

16 Jahre<br />

Jahrgang 2011/2012<br />

Bildung ist mir wichtig. Ich möchte nachholen, was<br />

meinen Eltern nicht möglich war: Als sie vor dem<br />

Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen sind, mussten sie<br />

alles aufgeben – auch ihre Bildungswünsche. Gerne<br />

hätten sie studiert. Aber in der <strong>Schweiz</strong> ging das<br />

nicht mehr. Sie konnten die Sprache nicht. Sie wussten<br />

nichts vom Bildungssystem, sie mussten Geld<br />

zum Leben verdienen. Heute arbeitet mein Vater als<br />

Coiffeur, meine Mutter ist Hausfrau. Zuhause<br />

sprechen wir Tamilisch, Deutsch habe ich von anderen<br />

Kindern gelernt. Ich hatte die Hoffnung fast<br />

aufgegeben, zum Gymnasium zu gehen. Zwei Mal<br />

hatte ich die Aufnahmeprüfung knapp nicht bestanden.<br />

Doch mein Lehrer wusste, dass ich mehr<br />

kann. Er hat mich für ChagALL empfohlen. Das Programm<br />

hat mich nicht nur fachlich unterstützt –<br />

ich habe viele Tipps bekommen: Wie ich richtig<br />

lerne, wie ich mit Stress umgehen kann. Das hat mir<br />

sehr geholfen. Jetzt gehe ich in die erste Klasse des<br />

Gymnasiums Unterstrass in Zürich. Ich möchte<br />

später Medizin studieren und den Menschen in Sri<br />

Lanka helfen.<br />

30 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

chancen für<br />

die Zukunft<br />

Um ungleiche Bildungschancen aufgrund der sozialen<br />

Herkunft zu reduzieren, hat das Institut ‹Bildung<br />

und Gesellschaft› der Pädagogischen Hochschule<br />

St. Gallen das Interventionsprojekt CHANSON (Chancenförderung<br />

bei der Selektion) entwickelt. Seit<br />

vielen Jahren wird in der Bildungsforschung der<br />

Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe diskutiert.<br />

Denn dieser Schritt ist mit weitreichenden<br />

Folgen für die weitere schulische und berufliche<br />

Laufbahn verbunden. Es zeigt sich, dass bei der<br />

Zuweisung (Selektion) neben den schulischen Leistungen<br />

auch herkunftsbedingte Faktoren eine<br />

entscheidende Rolle spielen. Und das erweist sich<br />

besonders häufig als Nachteil für Schülerinnen und<br />

Schüler aus wenig privilegierten Familienverhältnissen<br />

mit Noten im mittleren Leistungsbereich: Sie<br />

werden eher einem Sekundarschultypus mit geringeren<br />

Anforderungen zugeteilt. Damit können viele<br />

Kinder ihre persönlichen Talente aufgrund ihrer<br />

familiären Herkunft nicht optimal entfalten – selbst<br />

wenn sie bereit sind, viel zu leisten. Sie haben<br />

weniger Bildungschancen als Kinder aus privilegierten<br />

Familienverhältnissen.<br />

Intensives Training<br />

Das Projekt CHANSON setzt an der Schnittstelle<br />

zwischen Primar- und Sekundarstufe an: Das intensive<br />

schulergänzende Training findet jeweils am<br />

Samstagmorgen für drei Stunden in kleinen Gruppen<br />

statt. Es vertieft Fachinhalte in Deutsch und Mathematik<br />

und vermittelt den Kindern Lernstrategien<br />

und schulisches Selbstvertrauen. Begleitet werden<br />

sie auch bei den Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen.<br />

Das Programm dauert drei Semester<br />

– von der sechsten Klasse der Primarschule bis zum<br />

ersten Semester der Sekundarschule. Das Ziel:<br />

Die Kinder sollen den Übertritt in ein hohes Niveau<br />

der Sekundarschule schaffen. Denn von dort aus<br />

haben sie die Möglichkeit, in eine Fachmittelschule<br />

oder ein Gymnasium überzutreten oder auch eine<br />

anspruchsvolle berufliche Lehre zu machen.<br />

Die Entwicklung des Projekts CHANSON basiert<br />

auf Erkenntnissen aus dem Projekt ChagALL des<br />

Zürcher Gymnasiums Unterstrass, das Jugendliche<br />

mit Migrationshintergrund durch eine schulergänzende<br />

Förderung erfolgreich auf die Aufnahmeprüfungen<br />

zum Gymnasium, zur Fach- und Berufsmittelschule<br />

vorbereitet. Während sich ChagALL<br />

ausschliesslich an Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

richtet, können sich für das Projekt<br />

CHANSON Kinder aus wenig privilegierten Familienverhältnissen<br />

unabhängig ihrer kulturellen<br />

Herkunft bewerben. Den Förderunterricht führen<br />

Förderlehrpersonen durch, die für das Projekt<br />

angestellt werden. Studierende der Pädagogischen<br />

Hochschule St. Gallen unterstützen sie. Ihr Engagement<br />

für das Projekt wird als Studienleistung<br />

anerkannt. Gleichzeitig erweitern die angehenden<br />

Lehrpersonen ihre Kompetenzen in einem ressourcenorientierten<br />

Umgang mit wenig privilegierten<br />

Kindern.<br />

Informationen für die Eltern<br />

Da die Familie für den Bildungserfolg von Kindern<br />

massgeblich ist, werden den Eltern der Teilnehmer<br />

im Rahmen von CHANSON Möglichkeiten aufgezeigt,<br />

wie sie ihr Kind zuhause gezielter unterstützen<br />

können (zum Beispiel durch eine spezielle Arbeitsplatzgestaltung,<br />

Beachtung der Balance zwischen<br />

Lern- und Pausenzeit). Es werden aber auch Informationen<br />

zum Bildungssystem vermittelt oder Unterstützungsmöglichkeiten<br />

in der Wohngemeinde<br />

aufgezeigt. Für die Einbindung der Eltern greift<br />

CHANSON unter anderem auf Wissen zurück, das im<br />

Rahmen des Projekts ‹ElternWissen – Schulerfolg›<br />

des Dachverbands Elternbildung CH entwickelt<br />

wurde. Der Förderunterricht startet im Schuljahr<br />

2013/2014 und wird zunächst bis 2015/2016 in zwei<br />

Pilotphasen in Rapperswil-Jona, St. Gallen und Wil<br />

durchgeführt. Eine wissenschaftliche Studie begleitet<br />

das Interventionsprojekt. Auf dieser Grundlage<br />

können Schlüsse für die Weiterentwicklung des Projekts<br />

und seine Einführung an weiteren Standorten<br />

abgeleitet werden.<br />

Text / Prof. Doris Edelmann und Dr. Sonja Bischoff.<br />

Doris Edelmann leitet das Institut ‹Bildung und Gesellschaft›<br />

der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Sonja Bischoff ist<br />

dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.<br />

doris.edelmann@phsg.ch, sonja.bischoff@phsg.ch<br />

www.phsg.ch/forschung, blogs.phsg.ch/chanson<br />

31


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Die Familie als<br />

Lernort<br />

Eltern spielen eine wichtige Rolle für den Schulerfolg<br />

ihrer Kinder. Wie sie den Familienalltag lernfördernd<br />

gestalten können, erfahren sie an den Themenabenden<br />

‹ElternWissen – Schulerfolg›.<br />

Die Veranstaltung ist gut besucht. 120<br />

Eltern sind der Einladung des Elternrates<br />

der Primarschule Thierstein in<br />

Basel gefolgt. Zwei Stunden lang erzählt<br />

Jorge Montoya-Romani ihnen an diesem<br />

Abend im Rahmen des Weiterbildungsangebots<br />

‹ElternWissen – Schulerfolg›,<br />

wie sie ihre Kinder beim Lernen<br />

unterstützen können. Immer wieder<br />

stoppt er seinen Vortrag, sucht den Austausch<br />

mit den Eltern – und vor allem:<br />

Er gibt ihnen Raum für ihre Fragen und<br />

für Diskussionen. Der Referent achtet<br />

darauf, dass auch die zahlreichen Eltern<br />

mit Migrationshintergrund seinen Ausführungen<br />

folgen können. Interkulturelle<br />

Vermittlerinnen unterstützen ihn dabei.<br />

bucht. Ein grosses Anliegen des Projekts<br />

ist es, besonders auch Eltern mit<br />

Migrationshintergrund zu erreichen.<br />

Grosser Bedarf<br />

Die Primarschule Thierstein ist zufrieden<br />

mit dem Abend: «Selten hatten<br />

unsere Elternveranstaltungen einen so<br />

grossen Zulauf», freut sich Simone<br />

Lazarus vom Elternrat. Die regen Diskussionen<br />

der Teilnehmer zeigen ihr, dass<br />

der Bedarf der Eltern an Informationen<br />

zur Lernbegleitung ihrer Kinder gross<br />

ist. Der Primarschule Thierstein ist es<br />

ein grosses Anliegen, die Eltern verstärkt<br />

in die Schule einzubeziehen. Dass 70<br />

Prozent der Eltern fremdsprachig sind,<br />

ist für die Schulleiterin Karin Vaneck<br />

dabei eine Herausforderung: «Viele<br />

von ihnen wünschen sich eine intensivere<br />

Zusammenarbeit mit der Schule, sie<br />

haben aber noch keinen Zugang gefunden.»<br />

Mit regelmässigen Weiterbildungsangeboten<br />

möchte die Schule die<br />

Eltern nicht nur in ihren Erziehungskompetenzen<br />

stärken – sie möchte den<br />

Austausch zwischen Eltern und Lehrpersonen<br />

stärken und Vertrauen aufbauen.<br />

«Dadurch wird die Hemmschwelle, in<br />

die Schule zu kommen, kleiner», weiss<br />

die Schulleiterin.<br />

Kontakt: Elternbildung CH,<br />

Maya Mulle, gf@elternbildung.ch,<br />

www.elternwissen.ch<br />

Fragen und Antworten<br />

«Die Familie hat einen grossen Einfluss<br />

auf den Schulerfolg der Kinder», betont<br />

Maya Mulle. Weil sie weiss, dass viele<br />

Eltern sich in schulischen Fragen oft<br />

hilflos fühlen, hat die Geschäftsführerin<br />

des Dachverbands Elternbildung CH<br />

das Angebot ‹ElternWissen – Schulerfolg›<br />

entwickelt: Wie können Eltern ihr<br />

Kind auf den Schuleintritt vorbereiten<br />

Wie können sie ihm bei den Hausaufgaben<br />

helfen Wie lernen Kinder am<br />

besten Was hemmt die Motivation, was<br />

fördert sie Wie können Eltern Jugendlichen<br />

helfen, die geeignete Berufswahl<br />

zu treffen In den stufenspezifischen<br />

Elternanlässen geben geschulte Referenten<br />

fachlich fundierte Antworten auf<br />

diese und weitere Fragen. Das Interesse<br />

von Seiten der Schulen und Elterngremien<br />

am Elternbildungsangebot ist<br />

gross: Die 60 kostenlosen Themenabende,<br />

die neben weiteren Unterstützern die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> mit einer<br />

Förderung in Höhe von 115 300 Franken<br />

ermöglicht hat, waren schnell ausge-<br />

«Ich jongliere mit der<br />

Interkulturalität»<br />

Jorge Montoya-Romani hält seine Vorträge im Rahmen von<br />

‹ElternWissen – Schulerfolg› vor allem in Schulen mit<br />

vielen fremdsprachigen Eltern. Der Referent berichtet über<br />

seine Erfahrungen mit den Elternanlässen.<br />

Schulerfolg bedeutet nicht, dass unbedingt<br />

alle Kinder später einmal studieren<br />

müssen. Schulerfolg bedeutet, dass<br />

jeder Schüler sein persönliches Potenzial<br />

entfalten kann. Das betone ich bei den<br />

Veranstaltungen ‹ElternWissen – Schulerfolg›<br />

immer wieder. Doch damit dies<br />

möglich ist, ist nicht nur die Schule gefragt:<br />

Lernen fängt zuhause an. Viele<br />

Eltern sind sich dessen nicht bewusst.<br />

Wie können Eltern ihre Kinder<br />

im Lernen begleiten Gerade für so genannte<br />

bildungsferne Familien ist<br />

das eine schwierige Frage. Viele Eltern<br />

können ihren Kindern fachlich nicht zur<br />

Seite stehen. Doch das Wichtigste sind<br />

gute Rahmenbedingungen. Kinder<br />

brauchen eine feste Tagesstruktur und<br />

engagierte Eltern. Das mache ich den<br />

Familien in meinem Vortrag zum Thema<br />

‹Familie als Lernort› deutlich: Wenn<br />

die Kinder nach Hause kommen, sollten<br />

sie zuerst ihre Hausaufgaben machen<br />

und erst dann spielen. Um gut lernen zu<br />

können, brauchen die Kinder einen<br />

hellen und ruhigen Ort, sie benötigen<br />

Hilfsmittel zum Arbeiten. In vielen<br />

Familien ist das nicht selbstverständlich.<br />

32 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Die Eltern tauschen sich aus<br />

und erfahren, wie sie ihren<br />

Familienalltag lernfreundlich<br />

gestalten können.<br />

Es gibt Kinder, die ihre Hausaufgaben in<br />

der dunklen, lauten Küche machen.<br />

Wichtig sind aktive Pausen alle 30 Minuten.<br />

Mit Getränken und Früchten können<br />

die Kinder neue Energie tanken.<br />

Kontraproduktiv ist es, Kinder nach den<br />

Hausaufgaben als Belohnung fernsehen<br />

zu lassen. Das Gelernte hat dann<br />

keine Möglichkeit, im Langzeitgedächtnis<br />

gespeichert zu werden. Ausserdem<br />

wird das Einschlafen behindert. Und für<br />

Leistungsfähigkeit ist ausreichend<br />

Schlaf wichtig.<br />

Konkrete Anregungen<br />

So kann man mit einfachen Strukturen<br />

viel zum Lernerfolg der Kinder beitragen.<br />

Dazu zählt auch das Frühstück vor<br />

Schulbeginn und ein Ritual wie die<br />

tägliche Gutenachtgeschichte. In meinem<br />

Vortrag gebe ich den Eltern<br />

nicht nur Anregungen, wie sie zuhause<br />

das Lernen ihrer Kinder fördern können.<br />

Ich spreche übers Lernen allgemein,<br />

über Entwicklungsschritte von Kindern,<br />

über Lernmotivation und darüber, wie<br />

wichtig es ist, sich regelmässig Zeit für<br />

die Kinder zu nehmen. Kinder sind<br />

erfolgreicher in der Schule, wenn sich<br />

die Eltern für diese interessieren und dem<br />

Kind zeigen, dass Schule wichtig ist –<br />

indem sie an Elternabenden teilnehmen,<br />

bei Schulfesten mitmachen und mit<br />

dem Kind über seinen Schultag sprechen.<br />

Ich schaffe es schnell, dass sich<br />

die Eltern öffnen und von sich erzählen.<br />

Mein Migrationshintergrund gibt mir<br />

Glaubwürdigkeit und Legitimität. Ich<br />

begegne den Eltern auf Augenhöhe. Eine<br />

Frage, die viele Eltern mit Migrationshintergrund<br />

beschäftigt, ist die Sprache:<br />

Sollen sie mit den Kindern Deutsch oder<br />

die Muttersprache sprechen Ich rate<br />

ihnen zur Muttersprache, kombiniert mit<br />

der Nutzung von Schul- und Freizeitangeboten,<br />

in denen die Landessprache<br />

gesprochen wird. So können die Kinder<br />

sich mit ihren kulturellen Wurzeln<br />

auseinandersetzen. Und indem sie sehr<br />

unterschiedliche Sprachstrukturen<br />

kennenlernen, werden sie kognitiv angeregt.<br />

Nach dem Vortrag kommen viele<br />

Eltern zu mir und bedanken sich. Auch<br />

wenn die Inhalte nicht immer für alle<br />

neu sind, schätzen sie die Austauschmöglichkeiten<br />

mit anderen Familien. Sie<br />

erfahren Bestätigung und sehen, dass sie<br />

mit gewissen Herausforderungen nicht<br />

allein sind. Daneben gibt es auch<br />

viele Eltern, die an diesen Abenden mit<br />

zahlreichen Aha-Erlebnissen nach<br />

Hause gehen. Gerade Migranten, die<br />

noch nicht lange in der <strong>Schweiz</strong> leben,<br />

brauchen Basisinformationen zum<br />

Schulsystem, die für Menschen, die in<br />

der <strong>Schweiz</strong> aufgewachsen sind, ganz<br />

normal sind.<br />

Praxisnahe Tipps<br />

Es macht mir viel Freude, die Eltern mit<br />

praktischen Tipps zu unterstützen.<br />

Das mache ich immer ‹interkulturell<br />

angepasst›. Denn die Kultur prägt<br />

alles im Menschen – Erziehungsideen,<br />

Lern- und Verhaltensstile. So jongliere<br />

ich ständig mit der Interkulturalität:<br />

Ich berücksichtige die Kommunikationsstile<br />

und die Wertesysteme der Eltern.<br />

Ich passe meine Inhalte didaktischmethodisch<br />

an und versuche, mich in<br />

ihre Situation hineinzuversetzen. Es<br />

ist mir wichtig, dass alle Eltern verstehen,<br />

worum es geht. Dabei helfen<br />

auch – wenn sie in die Elternveranstaltungen<br />

miteinbezogen sind – die<br />

interkulturellen Vermittler, die kulturnah<br />

übersetzen und Diskussionen in<br />

der eigenen Muttersprache moderieren.<br />

Jorge Montoya-Romani<br />

Jorge Montoya-Romani ist als selbstständiger<br />

Berater und Erwachsenenbilder im Bereich<br />

‹Interkulturelles Lernen› tätig. Zurzeit arbeitet<br />

der Psychopädagoge und Erziehungssoziologe<br />

als Projektleiter bei der Fachstelle für<br />

Integrationsfragen des Kantons Zürich, als<br />

Elternbilder bei der Elternbildung des Kantons<br />

Zürich, als Schulpsychologe bei der Lernpraxis<br />

in Zürich-Seefeld, als Sozialberater beim<br />

Pfarramt St. Franziskus in Zürich-Wollishofen<br />

und als Referent für Elternbildung CH.<br />

www.montoya-romani-intercultural.ch<br />

33


Ein Zentrum für<br />

die Bildung<br />

Frühförderung, Elternbildung und Lernbegleitung für<br />

Primarschüler: Das Bildungs-Café des Vereins<br />

Bildungsmotor setzt sich für Chancengerechtigkeit im<br />

Zürcher Stadtteil Altstetten ein.<br />

34 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Text / Nadine Fieke<br />

Als schon beim ersten Ausflug zur Kinder-<br />

Universität 20 neugierige Schüler an<br />

der Haltestelle Farbhof warteten, wussten<br />

die Verantwortlichen des Vereins Bildungsmotor:<br />

Es ist wichtig, sich für die<br />

ausserschulische Bildungsförderung<br />

in Zürich-Altstetten zu engagieren. Der<br />

Verein hatte sich gerade erst gegründet,<br />

der Begleitservice zur Kinder-Universität<br />

Zürich war sein erstes Projekt.<br />

«Wir wollten den Kindern eine neue Welt<br />

der Bildung eröffnen», erinnert sich<br />

Vorstandsmitglied Julia Schneider. Die<br />

Kinder sollten sich mit wissenschaftlichen<br />

Fragen auseinandersetzen können,<br />

sie sollten Einblicke in das universitäre<br />

Leben erhalten. Sie sollten entdecken,<br />

dass Bildung spannend ist und Spass<br />

macht. «Viele Altstetter Kinder sind von<br />

dem Angebot ausgeschlossen, weil sie<br />

den Weg zur Uni Irchel nicht allein auf<br />

sich nehmen können», erklärt Julia<br />

Schneider. «Ihre berufstätigen Eltern<br />

können sie nicht begleiten.»<br />

Hilfe bei den Hausaufgaben: Studierende<br />

stehen den Schülern im Lernraum bei Fragen<br />

zur Seite. Viele von ihnen haben wie die<br />

Kinder einen Migrationshintergrund – und<br />

damit eine Vorbildfunktion.<br />

Beitrag zur Chancengerechtigkeit<br />

Doch um wirklich einen Beitrag zur<br />

Chancengerechtigkeit in der Bildung zu<br />

leisten, war sich der Verein bewusst,<br />

musste er mehr auf die Beine stellen<br />

als einen Begleitservice zur Kinder-<br />

Universität. Denn die Herausforderungen<br />

im Zürcher Stadtteil Altstetten<br />

gründen viel tiefer: Dort leben viele sozial<br />

benachteiligte Familien, viele von ihnen<br />

haben einen Migrationshintergrund.<br />

«Oft können die Eltern ihre Kinder in<br />

schulischen Fragen nicht begleiten»,<br />

weiss Julia Schneider. Aus sprachlichen<br />

Gründen, aus zeitlichen oder weil<br />

ihnen das <strong>Schweiz</strong>er Schulsystem nicht<br />

oder zu wenig vertraut ist. «Damit<br />

36 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Bevor der Lern-Raum an der Altstetterstrasse<br />

renoviert wird, können die Kinder die<br />

Wände anmalen. Immer wieder bietet das<br />

Bildungs-Café Kreativ- und Bildungsangebote<br />

über schulische Themen hinaus an.<br />

können die Kinder aufgrund ihrer<br />

familiären Umstände ihr Potenzial oft<br />

nicht entfalten.»<br />

So eröffnete der Bildungsmotor<br />

2007 seinen ersten ‹Lern-Raum› zur<br />

Hausaufgabenbetreuung für Primarschüler.<br />

2011 folgte der zweite. Der Verein<br />

organisierte eine Matheförderung<br />

für Kleingruppen. Er begann, jährliche<br />

Bildungsevents für Schulklassen im<br />

Quartier anzubieten. Er entwickelte Trainings<br />

für Eltern, die ihnen zeigen,<br />

wie sie ihre Kinder auch ohne Kenntnisse<br />

des Schulstoffs unterstützen<br />

können. Jetzt konnte der Verein unter<br />

anderem mit Unterstützung der Jacobs<br />

Foundation und der <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> seinen nächsten wichtigen<br />

Entwicklungsschritt machen: Er hat das<br />

‹Bildungs-Café› gegründet – ein Zentrum<br />

für Frühförderung, Elternbildung<br />

und Lernbegleitung. «Das Bildungs-<br />

Café soll ein offener Raum der Bildung<br />

für Kinder und Eltern aus dem Quartier<br />

werden», erzählt Julia Schneider. Sie<br />

ist stolz auf die Entwicklung des Vereins,<br />

den sie 2005 zusammen mit dem Hauptinitiator<br />

Oliver Dlabac ˇ gegründet und<br />

gemeinsam mit befreundeten Studierenden<br />

aufgebaut hat: «Künftig können wir<br />

Familien von Anfang an bis zum Oberstufenübertritt<br />

begleiten. Solch ein<br />

umfassendes Förderkonzept ist neu in<br />

der <strong>Schweiz</strong>.»<br />

Besuch im Lern-raum<br />

Die Schule ist aus. Immer mehr Kinder<br />

kommen in die zwei Lern-Räume in<br />

Zürich-Altstetten. Sie suchen sich einen<br />

Platz, packen ihre Schulsachen aus und<br />

beginnen mit ihren Hausaufgaben.<br />

Zwischendurch wird gequatscht, gelacht.<br />

Die Atmosphäre ist locker – und das soll<br />

sie auch sein: «Wir möchten die Kinder<br />

schliesslich zum Lernen motivieren»,<br />

betont Piera Maggi. Sie ist im Vorstand<br />

des Bildungsmotors für die Lern-Räume<br />

verantwortlich. An diesem Dienstag betreut<br />

sie zusammen mit zwei Studierenden<br />

die Kinder im ‹Lern-Raum 1› an<br />

der Altstetterstrasse 118, dem künftigen<br />

Zentrum des Bildungs-Cafés.<br />

Wünsche, Sorgen und Bedürfnisse ab.<br />

Das wird sehr geschätzt», sagt Piera<br />

Maggi.<br />

Aufgabenhilfe und Treffpunkt<br />

40 Schüler kommen zwei bis drei Mal in<br />

der Woche nach der Schule in die<br />

Lern-Räume. Manche Kinder werden<br />

von ihren Eltern geschickt. Andere<br />

«Bildung ist der Schlüssel, damit<br />

Kinder sich frei entwickeln. Wir<br />

zeigen ihnen ihr Potenzial auf und<br />

machen ihnen Mut, dass sie trotz<br />

nachteiliger Umstände aus eigener<br />

Kraft etwas erreichen können.»<br />

Julia Schneider, Bildungsmotor<br />

Welche Aufgaben musst du machen<br />

Hast du die Fragen verstanden Müssen<br />

wir für eine Prüfung ein Thema vertiefen<br />

Piera Maggi und die beiden Studierenden<br />

gehen auf die einzelnen<br />

Kinder zu, sie stehen ihnen bei Fragen<br />

zur Verfügung. Sie nehmen sich Zeit,<br />

setzen sich zu den Kindern an den Tisch<br />

und helfen weiter. «Der Lern-Raum<br />

ist kein Nachhilfeangebot», unterstreicht<br />

Piera Maggi. Es gehe vielmehr darum,<br />

den Kindern die Unterstützung und<br />

Lernbegleitung zu bieten, die viele von<br />

ihnen zuhause nicht haben. Alle sechs<br />

Monate suchen die Betreuer der<br />

Lern-Räume den Austausch mit den<br />

Eltern, um über die Lernentwicklungen<br />

der Kinder zu sprechen und ihnen<br />

Tipps für die Lernbegleitung zuhause zu<br />

geben. «Wir holen bei den Eltern auch<br />

kommen auf Empfehlung ihrer Lehrer.<br />

Und wieder andere kommen zusammen<br />

mit ihren Freunden. «Für die Kinder<br />

ist der Lern-Raum mehr als eine Aufgabenhilfe»,<br />

erklärt Piera Maggi. «Es<br />

ist ein Treffpunkt.» Es gibt Kinder, die<br />

schon seit mehreren Jahren von den<br />

Studierenden betreut werden. Einige<br />

kommen nur für eine kurze Zeit, weil sie<br />

einen kleinen Anstupser zur Lernmotivation<br />

und Lernorganisation brauchen.<br />

«Die Lern-Räume sind inzwischen gut<br />

etabliert», freut sich Piera Maggi.<br />

Der Kontakt zu den Lehrpersonen im<br />

Quartier ist gut. Die Mund-zu-Mund-<br />

Propaganda sorgt dafür, dass ständig alle<br />

40 Plätze besetzt sind.<br />

Zwei Mal im Jahr verwandeln sich<br />

die Lern-Räume für einige Wochen in<br />

Wissenslabore, dazu zählten zuletzt eine<br />

37


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Schreibwerkstatt und ein Robotik-Kurs.<br />

Jeweils am Donnerstag vor den Ferien<br />

wird ein ‹Schlusspunkt› gesetzt: Die<br />

Studierenden sind dann mit den Kindern<br />

in Zürich unterwegs – mal auf dem<br />

Bauernhof, mal im Kunstmuseum, im<br />

Forschungslabor… Vor den Sportferien<br />

konnten die Kinder den Lern-Raum 1<br />

umgestalten. Bevor dieser renoviert wird,<br />

haben sie mit Farben Unterwasserwelten<br />

an die Wände gezaubert. «Wir<br />

möchten Bildung über das Schulische<br />

hinaus bieten», betont Piera Maggi.<br />

Die Kinder sollen selbst etwas ausprobieren,<br />

sie sollen ihren Horizont erweitern,<br />

technisch, künstlerisch und kreativ<br />

tätig werden und so neue Bildungserfahrungen<br />

machen. «So wird unsere<br />

Bildungsvermittlung zu einem attraktiven<br />

Freizeitangebot.»<br />

Professionelle Frühförderung<br />

Die Lern-Räume zeigen bereits jetzt, wie<br />

das Bildungs-Café in Zukunft arbeiten<br />

will: Es soll ein niederschwelliges<br />

Angebot für Familien aus dem Quartier<br />

sein. Im Bildungs-Café fasst der Bildungsmotor<br />

seine bewährten Angebote<br />

für Schüler und Schulen zusammen<br />

und erweitert es um den Frühbereich.<br />

Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> unterstützt<br />

diese Weiterentwicklung in den<br />

Jahren 2012 bis 2015 mit 80 000 Franken.<br />

Im Frühbereich arbeitet das Bildungs-<br />

Café mit dem Zentrum ELCH Altstetten<br />

zusammen, das bereits an zwei Vormittagen<br />

pro Woche eine Kleinkindbetreuung<br />

anbietet. Dieses Angebot<br />

ergänzt der Verein Bildungsmotor künftig<br />

durch eine professionelle Frühförderung.<br />

Eine Früherzieherin fördert die<br />

Kinder in ihrer motorischen, emotionalen<br />

und sozialen Entwicklung. Wenn die<br />

Eltern ihre Kinder abholen, erfahren sie,<br />

welche Fortschritte die Kleinen gemacht<br />

haben – und sie bekommen Tipps, wie<br />

sie ihre Kinder im Alltag fördern können.<br />

Einmal im Monat bietet das Bildungs-<br />

Café zudem Familientische an. Das Angebot<br />

richtet sich nicht nur an Eltern,<br />

auch weitere Familienangehörige und<br />

familiennahe Personen wie die Tagesmutter<br />

oder Babysitterin können daran<br />

teilnehmen. Mit der Früherzieherin<br />

und einer interkulturellen Vermittlerin<br />

üben sie ein, wie sie den Kindern<br />

wertvolle Lernerfahrungen ermöglichen<br />

können. Die Teilnehmer der Familientische<br />

sprechen über wichtige Fragen der<br />

Früherziehung und tauschen sich aus.<br />

In einer Pilotphase konnte der Bildungsmotor<br />

bereits erste Erfahrungen<br />

mit dem Frühförderangebot sammeln:<br />

Eine Expertin hat das ‹Hüeti-Mütter-<br />

Team› des Zentrums ELCH Altstetten<br />

geschult. Sie hat sie für wichtige Aspekte<br />

der motorischen und sozio-emotionalen<br />

Entwicklung der Kinder sensibilisiert,<br />

Hinweise zu den Spielsachen der Kleinkinderhüte<br />

und zur räumlichen Gestaltung<br />

gegeben. Es fanden zum Test<br />

auch erste Familientische statt. «Die<br />

Familientische sind gut angekommen»,<br />

freut sich Julia Schneider. «Die Evaluation<br />

hat gezeigt, dass ein Bedürfnis<br />

auf Seiten der Eltern da ist.» Nun wird<br />

das Konzept für die Frühförderung<br />

konkretisiert – im Laufe des Jahres 2013<br />

soll das Angebot starten. Das Team<br />

des Bildungs-Cafés ist überzeugt: Wenn<br />

Eltern und Frühförderpersonen eng<br />

zusammenarbeiten, kann man mit wenig<br />

Aufwand viel für die Entwicklung der<br />

Kinder erreichen. «Und das hilft ihnen<br />

später bei einem erfolgreichen Schulstart»,<br />

erklärt Julia Schneider.<br />

Bildungs-Café<br />

Das Bildungs-Café ist ein offener Raum der<br />

Bildung für Kinder und Eltern in Zürich-<br />

Altstetten. Im Zentrum steht der Bildungserfolg<br />

der Kinder: Vom Babyalter bis<br />

zum Übertritt in die Oberstufe bietet das<br />

Bildungs-Café eine anregende Lernumgebung.<br />

Die Angebote konzentrieren<br />

sich auf drei Bereiche:<br />

— Frühbereich (neu): Kinderhüte mit<br />

Frühförderung, Familientisch<br />

— Schulalter: Lern-Raum und Wissenslabor,<br />

Begleitung zur Kinder-Universität Zürich,<br />

Matheförderung in Kleingruppen<br />

— Schulen: Bildungsevent, Elterntraining,<br />

Projektwoche<br />

www.bildungs-cafe.ch<br />

38 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Wege zum Erfolg<br />

In europäischen Städten wächst aufgrund der Zuwanderung<br />

die soziale und kulturelle Vielfalt. In der<br />

öffentlichen Wahrnehmung werden Kinder mit<br />

Migrationshintergrund oftmals mit sozialen Problemen,<br />

Identitätskrisen und Schulschwierigkeiten<br />

gleichgesetzt. Doch tatsächlich haben viele von ihnen<br />

Erfolg. Bis jetzt haben Migrationswissenschaftler<br />

hauptsächlich Eingliederungslaufbahnen zwischen<br />

Immigrantengruppen verglichen; weniger Aufmerksamkeit<br />

fanden Unterschiede innerhalb von Immigrantengruppen.<br />

Was Einwandererkinder anbelangt,<br />

so ist es falsch, diese zu ignorieren. Denn innerhalb<br />

von Einwanderergruppen nehmen die Unterschiede<br />

zu. Während bis vor 15 Jahren vor allem<br />

schulisch wenig qualifizierte Personen in die <strong>Schweiz</strong><br />

eingewandert sind, nutzen ihre Kinder die Ausbildungs-<br />

und Berufsmöglichkeiten ihrer neuen Heimat.<br />

Der berufliche und schulische Werdegang der Kinder<br />

von (Arbeits-) Migranten unterscheidet sich immer<br />

häufiger von dem ihrer Eltern, die auf dem Arbeitsmarkt<br />

eine relativ homogene Gruppe bilden: Es gibt<br />

eine schnell wachsende Zahl erfolgreicher Kinder<br />

von Migranten. Das Potenzial dieser zweiten Generation<br />

wird noch viel zu wenig beachtet.<br />

Karrieren von Einwandererkindern<br />

Das <strong>Schweiz</strong>erische Forum für Migrations- und<br />

Bevölkerungsstudien der Universität Neuchâtel<br />

möchte in seiner aktuellen Studie ‹Pathways to<br />

Success› aufzeigen, welche Faktoren den Bildungsund<br />

Karriereerfolg von Immigrantenkindern<br />

beeinflussen. Solch ein ressourcenorientierter Ansatz<br />

ist neu in der <strong>Schweiz</strong>. Die meisten Forschungsprojekte<br />

untersuchen bisher kaum den Zusammenhang<br />

zwischen Bildungsmöglichkeiten, einem<br />

bestimmten städtischen Umfeld oder Gemeindestrukturen<br />

und dem sozialen Aufstieg der Kinder von<br />

Einwanderern. ‹Pathways to Success› nimmt genau<br />

diese Aspekte mit einem kombinierten qualitativen<br />

und quantitativen Ansatz in den Blick. Das<br />

Projekt analysiert den von aufstrebenden Jugendlichen<br />

mit türkischer und balkanischer Herkunft<br />

beschrittenen Weg zum Erfolg in der <strong>Schweiz</strong>er<br />

Agglomeration von Zürich, Basel und Genf.<br />

Drei Projektteile<br />

Das Forschungsprojekt ist im Januar 2013 gestartet,<br />

der Abschluss ist für 2015 geplant. Konkret besteht<br />

die Studie ‹Pathways to Success› aus drei Teilen:<br />

— Die quantitative Analyse stützt sich auf Datenmaterial<br />

des Projekts TIES (The Integration of<br />

European Second Generation). Sie untersucht, wie<br />

kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital<br />

die erfolgreiche Entwicklung von Jugendlichen beeinflusst.<br />

Als Erfolgskriterien gelten: ein hohes<br />

Mass an Bildung, ein hohes Einkommen und ein<br />

hohes öffentliches Engagement.<br />

— Eine qualitative Analyse konzentriert sich in<br />

einem zweiten Forschungsteil auf die Prozesse,<br />

die beim sozialen Aufstieg und in individuellen Karrieren<br />

eine Rolle spielen. Mit Hilfe von ausführlichen<br />

Interviews möchte dieser Forschungsteil<br />

helfen zu verstehen, welche Strategien und Mittel es<br />

Jugendlichen aus bildungsfernen Familien ermöglichen,<br />

Hindernisse zu überwinden und hoch angesehene<br />

Positionen in der Gesellschaft zu erreichen.<br />

— Im dritten Teil werden die <strong>Schweiz</strong>er Resultate<br />

in einen internationalen Zusammenhang gesetzt.<br />

Dies ist möglich, da die Studie mit entsprechenden<br />

Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und<br />

den Niederlanden verknüpft ist, die nach demselben<br />

Forschungsdesign verfahren. Das <strong>Schweiz</strong>er Team<br />

konzentriert sich auf Vergleiche hinsichtlich der Miteinbeziehung<br />

der Familie und der Mobilisierung<br />

von sozialem Kapital in den vier Ländern.<br />

Förderung der Integration<br />

Die Studie möchte dazu beitragen, den negativen<br />

Blick auf Migranten in der <strong>Schweiz</strong> zu korrigieren.<br />

Indem sie ein positives Bild von Migrantenkindern<br />

zeigt, kann sie dazu beitragen, dass die Integration<br />

von den Einwanderern und vom Aufnahmeland<br />

zuversichtlich angegangen wird. Die Analyse<br />

der Erfahrungen und Strategien erfolgreicher Einwandererkinder<br />

hilft dabei, Integrationsprozesse<br />

besser zu verstehen. Die Ergebnisse können bei einer<br />

weitsichtigen Integrationspolitik helfen und Wege<br />

aufzeigen, wie der schulische und berufliche Erfolg<br />

von Immigrantenkindern gefördert und ihr Potenzial<br />

besser genutzt werden kann. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> unterstützt die Studie mit 302 000 Franken.<br />

Text / Dr. Rosita Fibbi. Die Wissenschaftlerin des <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien<br />

an der Universität Neuchâtel leitet das Projekt ‹Pathways to<br />

Success›. rosita.fibbi@unine.ch<br />

39


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

Lebensraum,<br />

Freiraum, Lernraum<br />

Kinder und Jugendliche nehmen den öffentlichen Raum<br />

ganz selbstverständlich ein. Das geschieht nicht immer<br />

ohne Konflikte. Mit einer aktiven Betreuung macht<br />

das Projekt Platz:Box der <strong>Stiftung</strong> idée:sport öffentliche<br />

Plätze für sie nutzbar. Text / Robert Schmuki<br />

Erfolgreich übernehmen Jugendliche in den Sporthallen-Projekten von idée:sport Leitungsaufgaben.<br />

Auch für das Projekt Platz:Box ist das Engagement von ‹Juniorcoachs› zentral.<br />

Aussenräume gewinnen immer mehr an<br />

Bedeutung. Nicht nur Kinder und Jugendliche<br />

treffen ihre Freunde an öffentlichen<br />

Plätzen, um gemeinsam etwas zu<br />

unternehmen. Immer mehr nutzen auch<br />

Erwachsene öffentliche Räume. Man<br />

spricht von einer Mediterranisierung der<br />

Gesellschaft, der öffentliche Raum wird<br />

vermehrt zur Piazza. Der Aussenraum ist<br />

Lebensraum – und gerade für Kinder<br />

und Jugendliche ein wichtiger Freiraum:<br />

Er ist ein Ort für soziale Kontakte,<br />

ein Ort der Bewegung. Er ist Fluchtort<br />

aus der sozialen Kontrolle von Familie<br />

und Arbeitsplatz oder aus beengten<br />

Wohnverhältnissen. Der Aussenraum ist<br />

für Kinder und Jugendliche auch ein<br />

Experimentierort, um Grenzen auszuloten<br />

und auszuhandeln. Ganz automatisch<br />

setzen sie sich im öffentlichen Raum<br />

mit Regeln des demokratischen Zusammenlebens<br />

auseinander. Und damit<br />

wird der Aussenraum für sie ein wichtiger<br />

Lernraum, ein bedeutender Ort für<br />

ihre persönliche Entwicklung und gesellschaftliche<br />

Integration.<br />

Doch entgegen dieser Bedürfnisse<br />

gingen in den vergangenen 50 Jahren<br />

viele öffentliche Plätze an den fahrenden<br />

und stehenden Verkehr verloren. Und<br />

die vom Zeilenbau dominierten Neubaugebiete<br />

versagen gerade in der Schaffung<br />

brauchbarer Quartierplätze. Diese<br />

Entwicklungen führen zu einem enormen<br />

Nutzungsdruck auf die letzten verbliebenen<br />

Orte: Speziell Kinder und<br />

Jugendliche machen sich Pausenanlagen,<br />

Eingangsbereiche von Geschäften,<br />

Bus- und Zugstationen, Parkanlagen und<br />

40 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


die Fluss- und Seeufer ganz selbstverständlich<br />

zu allen Tages- und Abendzeiten<br />

zu eigen. Das bleibt nicht ohne Konflikte.<br />

Viele Gemeinden klagen über Lärm,<br />

Vandalismus und Ängste von Anwohnern.<br />

Die politische Reaktion ist normalerweise<br />

restriktiv. Videoanlagen<br />

werden montiert, Sicherheitspersonal<br />

mit Hunden räumt die Plätze oder<br />

diese werden schlicht eingezäunt und<br />

damit geschlossen.<br />

Öffentliche Plätze<br />

Mit ihrem neuen Projekt Platz:Box<br />

möchte die <strong>Stiftung</strong> idée:sport öffentliche<br />

Plätze für Kinder und Jugendliche<br />

konfliktfrei nutzbar machen; aber<br />

auch Mütter mit Kleinkindern und<br />

Senioren sollen in Zukunft von diesem<br />

Angebot profitieren. Ziel ist die Entwicklung<br />

eines niederschwelligen<br />

Aussenraum-Betreuungskonzepts, das<br />

auch für mittlere und kleinere Gemeinden<br />

realisier- und finanziell tragbar<br />

ist. Als grösster Anbieter von offenen<br />

Kinder- und Jugendtreffpunkten in der<br />

<strong>Schweiz</strong> blickt idée:sport auf langjährige<br />

Erfahrungen zurück, die sie für das<br />

Aussenraumprojekt nutzen kann: In<br />

rund 150 Stadtquartieren und Gemeinden<br />

der <strong>Schweiz</strong> öffnet die <strong>Stiftung</strong><br />

jede Woche Turnhallen zum freien Spiel.<br />

Über 110 000 Kinder und Jugendliche<br />

nahmen 2012 am Jugendprojekt Midnight<br />

Sports und am Kinderangebot Open<br />

Sunday teil.<br />

Vorbild für Platz:Box ist die Entwicklung<br />

der Zürcher Bäckeranlage<br />

zu einem breit genutzten öffentlichen<br />

Raum: Noch Ende der 1990er Jahre<br />

war diese einzige Grünfläche im Zürcher<br />

Helvetiaplatz-Quartier von der Alkoholund<br />

Drogenszene besetzt, heute ist sie eine<br />

der beliebtesten Grünflächen der Stadt<br />

Zürich. Möglich wurde dies durch eine<br />

kombinierte Aktion: Auf der einen<br />

Seite wurde ein Parkrestaurant bereitgestellt,<br />

auf der anderen Seite wurde die<br />

SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention<br />

– ein Team aus Sozialarbeitenden, das<br />

in Uniform auftritt und auch weisende<br />

Befugnisse hat) geschaffen, um mit<br />

den Nutzern Nutzungsregeln auszuhandeln<br />

und durchzusetzen. Das Projekt<br />

Platz:Box nutzt dieses Modell für ein viel<br />

bescheideneres Konzept, das auf eine<br />

enge Zusammenarbeit mit den lokalen<br />

Akteuren baut, damit langfristig gesicherte,<br />

nachhaltig wirkende Angebote<br />

entstehen können.<br />

Eine Box und ein grosses Team<br />

Mit der Unterstützung der <strong>Stiftung</strong><br />

<strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> in Höhe von 274 700<br />

Franken ist es idée:sport möglich, im<br />

Sommer 2013 parallel an zwei Standorten<br />

in der Deutschschweiz mit dem<br />

Aussenraumprojekt zu starten. Herzstück<br />

jedes Projekts ist eine ‹Box› –<br />

ein kleiner, kioskartiger Bau, der auf<br />

einem Platz aufgestellt wird. Die<br />

Box ist Ausgabeort von Spielmaterial,<br />

von Getränken und sie ist eine einfache<br />

Werkstatt. Betriebszeiten sind die<br />

«Haben Kinder und Jugendliche die<br />

Möglichkeit, ihren Aussenraum<br />

mitzugestalten, werden sie in einer<br />

wichtigen Erkenntnis gestärkt:<br />

Ich kann etwas bewirken!»<br />

Robert Schmuki, <strong>Stiftung</strong> idée:sport<br />

Spitzenzeiten der öffentlichen Platznutzung:<br />

Mittwoch-, Samstag- und Sonntagnachmittag<br />

von 13 bis 18 Uhr und<br />

Freitag- und Samstagabend von 18 bis 23<br />

Uhr. Zu diesen Zeiten ist ein Platzteam<br />

vor Ort: einer bis zwei Hauptverantwortliche,<br />

mitarbeitende Jugendliche und<br />

Senioren sowie Freiwillige aus dem Quartier.<br />

Im Zentrum der Arbeit des Teams<br />

stehen die Raumbetreuung, die Vermittlung<br />

bei Nutzungskonflikten und die<br />

Animation zum Spiel.<br />

JUGENDLICHE IM E<strong>IN</strong>SATZ<br />

Das Engagement von Jugendlichen, den<br />

‹Juniorcoachs›, ist zentral für das Projekt.<br />

Diese sind auch in allen Midnight-<br />

Sport- und Open-Sunday-Projekten<br />

mit Leitungsaufgaben im Einsatz – ein<br />

Ansatz, der schon mehrere wichtige<br />

Auszeichnungen wie den Pestalozzi-Preis<br />

2012 erhalten hat. Juniorcoachs wer -<br />

den in Kursen auf ihre Rolle vorbereitet,<br />

sie werden von den Projektverantwortlichen<br />

in ihre Aufgaben eingeführt,<br />

begleitet und korrigiert. Ihre Arbeitsbestätigungen<br />

und Zeugnisse können sie<br />

schliesslich für die Lehrstellensuche<br />

einsetzen. Die Jugendlichen übernehmen<br />

auch im Projekt Platz:Box Verantwortung.<br />

Solch ein Engagement ist nicht<br />

nur für sie als Person eine bedeutende<br />

Erfahrung, sondern auch für die<br />

Entwicklung einer demokratischen<br />

Gesellschaft wichtig.<br />

Das Pilotprojekt ist auf zwei Sommer<br />

ausgerichtet. Im Herbst 2013 werden die<br />

ersten Erfahrungen zur Verfügung<br />

stehen. Die Pilotphase soll viele offene<br />

Fragen beantworten: Arbeiten Jugendliche<br />

und Erwachsene, Profis und freiwillige<br />

Mitarbeitende im Aussenraum gut<br />

in einem Team zusammen Wie gut werden<br />

die Juniorcoachs von den erwachsenen<br />

Besuchern akzeptiert Wie reagieren die<br />

Anwohner Kann man sie für das Anliegen<br />

gewinnen Entwickelt sich der Platz<br />

langsam zum erhofften angenehmen<br />

Freiraum Und wenn ja, wie lange dauert<br />

ein solcher Prozess Wie gestalten sich<br />

die Kernprobleme Lärm, Littering und<br />

Vandalismus Wie sicher fühlen sich<br />

die Nutzer Wenn die Erfahrungen nach<br />

dem Pilot positiv sind, wenn die Ziele<br />

auf lokaler Ebene erreicht werden, soll<br />

Platz:Box an diesen Orten möglichst<br />

weitergeführt werden. Auf eine strukturelle<br />

Verankerung des Projekts wird<br />

von Anfang an hingearbeitet. Darüber<br />

hinaus möchte idée:sport sein gewonnenes<br />

Know-how weiteren Gemeinden<br />

zugänglich machen und diese beim Aufbau<br />

solcher Projekte unterstützen.<br />

Robert Schmuki ist Gründer und<br />

Geschäftsleiter der <strong>Stiftung</strong> idée:sport.<br />

robert.schmuki@ideesport.ch,<br />

www.ideesport.ch<br />

41


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

42 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Ein wichtiger<br />

Schritt in<br />

die Arbeitswelt<br />

Es gibt Jugendliche, die Mühe in der Schule haben. Ihnen<br />

möchte das Jugendprojekt LIFT den Schritt ins Berufsleben<br />

erleichtern: Die Schüler sammeln in ihrer Freizeit<br />

wertvolle praktische Arbeitserfahrungen in Betrieben<br />

ihrer Region. So erhalten sie die Möglichkeit, ausserhalb<br />

des Klassenzimmers zu zeigen, was sie können.<br />

Text / NAD<strong>IN</strong>E FIEKE<br />

Langsam kommen die Kühe vom Melken<br />

zurück. Eine Kuh nach der anderen<br />

stellt sich ans Gitter des Stalls und wartet.<br />

Ihr Atem hinterlässt weisse Wolken.<br />

Es ist kalt an diesem Freitag im Februar.<br />

Stefan macht das nichts aus. Warm<br />

eingepackt mit schwarzer Wollmütze und<br />

dickem Vlies verteilt er das Futter vor<br />

den feuchten Mäulern der Tiere. «Ich bin<br />

gerne draussen», sagt der begeisterte<br />

Pfadfinder. Deshalb freute er sich, als er<br />

gehört hat, dass ein Landwirt beim<br />

Jugendprojekt LIFT (Leistungsfähig durch<br />

individuelle Förderung von praktischer<br />

Tätigkeit) mitmacht und Schülern<br />

der Sekundarschule Glattfelden Arbeitseinsätze<br />

auf seinem Hof ermöglicht.<br />

Drei Monate hat Stefan bereits bei einem<br />

Schreiner gearbeitet, jetzt kümmert<br />

er sich drei Monate lang um die Kühe<br />

von Familie Maag in Schachen bei<br />

Glattfelden (ZH). Zwei Mal in der Woche<br />

kommt der 14-Jährige für insgesamt<br />

drei Stunden vorbei. Immer zur Fütterungszeit<br />

am frühen Abend.<br />

Für einen kurzen Moment hält<br />

Stefan inne. Die erste Futterschicht<br />

hat er sorgfältig verteilt. Die Kühe schauen<br />

das gehäckselte Gras mit grossen<br />

Augen an. Doch ans Fressen denkt keine.<br />

Erst als Stefan die zweite von insgesamt<br />

vier Schichten aufträgt, stecken die<br />

Tiere ihre Köpfe durch das Gitter und<br />

beginnen zu kauen. Stefan schmunzelt:<br />

«Das ist immer so.» Diesen zweiten<br />

Futterbestandteil – Emd, ein spezieller<br />

Heutyp – scheinen die Kühe am liebsten<br />

zu essen. Stefan fügt noch Salz und<br />

Mais hinzu, bevor er die warme Milch<br />

für die Kälber holt. «Es macht mir Spass,<br />

mit den Tieren zu arbeiten», sagt der<br />

Sekundarschüler. Doch sein Berufswunsch,<br />

erzählt er, ist ein anderer: «Ich<br />

möchte Forstwart werden.» Auf dieses<br />

Ziel arbeitet Stefan hin. Deshalb nimmt<br />

er an LIFT teil. «Das Programm ist<br />

hilfreich für Schüler, die Probleme in<br />

der Schule haben», sagt Stefan.<br />

Frühzeitige Förderung<br />

Seit dem Schuljahr 2011/2012 ist die<br />

Sekundarschule Glattfelden LIFT-Standort<br />

– einer von inzwischen 68 in der<br />

ganzen <strong>Schweiz</strong> (Stand Frühjahr 2013).<br />

«Wir haben festgestellt, dass es für<br />

einzelne Schüler nicht einfach ist, nach<br />

der obligatorischen Schulzeit eine<br />

berufliche Anschlusslösung zu finden»,<br />

erklärt Schulleiter Beat Verhein. Um<br />

diese Schüler frühzeitig zu unterstützen<br />

und gezielt auf den Berufseinstieg<br />

vorzubereiten, hat sich die Schule entschlossen,<br />

das Programm des Netzwerks<br />

für sozialverantwortliche Wirtschaft<br />

(NSW) einzuführen. Das war 2010. Die<br />

Schule hat ein Konzept erarbeitet,<br />

ein LIFT-Team aufgestellt, ein Netzwerk<br />

mit der lokalen Wirtschaft aufgebaut.<br />

Ein Jahr später konnten die ersten acht<br />

Schüler ins Programm aufgenommen<br />

werden, unter ihnen war auch Stefan. Im<br />

zweiten Jahr kamen sechs weitere<br />

Jugendliche hinzu. «Das Interesse der<br />

Schülerinnen und Schüler am Projekt<br />

ist höher als erwartet», freut sich<br />

der Schulleiter.<br />

Es nehmen nur Schüler am Programm<br />

teil, die erschwerte Voraussetzungen bei<br />

der Lehrstellensuche haben – sei es,<br />

weil ihre Schulleistungen nicht gut sind,<br />

weil sie Motivationsprobleme oder ein<br />

wenig unterstützendes Umfeld haben. Die<br />

Klassenlehrer machen diese Jugendlichen<br />

auf LIFT aufmerksam, sie suchen<br />

das Gespräch mit den Eltern. Und<br />

entscheiden sich die Schüler dafür, am<br />

Programm teilzunehmen, machen sie<br />

in der 7. und 8. Klasse in der schulfreien<br />

Zeit zwei bis vier Stunden pro Woche<br />

einfache Arbeiten in einem Betrieb der<br />

Region. Dies kann auf einem Bauernhof<br />

sein wie im Fall von Stefan. Andere<br />

Schüler arbeiten zum Beispiel im Blumengeschäft,<br />

beim Elektriker, in einer<br />

Autowerkstatt, im Seniorenheim oder<br />

im Hotelgewerbe. Wichtig ist, dass diese<br />

so genannten Wochenarbeitsplätze<br />

zu den Jugendlichen passen. Das kleine<br />

Taschengeld, das sie verdienen, wirkt<br />

zusätzlich motivierend.<br />

Begleitende Trainingsmodule<br />

Die Arbeitseinsätze dauern in der Regel<br />

drei Monate, insgesamt sind drei vorgesehen.<br />

Einmal in der Woche finden<br />

begleitende Trainingsmodule statt,<br />

in denen die Schüler ihre Wochenarbeitsplätze<br />

reflektieren, ihre Sozial- und<br />

Selbstkompetenzen stärken und sich<br />

auf die Berufswahl vorbereiten. In der<br />

9. Klasse werden die Schüler bei der<br />

Lehrstellensuche unterstützt. «LIFT ist<br />

eine ideale Ergänzung zum üblichen<br />

Berufswahlprozess», sagt Beat Verhein<br />

43


schwerpunkt<br />

Gesellschaftliche Integration<br />

zufrieden. Das Programm geht auf die<br />

besonderen Bedürfnisse der teilnehmenden<br />

Jugendlichen ein und entlastet<br />

so den Klassenlehrer in der Berufswahlvorbereitung<br />

im Regelunterricht. «Zudem<br />

stärken wir die Verbindung zum lokalen<br />

und regionalen Gewerbe.»<br />

Auch wenn er erst auf ein Jahr<br />

Erfahrung mit LIFT zurückblicken kann,<br />

ist der Schulleiter mehr als zufrieden:<br />

«Die Jugendlichen können sich im<br />

Arbeitsumfeld bewähren, sie bekommen<br />

Referenzen für die Lehrstellensuche –<br />

und auch die Persönlichkeit der Jugendlichen<br />

wird gestärkt.» Er beobachtet,<br />

dass die Schüler an Selbstvertrauen und<br />

Sicherheit im Auftreten gewinnen, sie<br />

entdecken ihre Stärken und entwickeln<br />

diese weiter. «Die Jugendlichen sind<br />

mit viel Eifer und auch einem gewissen<br />

Stolz bei der Sache», beobachtet Beat<br />

Verhein. Sie erkennen ihre Chance und<br />

beweisen einen enormen Durchhaltewillen.<br />

Schliesslich opfern sie ihre<br />

schulfreie Zeit. Und auch die Rückmeldungen<br />

der Arbeitgeber sind gut: «Sie<br />

zeigen sich durchs Band erfreut über den<br />

Einsatz der Jugendlichen. Teilweise sind<br />

sie sogar positiv überrascht.»<br />

Praktische Fähigkeiten<br />

Auch Sandro Maag ist mehr als zufrieden<br />

mit seinem LIFT-Schüler. «Stefan ist<br />

eine echte Hilfe», lobt der Landwirt. «Ich<br />

habe ihm nur zwei Mal gezeigt, wie er<br />

das Futter mischen muss. Jetzt arbeitet<br />

er selbstständig.» Stefan ist der erste<br />

LIFT-Schüler auf dem Bauernhof. Die<br />

Familie hat gerne zugesagt, als die<br />

Sekundarschule Glattfelden angefragt<br />

hat, ob sich der Betrieb am Projekt<br />

beteiligen möchte. Das ist eine wichtige<br />

Voraussetzung für Schulen, die das<br />

Projekt einführen: Sie müssen ausreichend<br />

Unternehmen finden, die<br />

bereit sind, Wochenarbeitsplätze für<br />

Schüler zur Verfügung zu stellen.<br />

Sandro Maag findet das Projekt wichtig.<br />

«Manche Jugendliche finden sich in<br />

der Schule nicht zurecht, aber dafür in<br />

der Arbeitswelt.» Ihnen möchte er die<br />

Chance geben, ihre praktischen Fähigkeiten<br />

unter Beweis zu stellen und<br />

dadurch ihre beruflichen Perspektiven<br />

zu verbessern.<br />

Wo Stefan seinen dritten und<br />

letzten Arbeitseinsatz machen wird, steht<br />

an diesem Februartag noch nicht fest.<br />

Aber er freut sich schon: «Wir bekommen<br />

am Ende des Programms ein Arbeitszeugnis,<br />

das wir unseren Bewerbungen<br />

beilegen können.» Damit möchte er<br />

seinem Berufswunsch einen Schritt näher<br />

kommen. Am Stalleingang hängt der<br />

Bewertungsbogen von Stefan. Pünktlichkeit,<br />

Auftreten, Höflichkeit und Sprache,<br />

Einsatz und Ausdauer, Arbeitstempo,<br />

Arbeitsqualität … überall hat Sandro Maag<br />

dem 14-Jährigen die Bestnote gegeben.<br />

Das verwundert nicht: Auch an diesem<br />

Freitag ist Stefan engagiert bei der Sache.<br />

Jeder Handgriff sitzt. Er hat Spass an<br />

seiner Arbeit und er kümmert sich<br />

professionell um die Tiere. Am Ende des<br />

Tages hat er 22 Kühe, 14 Kälber und<br />

vier Rinder versorgt. Die kauen immer<br />

noch genüsslich vor sich hin, als er<br />

sich verabschiedet.<br />

Kontakt: Jugendprojekt LIFT, Gabriela Walser,<br />

walser.lift@nsw-rse.ch<br />

Nach dem Melken geht’s zur Futterstelle:<br />

Die Kühe warten geduldig darauf, dass<br />

Stefan sie versorgt.<br />

44 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Jugendprojekt LIFT<br />

Zehn bis 15 Prozent der Jugendlichen finden<br />

nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle.<br />

Dieser Herausforderung möchte das Netzwerk<br />

für sozialverantwortliche Wirtschaft mit<br />

dem Jugendprojekt LIFT begegnen: Jugendliche,<br />

die Probleme beim Übergang ins Berufsleben<br />

haben könnten, werden frühzeitig<br />

durch das Programm gefördert. Sie sammeln<br />

praktische Erfahrungen bei wöchentlichen<br />

Arbeitseinsätzen und stärken in begleitenden<br />

Trainingsmodulen ihre Sozial- und Selbstkompetenzen.<br />

Die Erfahrungen machen<br />

deutlich: LIFT zeigt den Jugendlichen neue<br />

Perspektiven auf und erhöht ihre Chancen,<br />

eine Lehrstelle zu finden. In einigen Fällen<br />

ergeben sich auch aus Wochenarbeitsplätzen<br />

Ausbildungsverträge. Nach dem erfolgreichen<br />

Pilotprojekt (2006 bis 2009) in vier<br />

Schulen im Raum Bern und Zürich steht seit<br />

2010 ein LIFT-Kompetenzzentrum in Bern<br />

interessierten Schulen beim Aufbau des<br />

Programms beratend zur Seite. Es vernetzt<br />

die einzelnen LIFT-Standorte, verbreitet<br />

lokale Erfahrungen und stellt für die Trainingsmodule<br />

Materialien zur Verfügung. Das<br />

Bundesamt für Berufsbildung und Technologie<br />

unterstützt das Programm, die <strong>Stiftung</strong><br />

<strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> stellt in den Jahren 2010<br />

bis 2014 insgesamt 380 000 Franken zur<br />

Verfügung.<br />

www.jugendprojekt-lift.ch<br />

www.nsw-rse.ch<br />

Stefan gefällt die Arbeit mit den Tieren – und die Verantwortung, die er hat. Er mischt das<br />

Futter selbstständig und verteilt es in der Mulde vor den hungrigen Mäulern der Kühe.<br />

45


Tätigkeitsbereich<br />

wissenschaft<br />

Ein Beitrag für<br />

die Gesellschaft


Einsatz für notleidende Menschen in Indien:<br />

Bei einer Delegationsreise erfahren Studierende<br />

der Universität Basel, was ihr Projekt in<br />

Kolkata bewirkt.<br />

Unterschiedlicher könnten ihre Projekte<br />

kaum sein: Simon Steiger hat zusammen<br />

mit sieben weiteren Studierenden<br />

das ‹Climate Leaders Lab› auf die Beine<br />

gestellt. Jeremy Nussbaumer organisiert<br />

als Mitglied von ‹ETH MUN› Simulationen<br />

der Vereinten Nationen. Und Nadine<br />

Schalbetter setzt sich beim ‹Calcutta<br />

Project Basel› für notleidende Menschen<br />

in Indien ein. Alle drei studentischen<br />

Projekte hat die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

im Rahmen ihres Förderprogramms<br />

‹Engagier dich!› unterstützt. Was motiviert<br />

Studierende, sich gesellschaftlich<br />

zu engagieren Welche Art von Projekten<br />

stellen sie auf die Beine Und was<br />

möchten sie mit diesen erreichen Die<br />

drei Studierenden geben Einblicke<br />

ins Engagement ihrer Organisationen.<br />

Delegationsreise<br />

nach Indien<br />

Calcutta Project BaseL<br />

Text / Nadine Schalbetter<br />

Indien ist ein Land der Gegensätze. Seit<br />

einigen Jahren gilt der Staat nicht<br />

mehr als Entwicklungs-, sondern als<br />

Schwellenland. Doch vom Fortschritt<br />

profitiert nur ein kleiner Teil der Bevölkerung.<br />

Noch heute leben rund acht<br />

Millionen Menschen an der Armutsgrenze.<br />

Auch Kolkata (Kalkutta) hat zwei<br />

Gesichter – deshalb engagieren wir uns<br />

mit dem ‹Calcutta Project Basel› in<br />

dieser Stadt für notleidende Menschen.<br />

Mit sechs Programmen im Bereich<br />

Prävention und Intervention versuchen<br />

wir die Lebenssituation eines Teils der<br />

Bevölkerung nachhaltig zu verbessern.<br />

So bietet unser Projekt zum Beispiel mit<br />

den beiden Programmen ‹Konika Kindergarten›<br />

und ‹Konika Nightshelter›<br />

Kindern von Prostituierten einen sicheren<br />

Ort und Betreuung, während ihre<br />

Mütter im grössten Rotlichtviertel Ostasiens,<br />

dem Sonagchi, arbeiten.<br />

Bei unserem Besuch vom 30. Januar<br />

bis 12. Februar 2013 konnten wir uns<br />

vor Ort ein Bild von der Zusammenarbeit<br />

mit unserer Partnerorganisation ‹S.B.<br />

Devi Charity Home› machen. Rund 30 Personen<br />

setzen sich hier sechs Tage in<br />

der Woche für Bedürftige in Kolkata ein.<br />

Besonders eindrücklich war unser<br />

Besuch im PHPA (Public Health in the<br />

Prostitute Area). Unsere Mitarbeiter<br />

vor Ort haben in den letzten Jahren eine<br />

vertrauliche Beziehung zu den Prostituierten<br />

aufgebaut. Es herrscht eine<br />

familiäre Atmosphäre bei den Gruppensitzungen<br />

und persönlichen Beratungen,<br />

bei denen die Frauen Informationen<br />

über die korrekte Verwendung von Kondomen<br />

erhalten, aber auch zu Fragen der<br />

Gesundheit und Ernährung. Während<br />

unseres Besuchs haben die Prostituierten<br />

ohne Scheu unsere Fragen beantwortet<br />

und Einblicke in ihr Leben gegeben.<br />

Obwohl es natürlich erstrebenswert<br />

wäre, die Frauen aus diesem Umfeld<br />

herauszuholen, zeigt die Realität, dass<br />

dies nicht so einfach ist. Dennoch versuchen<br />

wir mit unseren Programmen, den<br />

Menschen Hoffnung zu geben und<br />

ihnen eine Stütze im Alltag zu sein. Unsere<br />

Reise gab uns die Möglichkeit, die<br />

Gesichter und Geschichten hinter den abstrakten<br />

Berichten kennenzulernen.<br />

Wir haben einen hautnahen Einblick in<br />

unsere Programme erhalten. Es waren<br />

spannende, intensive, erfreuliche, aber<br />

auch erschreckende Eindrücke, die uns<br />

motivieren, uns weiter für die Menschen<br />

in Kolkata einzusetzen.<br />

Insgesamt engagieren sich 30 Studierende<br />

der Universität Basel für das<br />

Calcutta Project. Ein PR-Team organisiert<br />

47


Tätigkeitsbereich<br />

wissenschaft<br />

Zufrieden stellen sich die Teilnehmer des<br />

Climate Leaders Lab (oben) und die Vertreter<br />

der ETH Zürich an der OxIMUN (unten) zum<br />

Gruppenfoto.<br />

Events wie Indian Partys, Kinoveranstaltungen<br />

oder Standaktionen. Eine Fachkommission<br />

arbeitet mit den indischen<br />

Partnern zusammen. Die Aufgaben<br />

reichen von der Datenerfassung und<br />

Beobachtung der verschiedenen Programme<br />

hin zur jährlichen Evaluation.<br />

Es ist uns wichtig, uns für Menschen<br />

einzusetzen, die nicht in eine solch<br />

privilegierte Welt hineingeboren sind wie<br />

wir. Als Student beschäftigt man sich<br />

viel zu oft nur mit Theorien, Zahlen und<br />

Fakten. Dabei geraten die Menschen<br />

hinter diesen Daten – und vor allem die<br />

Betroffenen – oftmals in Vergessenheit.<br />

Damit man nicht den Boden unter den<br />

Füssen verliert, finde ich es wichtig, über<br />

den Tellerrand der Universität hinauszusehen.<br />

Sei dies mit Hilfe eines Hobbys,<br />

eines Nebenjobs oder mit sozialem<br />

Engagement. Unser Einsatz ermöglicht<br />

uns nicht nur, praktische Erfahrungen<br />

zu sammeln, wir können damit einen<br />

Beitrag zum weltweiten Kampf für<br />

Gerechtigkeit leisten.<br />

Verantwortung<br />

fürs Klima<br />

Climate Leaders Lab, careACT<br />

Text / Simon Steiger<br />

18 Studierende trafen sich im September<br />

2012 vier Tage lang mit Experten<br />

und jungen Unternehmern im ‹Climate<br />

Leaders Lab› auf der Rigi. Ziel der<br />

Veranstaltung war es, Führungskompetenzen<br />

und Fähigkeiten zu vermitteln,<br />

damit die Teilnehmer Verantwortung fürs<br />

Klima übernehmen und in der Gesellschaft<br />

mit gutem Beispiel vorangehen<br />

können. Die lange Planungszeit des<br />

‹Climate Leaders Lab› und die Strapazen<br />

der Organisation gingen in dem Moment<br />

vergessen, als am letzten Tag des<br />

Workshops die tatenfreudigen Teilnehmer<br />

in die Kamera strahlten und<br />

die letzten Experten und Unternehmer<br />

zufrieden mit der Rigibahn talwärts<br />

fuhren. Die durchweg positiven Rückmeldungen<br />

bestätigen, dass wir gemeinsam<br />

einen Schritt in die richtige<br />

Richtung getan haben!<br />

Der Grundstein unserer Organisation<br />

‹careAct› wurde im Herbst 2010<br />

gelegt. Unsere Vision: Wir wollten junge<br />

Erwachsene begeistern, sich für den<br />

Klimaschutz zu engagieren. Diese sollten<br />

wiederum andere für ein Projekt motivieren,<br />

um eine sich selbst verstärkende<br />

Klimaschutz-Lawine loszutreten. Alle<br />

careAct-Gründer sind in der <strong>Schweiz</strong><br />

aufgewachsen. So konnten wir mit eigenen<br />

Augen sehen, wie der Klimawandel<br />

die <strong>Schweiz</strong>er Landschaft zunehmend<br />

verändert hat. Einige von uns haben zudem<br />

im Rahmen des Studiums die<br />

zähen Verhandlungen der Klimagipfel<br />

analysiert oder als Klimawissenschaftler<br />

mit Computer modellen in die Klimazukunft<br />

geschaut. So haben wir auch<br />

mitbekommen, wie schwierig eine durch<br />

die Politik ‹top-down-gesteuerte› Kursänderung<br />

zu erreichen ist. Bei careAct<br />

waren wir uns deshalb einig, dass ein<br />

bedeutender Teil der Klimaproblematik<br />

‹bottom-up› – also von der Bevölkerung<br />

her – gelöst werden muss.<br />

Zielpublikum des ‹Climate Leaders<br />

Lab› waren junge Erwachsene, die<br />

künftigen Entscheidungsträger. Wenn<br />

diese Generation überzeugt ist, dass die<br />

Zukunft einen nachhaltigen Umgang<br />

mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen<br />

erfordert, kann der besagte<br />

‹bottom-up-Mechanismus› greifen. Die<br />

Teilnehmer der Veranstaltung konnten<br />

in verschiedenen Workshops, Referaten<br />

und Gesprächen Einblicke in die<br />

Klimaforschung und Klimapolitik, in<br />

kulturelle Aspekte von Klimaprojekten,<br />

in die Wissenschaftskommunikation<br />

und Projektplanung erlangen. Dieses<br />

Wissen können sie anschliessend in<br />

selbst entwickelten Projekten anwenden.<br />

Das erste Folgeprojekt wird zurzeit<br />

an der Universität Genf umgesetzt, es<br />

möchte Treibhausgasemissionen<br />

des Mensaessens reduzieren. Wir sind<br />

überzeugt, dass individuelle Beiträge<br />

sich summieren und mehrere solcher<br />

Projekte auch grössere Steine ins<br />

Rollen bringen können. Deshalb engagieren<br />

wir uns in unserer studentischen<br />

Organisation careAct.<br />

Eigene Projekte ermöglichen es<br />

Studierenden, sich einem Thema<br />

praktisch zu widmen, das in der Vorlesung<br />

vielleicht nur theoretisch behandelt<br />

wurde. Sie können ihr Wissen und ihre<br />

Werte einem breiteren Publikum weitergeben.<br />

Und noch mehr: Durch ihre<br />

Spritzigkeit, durch ihre Motivation und<br />

ihre Kreativität können Studierende<br />

Nachhaltigkeitsprojekte oder auch Ansätze<br />

zur Lösung der Armutsproblematik<br />

anstossen und durchsetzen. Sie wünschen<br />

sich dafür weder Ruhm noch Lohn –<br />

sie tun es einfach, weil sie von ihren Ideen<br />

überzeugt sind.<br />

48 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Sie möchten Verantwortung fürs Klima übernehmen: Die Teilnehmer des Climate Leaders Lab<br />

setzen sich mit Klimaforschung, Klimapolitik und Projektplanung auseinander.<br />

Simulation von<br />

UNO-Verhandlungen<br />

OxIMUN, ETH Mun<br />

Text / Jeremy Nussbaumer<br />

Wir setzen an der ETH Zürich seit mehreren<br />

Jahren das internationale Konzept<br />

der authentischen Simulation der<br />

Vereinten Nationen um. Dabei übernehmen<br />

Studierende als Delegierte<br />

eines Landes deren (aussen-)politische<br />

Positionen innerhalb eines UN-Gremiums.<br />

Dies geschieht nicht nur an der ETH<br />

Zürich, sondern auch bei weltweiten<br />

MUN-Konferenzen. Die OxIMUN ist eine<br />

der renommiertesten dieser ‹Model<br />

United Nations›-Konferenzen. Sie findet<br />

jährlich mit 500 Teilnehmern in den<br />

beeindruckenden Colleges der Oxford<br />

University in Grossbritannien statt.<br />

Auch dieses Jahr war eine Delegation von<br />

ETH Model United Nations dabei.<br />

Unsere Delegation hatte die Ehre,<br />

Japan als Nation in acht Komitees vertreten<br />

zu dürfen. Bei allen diskutierten<br />

Themenfeldern war es unsere Aufgabe,<br />

die aussenpolitischen Standpunkte<br />

Japans zu Themen wie Unterernährung,<br />

religiöse Lehre an öffentlichen Schulen<br />

oder Schutz gegen Naturkatastrophen<br />

bestmöglich zu vertreten. Über diese<br />

Themen hatten wir uns im Vorfeld mit<br />

Hilfe von Internet-Recherchen und<br />

Berichten informiert. Wir hatten vor der<br />

Konferenz versucht, möglichst viel<br />

über das Thema im Allgemeinen, jedoch<br />

auch über die japanische Aussenpolitik<br />

im Speziellen, zu erfahren.<br />

Im Rückblick ist sich die Delegation einig,<br />

dass OxIMUN eine anspruchsvolle und<br />

intensive Konferenz war. «Ich habe in<br />

nur vier Tagen sehr viel über Diplomatie,<br />

Rhetorik und den asiatischen Raum<br />

gelernt», erzählt Fabian Marbach. Das<br />

neu gewonnene Wissen über die besprochenen<br />

Themen ist nur ein kleiner<br />

Teil des Gelernten. Durch MUN-Konferenzen<br />

lernen Studierende zu argumentieren.<br />

Sie knüpfen internationale<br />

Kontakte, verbessern ihr Englisch und<br />

arbeiten sich in kurzer Zeit in einen<br />

Themenbereich ein, der meistens gar<br />

nichts mit ihrem Studium zu tun hat.<br />

Auch der kulturelle Austausch zwischen<br />

den Teilnehmern ist sehr wertvoll. So<br />

habe ich mit einer Studentin der Amerikanischen<br />

Militärakademie West Point<br />

über die amerikanische Aussenpolitik diskutiert.<br />

Das war sehr interessant!<br />

Ich engagiere mich gerne für ETH<br />

MUN – das ist eine ideale Ergänzung<br />

zum theoretischen ETH-Studium. MUN<br />

bietet mir die Möglichkeit, andere Kulturen<br />

kennenzulernen, mich mit gesellschaftlichen<br />

Themen ausserhalb meines<br />

Studiums zu beschäftigen. Die Resultate<br />

der MUN-Konferenzen werden von<br />

den Vereinten Nationen berücksichtigt, so<br />

kann ich einen kleinen Beitrag zu einer<br />

besseren Welt leisten. Dank des Engagements<br />

von Studierenden läuft dieses<br />

Projekt erfolgreich. Ich finde es wichtig,<br />

sich neben dem Studium zu engagieren.<br />

Damit leisten Studierende nicht nur<br />

einen sozialen Beitrag, sondern erlangen<br />

auch wichtige Erfahrungen und<br />

Kompetenzen ausserhalb des Studiums.<br />

Engagier dich!<br />

Mit ihrem Förderprogramm ‹Engagier dich!›<br />

unterstützt die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Studierende, die sich mit eigenen Projekten<br />

für die Gesellschaft engagieren. Seit dem<br />

Programmstart im November 2010 wurden<br />

bereits über 80 studentische Projekte<br />

gefördert. An drei Terminen im Jahr (1. März,<br />

1. Juli, 1. November) können sich studentische<br />

Initiativen bewerben. Unterstützt werden<br />

Projekte in drei Themenbereichen:<br />

— Interkulturelle Verständigung und Integration:<br />

Die Projekte helfen, gesellschaftliche<br />

Barrieren in der <strong>Schweiz</strong> abzubauen,<br />

das Verständnis zwischen Menschen<br />

unterschiedlicher Kulturen zu stärken und<br />

gegenseitigen Respekt und Toleranz zu<br />

fördern.<br />

— Mensch und Umwelt: Die Vorhaben<br />

beschäftigen sich mit einem verantwortungsvollen<br />

Umgang mit den natürlichen<br />

Lebensgrundlagen. Sie tragen dazu<br />

bei, ökologische Herausforderungen zu<br />

verstehen und gezielt anzupacken.<br />

— Internationale Aufgaben: Die Projekte<br />

setzen sich mit den Aufgaben und<br />

Funktionsweisen internationaler Organisationen<br />

auseinander.<br />

www.engagier-dich.ch<br />

49


Tätigkeitsbereich<br />

wissenschaft<br />

Globale und<br />

lokale Perspektiven<br />

auf die Geschichte<br />

Text / Niklas Zimmermann<br />

Es ist der grösste <strong>Schweiz</strong>er Kongress der<br />

Geistes- und Sozialwissenschaften:<br />

850 Teilnehmer, davon über 400 Referenten,<br />

diskutierten an den <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Geschichtstagen vom 7. bis 9. Februar<br />

2013 über das Thema ‹global – lokal›. Das<br />

Tagungsthema bezog sich auf einen<br />

scheinbaren Widerspruch: Einerseits führt<br />

die Globalisierung zu einer zunehmenden<br />

weltweiten Vernetzung, gleichzeitig<br />

findet eine bewusste Hinwendung<br />

zum Lokalen statt. Ziel der <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Geschichtstage war es zu zeigen,<br />

dass es kein Widerspruch ist, lokale und<br />

globale Perspektiven zu verbinden. Im<br />

Gegenteil: Es stellt eine notwendige und<br />

bereichernde Weiterentwicklung der<br />

Geschichtswissenschaften dar. Organisiert<br />

wurde die Veranstaltung vom<br />

Freiburger Departement für Historische<br />

Wissenschaften und von der <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Gesellschaft für Geschichte. Es<br />

waren bereits die dritten Geschichtstage<br />

(nach den Konferenzen in Bern 2007<br />

und in Basel 2010).<br />

Internationale Referenten<br />

Passend zum Thema ‹global – lokal›<br />

stammte rund ein Viertel der Vortragenden<br />

aus dem Ausland. Um die Mehrsprachigkeit<br />

des Austragungsorts Freiburg<br />

zu betonen, wurden die Panels auf<br />

Deutsch, Französisch und Englisch durchgeführt.<br />

Die 90 Panels suchten Antworten<br />

auf ganz unterschiedliche Fragen,<br />

zum Beispiel: Wie nutzten lokale Bewegungen<br />

im Bereich der Menschenund<br />

Frauenrechte internationale Normvorstellungen,<br />

um Veränderungen vor<br />

Ort zu bewirken Inwiefern diente<br />

die neutrale <strong>Schweiz</strong> vom 17. bis ins frühe<br />

19. Jahrhundert als Modell für einen<br />

zukünftigen Frieden in Europa Warum<br />

braucht Umwelt- und Klimageschichte<br />

gleichzeitig den global- wie lokalhistorischen<br />

Zugang Die zahlreichen<br />

Fragestellungen der Tagung erstreckten<br />

sich über 16 Themenbereiche – und<br />

diese bildeten zusammen mit den<br />

verschiedenen methodischen Ansätzen<br />

die ganze Vielfalt des historischen<br />

Fachs ab. Das thematische Spektrum<br />

reichte von der ‹klassischen› Politikgeschichte<br />

hin zur Sozial- und Kulturgeschichte<br />

und von der Migrationsüber<br />

die Umweltgeschichte hin zur<br />

Wirtschaftsgeschichte.<br />

Plattform für den Nachwuchs<br />

Die Geschichtstage dienten in erster Linie<br />

der nationalen und internationalen<br />

Auseinandersetzung mit historischen<br />

Fragen. Insbesondere Nachwuchswissenschaftlern<br />

bot die Veranstaltung eine<br />

einmalige Chance zur Profilierung. Sie<br />

konnten ihre Forschungsprojekte einem<br />

internationalen Publikum vorstellen.<br />

Erfreulich war aus Sicht der Organisatoren,<br />

dass rund die Hälfte der Vortragenden<br />

weiblich waren, wovon die Mehrheit<br />

dem Nachwuchs angehörte. Das zeigt:<br />

Die Geschichtswissenschaften verjüngen<br />

sich und Frauen prägen das Fach unterdessen<br />

stark mit. Eine wichtige Zielgruppe<br />

der Geschichtstage waren auch<br />

ausserakademisch Interessierte. So<br />

richteten sich spezialisierte Panels als<br />

Weiterbildungsmöglichkeiten konkret an<br />

Geschichtsvermittelnde in Schulen<br />

und Museen. Darüber hinaus zeigten die<br />

Geschichtstage dem interessierten<br />

Publikum, was Geschichte in der heutigen<br />

Gesellschaft leisten kann und<br />

leisten muss.<br />

50 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Die Höhepunkte der 3. <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Geschichtstage waren die öffentlichen<br />

Hauptvorträge, die so genannten ‹Keynotes›.<br />

Den Anfang machte am Donnerstag<br />

Pamela Kyle-Crossley (Hanover, USA) mit<br />

einem Referat über die Suche nach einer<br />

globalen Zeitschreibung, da die verschiedenen<br />

Epochen weltweit sehr unterschiedlich<br />

definiert und interpretiert werden.<br />

Arndt Brendecke (München) widmete sich<br />

am Freitag anhand von Beispielen der<br />

Neuzeit dem Widerspruch zwischen globalem<br />

theoretischen Wissen und der<br />

lokalen Praxis. Schliesslich schloss Martial<br />

Staub (Sheffield, England) am Samstag<br />

mit einem Beitrag über die Rolle der<br />

einfachen Staatsbürger als wesentliche<br />

Akteure in der Weltgeschichte ab.<br />

freuen sich über eine rege Berichterstattung<br />

auf verschiedenen Fachportalen<br />

und in Publikumsmedien aller Sprachregionen<br />

der <strong>Schweiz</strong>: «So konnten die<br />

Inhalte der Tagung in die Gesellschaft<br />

transportiert und auch der Fachwelt<br />

vermittelt werden, die nicht anwesend<br />

sein konnte.»<br />

«Die Geschichtstage haben<br />

die historische Forschung in der<br />

<strong>Schweiz</strong> gestärkt und ihre<br />

Relevanz sichtbar gemacht.»<br />

Ilaria Macconi Heckner, Universität freiburg<br />

Lehrreiche Erfahrungen<br />

80 Studierende halfen dabei, dass die<br />

Geschichtstage reibungslos abliefen. Sie<br />

wurden für verschiedene Aufgaben wie<br />

die logistische Betreuung der Panels, beim<br />

Empfang der Teilnehmer und in der<br />

Begleitung des kulturellen Freizeitprogramms<br />

eingesetzt. Das junge Helferteam<br />

trug wesentlich zu einem frischen<br />

und spontanen Geist der Veranstaltung<br />

bei. Cristina Bürgi, Bachelor-Studentin<br />

der Zeitgeschichte, hat sich gerne als<br />

Helferin engagiert: «Es war spannend, an<br />

so einem grossen Event mitzuwirken<br />

und sich gleichzeitig weiterzubilden.»<br />

In den Vorträgen habe sie viel über das<br />

historische Weltgeschehen gelernt –<br />

und als Helferin konnte sie einen Blick<br />

hinter die Kulissen einer grossen<br />

Konferenz erhalten.<br />

Auch die Organisatoren sind sehr<br />

zufrieden mit der Veranstaltung:<br />

«Mit ihrer dritten Durchführung haben<br />

die Geschichtstage nun definitiv ihren<br />

festen Platz in der Agenda der <strong>Schweiz</strong>er<br />

Historikerinnen und Historiker gefunden»,<br />

freut sich Projektkoordinatorin<br />

Ilaria Macconi Heckner von der Universität<br />

Freiburg. Das grosse Echo, das die<br />

Ausschreibung ausgelöst hat, und die zahlreichen<br />

Teilnehmer seien überaus<br />

erfreulich. «Es hat sich bewährt, interessierten<br />

Personen die Möglichkeit zu<br />

geben, sich auch mit einem Vorschlag für<br />

ein Einzelreferat um eine Teilnahme an<br />

den Geschichtstagen zu bewerben»,<br />

erklärt Peppina Beeli, Generalsekretärin<br />

der <strong>Schweiz</strong>erischen Gesellschaft für<br />

Geschichte. Von diesem Verfahren profitierten<br />

vor allem Nachwuchsforschende.<br />

Die beiden Verantwortlichen der Tagung<br />

Studierende engagieren sich für die <strong>Schweiz</strong>erischen Geschichtstage: Sie sind unter anderem als<br />

Reporter im Einsatz, um im Internet über die Diskussionen zu historischen Themen zu berichten.<br />

Niklas Zimmermann war einer von 80<br />

studentischen Helfern an den <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Geschichtstagen. Er macht zurzeit ein<br />

Masterstudium in Zeitgeschichte an der<br />

Universität Freiburg.<br />

51


Tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

KREATIVE REISE<br />

ZU den eigenen<br />

Wurzeln<br />

Tamilische Kinder in der <strong>Schweiz</strong> und in Sri Lanka<br />

fotografieren ihr Umfeld. Was möchten sie verändern<br />

Was möchten sie hinzufügen oder weglassen Mit<br />

verschiedenen Maltechniken bearbeiten sie im Projekt<br />

‹My Worlds› die Fotos aus beiden Ländern – und<br />

schaffen so ganz eigene Welten.<br />

52 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Text / Nadine fieke<br />

Manchmal entstehen Projekte durch<br />

glückliche Umstände: Man ist zur<br />

richtigen Zeit am richtigen Ort, hat die<br />

richtigen Kontakte, die richtige Idee.<br />

«Ich war in Sri Lanka und habe dort eine<br />

Ausstellung eröffnet», erinnert sich<br />

Joel Sames. Er zeigte Bilder aus kulturellen<br />

Initiativen für Kinder und<br />

Jugendliche, die er als Fotograf begleitet<br />

und zum Teil selbst entwickelt hatte.<br />

Es war auch ein Vertreter der Direktion<br />

für Entwicklung und Zusammenarbeit<br />

(DEZA) vor Ort. Und dieser war begeistert<br />

von dem, was er dort sah: Ob er nicht<br />

auch eine Idee für ein Projekt für ein Wiederbesiedlungsdorf<br />

im Norden von Sri<br />

Lanka habe Joel Sames überlegte, fuhr<br />

nach Maravanpulo im Distrikt Jaffna<br />

und entwickelte das Projekt ‹My World›.<br />

Der Basler denkt gerne an die<br />

Projektwoche im Mai 2012 in Sri Lanka<br />

zurück: Begeistert fotografierten<br />

Kinder der örtlichen Schule ihr Umfeld.<br />

Die ausgedruckten Bilder haben sie<br />

mit Zeichnungen ergänzt und so gezeigt,<br />

wie sie sich ihre Welt wünschen. Verdorrte<br />

Felder wurden durch Kinderhand<br />

grün. Rote, gelbe und orangene Autos<br />

fuhren plötzlich auf den eigentlich<br />

leeren Strassen. Ein kahler Baum trug<br />

auf einmal grosse Blätter. Fische füllten<br />

ein ursprünglich leeres Netz. Häuser<br />

erhielten neue Dächer. Und im ansonsten<br />

recht leeren Zimmer stand kurzerhand<br />

ein mit Wachsmalkreide erschaffener<br />

Fernseher. Einige Details ihrer Bilder<br />

malten die Kinder schliesslich zusammen<br />

mit Kunststudenten der Universität<br />

Jaffna an Wände in ihrem Dorf. So wandern<br />

sie heute jeden Tag durch ‹ihre›<br />

Welt. Das erfüllt sie mit Stolz. Das schafft<br />

Identifikation mit dem neuen Zuhause,<br />

das die DEZA nach dem Krieg neu<br />

aufgebaut hat.<br />

Idee für ein Folgeprojekt<br />

Eigentlich sollte das Projekt damit abgeschlossen<br />

sein. Doch Joel Sames liess<br />

ein Gedanke nicht los: «Wie wäre es,<br />

das Projekt mit tamilischen Kindern in<br />

der <strong>Schweiz</strong> durchzuführen» Die<br />

Kinder könnten sich auf eine ähnliche<br />

Weise Gedanken über ihr Zuhause in<br />

der <strong>Schweiz</strong> und über die alte Heimat<br />

ihrer Familien in Sri Lanka machen.<br />

Zugleich könnte man einen Austausch<br />

zwischen Kindern aus beiden Kulturräumen<br />

initiieren, um ihnen Einblicke in<br />

sehr unterschiedliche Lebenswelten<br />

zu ermöglichen. So entwickelte der<br />

37-Jährige die Idee für das Folgeprojekt<br />

‹My Worlds› (jetzt im Plural mit s).<br />

Er kannte die Freiplatzaktion Basel, die<br />

sich für Asylsuchende und Migranten<br />

einsetzt. Weil er seinen Zivildienst dort<br />

gemacht hatte, wusste er, dass die<br />

Organisation enge Kontakte zur grossen<br />

tamilischen Gemeinde in und um<br />

Basel hat. So stellte er den Verantwortlichen<br />

seine Idee vor – und die waren<br />

begeistert: «Das war ein ganz neuer Ansatz<br />

für ein Ferienangebot», sagt<br />

Miriam Clauberg. Mit Unterstützung der<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> in Höhe<br />

von 10 000 Franken konnte das Projekt<br />

im Februar 2013 starten.<br />

Künstlerische arbeit<br />

In einem fünftägigen Workshop haben<br />

20 tamilische Kinder aus Basel ihr<br />

Umfeld fotografiert. Wie zuvor die Kinder<br />

in Maravanpulo haben auch sie ihre<br />

Bilder bemalt – und zusätzlich die aus<br />

Sri Lanka. So konnten sie nicht nur<br />

darstellen, wie sie sich ihre eigene Welt<br />

vorstellen, sondern auch, was sie sich<br />

für die Kinder in Sri Lanka wünschen.<br />

Und wie die Kinder in Sri Lanka<br />

haben auch die jungen Basler Teile ihrer<br />

Bilder in den öffentlichen Raum gebracht:<br />

Zusammen mit einem Graffiti-<br />

Künstler konnten sie einen grossen<br />

Frachtcontainer auf dem Basler nt-Areal<br />

vor dem Quartierzentrum Erlenmatt<br />

besprühen. Für den Austausch mit den<br />

Kindern in Sri Lanka haben die Kinder<br />

aus Basel an einem weiteren Wochenendworkshop<br />

persönliche Nachrichten<br />

zusammengestellt: Fotostorys aus ihrem<br />

Alltag, <strong>Schweiz</strong>er Lieder und Rezepte,<br />

Geschichten über die Basler Fasnacht…<br />

Darauf sollten einige Wochen später<br />

die Kinder aus Sri Lanka mit eigenen<br />

Nachrichten antworten.<br />

«‹My Worlds› ist viel mehr als eine<br />

kulturelle Initiative», erklärt Joel<br />

Sames. Natürlich fördert das Projekt<br />

die Kreativität der Kinder. Es bringt<br />

ihnen künstlerische Ausdrucksformen<br />

näher. Kunst- und Kulturvermittler<br />

zeigen ihnen, wie man komplexe Themen<br />

mit kreativen Methoden behandeln<br />

kann. «Doch vor allem ermöglicht das<br />

Projekt den tamilischen Kindern in<br />

der <strong>Schweiz</strong>, ihre kulturellen Wurzeln zu<br />

entdecken», betont der Projektinitiator.<br />

Etwa 43 000 tamilische Migranten leben<br />

in der <strong>Schweiz</strong>, zum Teil bereits in der<br />

dritten Generation. Ihre Kinder sind hier<br />

geboren, sie fühlen sich mit der <strong>Schweiz</strong>er<br />

Lebensweise verbunden – oftmals<br />

mehr als mit den familiären Traditionen.<br />

«Wie viele Migranten leben auch die<br />

jungen Tamilen zwischen zwei Welten»,<br />

betont Joel Sames. Im Austausch mit<br />

den Kindern in Sri Lanka können sie sich<br />

ihrer eigenen Identität bewusst werden.<br />

Gleichzeitig setzen sich die Kinder<br />

mit ihrer (neuen) Heimat <strong>Schweiz</strong><br />

auseinander. Sie werden aufgefordert,<br />

mit ihren Bildern eine Vision für die<br />

eigene <strong>Schweiz</strong> zu entwickeln. «Dadurch<br />

fühlen sie sich anerkannt», sagt Joel<br />

Sames. Die Kinder spüren, dass ihre Meinung<br />

zählt, dass man ihnen zuhört.<br />

Deshalb war es fürs Projekt wichtig, die<br />

Werke der Kinder in einer abschliessenden<br />

Ausstellung zu zeigen. Dass die<br />

Kinder mit einem grossen Graffiti einen<br />

Teil des öffentlichen Raums gestalten<br />

konnten, schafft – ähnlich wie im Projekt<br />

in Sri Lanka – Identifikation mit diesem<br />

Ort. «All das ist ein wichtiger Beitrag zur<br />

Integration», ist Joel Sames überzeugt.<br />

Blick in die Zukunft<br />

Er ist zufrieden mit der Projektpremiere.<br />

Ebenso Miriam Clauberg, Projektverantwortliche<br />

der Freiplatzaktion Basel:<br />

«Die Kinder haben sich mit viel Spass<br />

und Kreativität mit beiden Welten auseinandergesetzt.<br />

Es sind beeindruckende<br />

Bilder entstanden.» Im Herbst möchte<br />

die Freiplatzaktion ‹My Worlds› wieder<br />

durchführen. «Dann möchten wir das<br />

Projekt kulturell öffnen», verraten Miriam<br />

Clauberg und Joel Sames. Das Konzept<br />

wird entsprechend angepasst. Fest steht<br />

bereits jetzt: <strong>Schweiz</strong>er Kinder und<br />

Kinder mit ganz unterschiedlichen Migrationshintergründen<br />

sollen sich in dem<br />

Projekt begegnen und kreativ zusammenarbeiten.<br />

«So können wir den Dialog<br />

zwischen den Kulturen in der <strong>Schweiz</strong><br />

anregen und das gegenseitige Verständnis<br />

fördern», betont Miriam Clauberg.<br />

Kontakt: Freiplatzaktion Basel, Miriam Clauberg,<br />

miriam.clauberg@freiplatzaktion-basel.ch;<br />

Joel Sames, info@joelsames.org<br />

53


Tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

TAG 1<br />

11. FEBRUAR 2013<br />

Aus Streichholzschachteln, Filmrollen<br />

und Klebeband basteln<br />

die Kinder Lochkameras: «Die<br />

funktionieren wirklich», erzählen<br />

sie stolz. Die Kinder probieren<br />

aus, wie man mit solch einer<br />

Kamera Fotos macht. Ausserdem<br />

lernen sie im Foto-Workshop<br />

die Grundlagen fotografischer<br />

Gestaltungsmöglichkeiten<br />

kennen.<br />

54 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


TAG 2<br />

12. FEBRUAR 2013<br />

Basel bietet viele spannende<br />

Motive: Rathaus, Rhein, Messe.<br />

Die Kinder fotografieren verschiedene<br />

Plätze, Brunnen,<br />

Marktstände … Dafür nutzen sie<br />

nicht nur ihre Lochkameras,<br />

sondern auch digitale Fotoapparate<br />

und Handys.<br />

TAG 3<br />

13. FEBRUAR 2013<br />

Der Basler Rathausturm verwandelt<br />

sich in ein Baumhaus. Und<br />

die Ziege in Sri Lanka bekommt<br />

eine Hütte. «Auf den Bildern<br />

aus Sri Lanka haben die Kinder<br />

vor allem sehr essenzielle, lebenswichtige<br />

Dinge hinzugefügt»,<br />

beobachtet Joel Sames. Die Bilder<br />

aus Basel haben sie viel freier<br />

und spielerischer behandelt.<br />

«Vielleicht zeigt das auch, dass<br />

es bei uns keine materiellen<br />

oder infrastrukturellen Mängel<br />

gibt», vermutet der Projektinitiator.<br />

Die Kunstvermittlerin<br />

Hadar Weinberg spricht mit<br />

den Kindern über die Bilder und<br />

über Gestaltungstechniken.<br />

55


Tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

TAG 4<br />

14. FEBRUAR 2013<br />

Die Kinder verbinden Bildelemente<br />

aus beiden Ländern<br />

zu einer grossen Kollage. Sie erschaffen<br />

Strassen und Häuser<br />

– und damit eine neue Welt. Am<br />

Nachmittag probieren die<br />

Kinder zum ersten Mal mit dem<br />

Graffiti-Künstler und Kunstvermittler<br />

David Lucco aus, wie<br />

man richtig mit den Sprühdosen<br />

umgeht. Denn am nächsten<br />

Tag werden sie anfangen, ein<br />

grosses Graffiti auf den Frachtcontainer<br />

im Hof des Quartierzentrums<br />

Erlenmatt zu sprühen.<br />

56 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


TAG 5<br />

15. FEBRUAR 2013<br />

Begeistert machen sich die Kinder<br />

mit den Sprühdosen ans<br />

Werk. Auf dem grossen Frachtcontainer<br />

erschaffen sie eine<br />

eigene Welt – und diese enthält<br />

typische Elemente aus der<br />

<strong>Schweiz</strong> und aus Sri Lanka. Mit<br />

ihrem Kunstwerk gestalten<br />

die Kinder einen Teil des öffentlichen<br />

Raums.<br />

TAG 6<br />

2. MÄRZ 2013<br />

Jedes Kind hat sich eine persönliche<br />

Nachricht für die Kinder<br />

in Sri Lanka überlegt: Sie machen<br />

Steckbriefe über ihre Familie,<br />

zeigen Bilder von der Basler<br />

Fasnacht, stellen Rezepte von<br />

<strong>Schweiz</strong>er Spezialitäten zusammen<br />

oder dokumentieren ihren<br />

Alltag mit einer Fotostory.<br />

57


Tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

AUSSTELLUNG<br />

3. MÄRZ 2013<br />

Stolz präsentieren die Kinder ihre<br />

Werke. Auch Teile ihrer persönlichen<br />

Nachrichten für die Kinder<br />

in Sri Lanka und die Foto- und<br />

Videodokumentationen des Workshops<br />

werden gezeigt. Barbara<br />

Frei-Koller (Vorsitzende der<br />

Freiplatzaktion Basel), Simone<br />

Schöneberger ( DEZA) und<br />

Projektinitiator Joel Sames blicken<br />

auf den Workshop zurück. Die<br />

Ausstellung bietet den Besuchern<br />

eine spannende Perspektive<br />

auf Basel und auf ein Dorf in Sri<br />

Lanka – aus der Sicht von<br />

tamilischen Kindern, die in der<br />

<strong>Schweiz</strong> aufwachsen.<br />

58 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Tätigkeitsbereich<br />

Kinder und jugendliche<br />

Überzeugende<br />

Argumente<br />

Text / Andrea Schlatter<br />

Welche Position sie bei den Debatten einnehmen,<br />

entscheidet das Los: Am Ende überzeugen<br />

Manuel Küng (Foto) und Anaïs Franck<br />

(Foto rechts, r.) die Jury.<br />

60 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Ich weiss noch genau, wie aufgeregt ich<br />

war, als ich vor zwei Jahren selbst auf<br />

der Bühne stand. Als ich jetzt beim Finale<br />

von ‹Jugend debattiert› die Teilnehmer<br />

vor ihren Debatten beobachtete, fühlte<br />

ich mich, als müsste ich wieder vor die<br />

Jury treten. Die Anspannung der Jugendlichen<br />

war deutlich zu spüren. Nachdem<br />

ich den Wettbewerb 2011 gewonnen<br />

hatte, war ich am 22. und 23. März 2013<br />

auf dem Campus Muristalden in Bern<br />

wieder beim Finale dabei – allerdings<br />

nicht als Teilnehmerin, sondern als Mitorganisatorin.<br />

Das ermöglichte es mir,<br />

den Wettbewerb aus einem ganz anderen<br />

Blickwinkel zu erleben.<br />

Gesellschaftliche Fragen<br />

Mit dem Projekt ‹Jugend debattiert›<br />

möchte die <strong>Stiftung</strong> Dialog Jugendliche<br />

spielerisch an politische und gesellschaftliche<br />

Fragen heranführen. Die Teilnehmer<br />

lernen in Workshops, was eine<br />

gute Debatte ausmacht. Sie lernen, einen<br />

Standpunkt einzunehmen, Argumente<br />

anzubringen und sich konstruktiv<br />

mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen.<br />

Das Projekt zur politischen Bildung<br />

hat seit 2005 bei rund 30 000 Jugendlichen<br />

aus der ganzen <strong>Schweiz</strong> Anklang<br />

gefunden. Viele von ihnen haben an<br />

lokalen und regionalen schulischen oder<br />

ausserschulischen Vorausscheidungen<br />

teilgenommen. Die besten 90 Rhetorikkünstler<br />

treten alle zwei Jahre in einem<br />

grossen nationalen Finale gegeneinander<br />

an. Im Zentrum der Debatten stehen<br />

immer aktuelle gesellschaftliche Fragen.<br />

Ich selbst habe vor zwei Jahren zu<br />

Jugendparlamenten, kostenlosem ÖV und<br />

zur Internet überwachung durch den<br />

Staat debattiert.<br />

Die Debatten verlaufen nach klaren<br />

Regeln: Es treten immer zwei Jugendliche<br />

für die Pro- oder die Kontra-Position<br />

an. Die Themen werden zwar vor dem<br />

Wettbewerb bekanntgegeben. Doch welche<br />

Position die Jugendlichen einnehmen,<br />

entscheidet das Los erst 30 Minuten<br />

vor der Debatte. So kann es sein, dass<br />

man eine Position vertreten muss, die gar<br />

nicht der eigenen Meinung entspricht.<br />

Das kann eine Herausforderung sein – ich<br />

selbst empfinde es jedoch als Vorteil:<br />

Man schlüpft in eine Rolle und kann damit<br />

in der Debatte sachlicher bleiben und<br />

handfeste Argumente präsentieren, während<br />

die eigenen Überzeugungen eher<br />

emotional geprägt sind.<br />

Die Debatte startet jeweils mit einer<br />

Eröffnungsrunde, in der jeder Debattierende<br />

zwei Minuten Zeit hat, seine Position<br />

darzulegen. Danach wechseln die<br />

Jugendlichen zur freien Aussprache (ohne<br />

Moderation), diese dauert zwölf Minuten.<br />

Schliesslich hat jeder Teilnehmer noch<br />

einmal eine Minute Zeit, ein Fazit zu<br />

ziehen. Die Jugendlichen treten in ihrer<br />

jeweiligen Alterskategorie (Kategorie<br />

I: 13 bis 15 Jahre; Kategorie II: 16 bis<br />

20 Jahre) und in ihrer Muttersprache<br />

gegeneinander an.<br />

Beeindruckende Debatten<br />

Am Freitag, 22. März 2013, fanden die<br />

ersten Debattierwettbewerbe statt.<br />

Am Abend hatten die Jugendlichen die<br />

Möglichkeit, im Nationalratssaal mit<br />

verschiedenen Nationalräten zu diskutieren.<br />

Kritisch, aber respektvoll haben<br />

sie Fragen gestellt und den Politikern<br />

aufmerksam zugehört. Und schon am<br />

nächsten Tag galt es für die Jugendlichen,<br />

sich im Finale rhetorisch zu beweisen.<br />

Die Debatten waren spannend und überzeugend.<br />

Zwischen ihren Auftritten<br />

waren die Jugendlichen eifrig damit beschäftigt,<br />

weiter zu diskutieren und<br />

neue Leute kennenzulernen.<br />

Am Ende kürte die Jury der<br />

Deutschschweiz Manuel Küng (Kategorie<br />

I) aus dem Kanton Luzern und<br />

Anaïs Franck (Kategorie II) aus dem<br />

Kanton Aargau zu den Gewinnern.<br />

Anaïs hat mich in einer Debatte über die<br />

Ecopop-Initiative ‹Stopp der Über bevölkerung›<br />

beeindruckt: Mit Hilfe eines<br />

Wasserglases hat sie sehr anschaulich<br />

erklärt, was mit der <strong>Schweiz</strong> passieren<br />

wird, sollte die Initiative nicht angenommen<br />

werden – sie liess das Glas<br />

kurzerhand überlaufen. Manuel erklärte<br />

in seiner Debatte zum Ausländerstimmrecht,<br />

dass ein Vater, der seinem<br />

Kind Geld gibt, genau sagen wird, was<br />

es mit dem Geld anzufangen hat. Dieses<br />

Prinzip solle auch gelten, wenn ein<br />

Ausländer in der <strong>Schweiz</strong> Steuern zahlt.<br />

Mit seinen Ausführungen überzeugte<br />

er die Jury und das Publikum von sich.<br />

Ich habe gerne mitgeholfen, das<br />

Finale zu organisieren. Es war eine<br />

tolle Erfahrung zu sehen, wie ein solcher<br />

Anlass zustande kommt und wie die<br />

Teilnehmer darauf reagieren. Mir liegt<br />

viel an diesem Projekt, denn ‹Jugend<br />

debattiert› hat mein Leben verändert. In<br />

den zwei Jahren nach meinem Sieg<br />

habe ich viele neue Leute kennengelernt.<br />

Ich wurde immer wieder an Tagungen<br />

und Konferenzen eingeladen, um zu referieren<br />

oder zu debattieren. Diese Auftritte<br />

haben mein Selbstvertrauen und<br />

meine Motivation gestärkt. Ich wünsche<br />

mir, dass möglichst viele Jugendliche<br />

die Gelegenheit bekommen, zu debattieren<br />

– auch ohne Wettbewerb. Denn<br />

Debattieren ist eine wichtige Fähigkeit,<br />

gerade in unserer direkten Demokratie.<br />

Man lernt, anderen zuzuhören, andere<br />

Meinungen zu respektieren und sich<br />

selbst konstruktiv ins Gespräch einzubringen.<br />

Das ist wichtig für einen echten<br />

Dialog.<br />

Andrea Schlatter hat 2011 den Wettbewerb<br />

‹Jugend debattiert› in der Kategorie<br />

der 13- bis 16-Jährigen gewonnen, zudem<br />

erhielt die Bernerin den Publikumspreis.<br />

61


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

Text / Nadine Fieke<br />

In drei Stationen<br />

um die Welt<br />

Jeden Tag treffen wir Kaufentscheidungen. Diese beeinflussen<br />

die Umwelt und die Lebensbedingungen<br />

von Menschen auf der ganzen Welt. Bei den Stadtrundgängen<br />

‹konsumGLOBAL› hinterfragen Jugendliche<br />

ihr Konsumverhalten. So auch an diesem Mittwochmorgen<br />

in Bern. Der Student Fabian führt eine Schulklasse 90<br />

Minuten durch das Lorraine-Quartier – und damit einmal<br />

um die Welt: An thematisch passenden Orten macht<br />

er Halt, um mit den Schülern über die globalen Auswirkungen<br />

ihres täglichen Konsums zu sprechen.<br />

63


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

1. POSTEN: LEBENSMITTEL<br />

«Für welches Produkt würdet ihr euch entscheiden»<br />

Die Schüler der Kantonsschule<br />

Wettingen nehmen die zwei Spaghetti-Packungen<br />

genau unter die Lupe – ebenso die zwei<br />

Schreibblöcke, die Süssigkeiten- und Brottüten.<br />

Sie vergleichen das Kleingedruckte auf<br />

den Verpackungen: Die Spaghetti aus der einen<br />

Packung enthalten Eier, die anderen bestehen<br />

nur aus Hartweizengriess. Doch wie die Eier produziert<br />

und die Hühner gehalten werden, steht<br />

dort nicht. Das Gleiche beim Brot: «Manche<br />

Zutaten machen mich stutzig», meint ein Schüler.<br />

Milchpulver ist darin, Milchzucker. «Auch hier<br />

wissen wir nichts über die Haltung der Tiere»,<br />

betont Fabian, der heute die Stadtführung leitet.<br />

Und wenn nicht ausdrücklich eine tierfreundliche<br />

Haltung auf der Verpackung deklariert ist,<br />

könne man nicht von einer solchen ausgehen.<br />

«Wenn man sich für ein bestimmtes Produkt entscheidet,<br />

erklärt man sich mit der Produktionsweise<br />

einverstanden und unterstützt diese», sagt<br />

der Student. Bei den Schreibblöcken war die<br />

Entscheidung der Schüler schnell klar: Sie fiel<br />

für den Block mit Recyclingpapier.<br />

64 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


2. POSTEN: HANDY<br />

Sie binden sich eine Krawatte um und schon<br />

schlüpfen die zwei Schüler in die Rolle eines<br />

Nachrichten- und eines Werbesprechers:<br />

Der erste berichtet von enormen Umweltschäden<br />

und Trinkwasserverschmutzungen durch<br />

Gifte, die im Goldabbau eingesetzt werden.<br />

Und nur wenige Sekunden später preist der Werbesprecher<br />

das neueste Handy mit scheinbar<br />

unendlichen Nutzungsmöglichkeiten an. Dass<br />

beide Mitteilungen eng zusammenhängen,<br />

erfährt die Gruppe anschliessend im Gespräch:<br />

In Mobiltelefonen stecken Metalle – unter<br />

anderem Gold. Nicht nur die Gewinnung der<br />

Bestandteile von Handys ist mit sozialen und ökologischen<br />

Problemen verbunden, sondern auch<br />

die Entsorgung: «100 Millionen Handys werden<br />

in Europa jedes Jahr weggeworfen», sagt der<br />

Stadtführer. In der <strong>Schweiz</strong> gibt es mehr Handys<br />

als Einwohner, nur 15 Prozent der Altgeräte<br />

werden recycelt. Eines der Hauptländer fürs Recycling<br />

von Elektroschrott aus aller Welt ist<br />

Indien – und dort geschieht dies unter einfachsten<br />

Bedingungen auf offener Strasse. Die giftigen<br />

Stoffe werden eingeatmet und gelangen ins<br />

Grundwasser. Diese Informationen regen zum<br />

Nachdenken an: Braucht man wirklich immer das<br />

neueste Handy Kann man nicht ein altes von<br />

einem Freund weiternutzen Kaputte Handys<br />

kann man auch gut reparieren lassen, alte beim<br />

Mobilfunkanbieter abgeben. Es gibt keinen<br />

Schüler in der Gruppe, der kein Handy hat. Im<br />

Durchschnitt behalten die Jugendlichen ihre<br />

Mobiltelefone drei Jahre, erzählen sie. Viele haben<br />

noch alte, eigentlich funktionstüchtige Geräte<br />

irgendwo zuhause in der Schublade. Andere<br />

versuchen, ihre alten Handys zu verkaufen.<br />

65


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

3. POSTEN: KLEIDUNG<br />

Dass die Produktionskette einer Jeans lang<br />

ist, wussten die Schüler. Doch dass die Jeans tatsächlich<br />

einmal um die Welt reist, bevor wir<br />

sie in der <strong>Schweiz</strong> kaufen, ist ihnen neu: Anbau<br />

und Ernte der Baumwolle in Kasachstan, Indien<br />

oder in den USA, Produktion des Garns in China,<br />

Herstellung der Stoffbahnen in Polen, Färben<br />

in Taiwan. Die Label kommen aus Frankreich,<br />

die Schnittmuster aus Schweden. Auf den Philippinen<br />

werden die Hosen zusammengenäht.<br />

Und in Griechenland sorgt die Bearbeitung mit<br />

Bimsstein für die passende Waschung, bevor<br />

die Hosen schliesslich in der <strong>Schweiz</strong> auf dem<br />

Ladentisch landen. Die Schüler rekonstruieren<br />

diese ‹Weltreise› und erfahren, welche sozialen<br />

und ökologischen Probleme sich mit dem<br />

Kleiderkonsum verbinden: Niedrige Löhne<br />

und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen<br />

prägen die Produktion. Zudem sind im Baumwollanbau<br />

der Einsatz von Pflanzengiften und<br />

der Wasserverbrauch enorm. Was können wir als<br />

Konsumenten tun, um die Situation zu verändern<br />

Die Schüler schlagen praktische Lösungen<br />

vor: Fair-trade-Jeans aus Biobaumwolle kaufen.<br />

Kleider flicken. Nur kaufen, was man wirklich<br />

braucht. Selbst nähen. Und der Stadtführer hat<br />

noch einen spannenden Tipp, den er aus England<br />

kennt: Kleidertauschaktionen unter Freunden<br />

bei einem gemütlichen Abendessen. Das macht<br />

Spass – und am Ende des Abends hat jeder<br />

neue Kleider.<br />

Themen der Stadtführungen<br />

Es gibt Stadtführungen zu unterschiedlichen<br />

inhaltlichen Schwerpunkten: Die Regionalgruppe<br />

Bern bietet interaktive Posten zu den Themen<br />

‹Lebensmittel: Das Kleingedruckte – der Stimmzettel<br />

des Alltags›, ‹Kleidung: Der lange<br />

Weg einer Jeans›, ‹Handy: Erreichbarkeit um jeden<br />

Preis› und ‹Kakao: Süsse Versuchung mit<br />

bitterem Beigeschmack› an. In Basel gibt es<br />

zusätzlich den Posten ‹Fleisch: Was sucht die Kuh<br />

im Regenwald›. Die <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

unterstützt konsumGLOBAL in den Jahren 2012<br />

bis 2013 mit 10 000 Franken.<br />

www.konsumglobal.ch<br />

66 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

Denkanstösse für<br />

den Alltag<br />

Die ersten Führungen von konsum-<br />

GLOBAL fanden 2008 in Basel statt. Seither<br />

haben bereits über 1300 Personen<br />

daran teilgenommen. Die Stadtrundgänge<br />

werden von Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen geleitet, die sich zu Regionalgruppen<br />

zusammenschliessen und<br />

die Führungen organisieren. 2011 hat sich<br />

eine Regionalgruppe in Bern gegründet,<br />

bald soll auch eine Gruppe im Kanton<br />

Aargau aktiv sein. Das Ökozentrum in<br />

Langenbruck (BL) koordiniert und<br />

begleitet die Aktivitäten der Regio nalgruppen<br />

und schult die Vermittler.<br />

Ein Gespräch mit Projektleiterin Martina<br />

Patscheider.<br />

Worum geht es in den Stadtführungen<br />

Es geht um Konsum und<br />

Globalisierung. Die Jugendlichen sollen<br />

erfahren, welche globalen ökologischen<br />

und sozialen Konsequenzen ihr<br />

tägliches Konsumverhalten hat. Wichtig<br />

ist uns jedoch, dass keine ‹Alles-istschlecht-Stimmung›<br />

aufkommt. Deshalb<br />

ist es ein zentraler Bestandteil der<br />

Führungen, den Jugendlichen Möglichkeiten<br />

aufzuzeigen und mit ihnen zu<br />

diskutieren, wie jede und jeder von ihnen<br />

selbst etwas bewirken kann. Wir möchten<br />

mit den Stadtführungen Denkanstösse<br />

geben und Handlungsalternativen aufzeigen.<br />

Wir wollen die Jugendlichen ermutigen,<br />

sich kritisch mit ihrem eigenen<br />

Konsumverhalten auseinanderzusetzen<br />

und Verantwortung zu übernehmen.<br />

Warum haben Sie sich für das Format<br />

der Stadtführungen entschieden<br />

Konsum ist ein Thema des Alltags.<br />

Die Stadtführungen ermöglichen es<br />

uns, den Jugendlichen genau dort zu begegnen:<br />

Wir bewegen uns durch ihre<br />

Alltagswelt. Interaktive Posten behandeln<br />

die verschiedenen Themen anschaulich<br />

und spannend. So sprechen die Jugendlichen<br />

vor einem Supermarkt über das<br />

Thema Lebensmittel oder vor einem Bekleidungsgeschäft<br />

über ökologische<br />

und soziale Probleme der Jeansproduktion.<br />

Das Konzept der Stadtführungen<br />

hat sich bewährt: In Deutschland gibt es<br />

konsumGLOBAL schon in über 30<br />

Städten. Wir möchten dieses Projekt<br />

jetzt in der <strong>Schweiz</strong> aufbauen.<br />

Welche Rolle spielen dabei die Regionalgruppen<br />

Eine wichtige. Sie passen den genauen<br />

Ablauf der Führung nach ihren<br />

eigenen Vorstellungen an und bestimmen<br />

die Route. Dass junge Leute die Stadtführungen<br />

leiten, ist zentral für das<br />

Projekt: Sie stehen täglich vor ähnlichen<br />

Kaufentscheidungen wie die jugendlichen<br />

Teilnehmer – so kann ein Dialog<br />

entstehen. Für viele Stadtführer bietet<br />

die konsumGLOBAL-Regionalgruppe<br />

aber auch die Möglichkeit, sich mit<br />

Gleichgesinnten auszutauschen und<br />

eigene Ideen zu verwirklichen.<br />

Warum richtet sich das Projekt insbesondere<br />

an Jugendliche<br />

Konsumgüter wie zum Beispiel<br />

Kleider spielen in diesem Alter eine<br />

wichtige Rolle, um sich abzugrenzen oder<br />

zu einer Gruppe zu gehören. Jugendliche<br />

beginnen, ihr eigenes Konsumverhalten<br />

zu entwickeln. Das weiss auch<br />

die Konsumgüterindustrie und umwirbt<br />

Jugendliche darum ganz besonders.<br />

Mit konsumGLOBAL wollen wir die Hintergründe<br />

und Konsequenzen unseres<br />

täglichen Konsums aufzeigen.<br />

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von<br />

den Teilnehmern<br />

Die meisten Rückmeldungen sind<br />

sehr positiv. Lehrpersonen schätzen<br />

den ungewohnten Rahmen ausserhalb des<br />

Schulzimmers. Sie finden, dass sich<br />

eine konsumGLOBAL-Stadtführung gut<br />

als Einstieg ins Thema Globalisierung<br />

eignet. Den Jugendlichen gefällt, dass<br />

Personen, die nicht viel älter sind als<br />

sie, die Führung durchführen und ihre<br />

Meinung ernst nehmen.<br />

Wie soll sich das Projekt weiterentwickeln<br />

Im Moment bauen wir eine<br />

Regionalgruppe Aargau auf, die in Aarau,<br />

Baden und Wohlen Stadtführungen<br />

durchführen wird. Gerne würden wir auch<br />

in Zürich mit konsumGLOBAL starten<br />

und längerfristig vielleicht auch noch in<br />

weiteren Städten der <strong>Schweiz</strong>. Auch<br />

inhaltlich sind wir in Zusammenarbeit<br />

mit den Regionalgruppen laufend<br />

daran, die Stadtführungen weiterzuentwickeln.<br />

So werden wir dieses Jahr<br />

Grundlagen erarbeiten, die eine bessere<br />

Einbettung der Stadtführung in den<br />

Unterricht erlauben – mit Ideen zur Vorund<br />

Nachbereitung und weiterfüh renden<br />

Informationen.<br />

Kontakt: Ökozentrum, Martina Patscheider,<br />

martina.patscheider@oekozentrum.ch<br />

67


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

angepasst,<br />

widerstandsfähig,<br />

umweltschonend<br />

Wissenschaftler, Kleinbauern, Spinnereien und Textilhandel<br />

arbeiten im Projekt ‹Green Cotton› zusammen, um<br />

neue Biobaumwollsorten zu züchten. Diese sind optimal<br />

an die Anbaubedingungen in Zentralindien angepasst,<br />

sie sind widerstandsfähig gegenüber extremen Wetterbedingungen<br />

– und damit eine Antwort auf die Folgen des<br />

Klimawandels.


Text / Dr. Monika Messmer<br />

Die Nachfrage nach biologischen Baumwolltextilien<br />

hat in den vergangenen<br />

Jahren stark zugenommen. Aus guten<br />

Gründen: Der Biolandbau verzichtet<br />

bewusst auf den Einsatz synthetischer<br />

Dünger und Pestizide. Der ressourcenschonende<br />

Biolandbau mit geschlossenen<br />

Kreisläufen ermöglicht eine<br />

umweltschonende Produktion ohne gesundheitliche<br />

Risiken und vermindert<br />

die Abhängigkeit der Kleinbauern von<br />

Krediten für Agrochemikalien. In<br />

Kombination mit fairem Handel trägt<br />

diese Anbauform zur Nachhaltigkeit<br />

in der Baumwollproduktion bei. Sie verbessert<br />

die Einkommens- und Ernährungssicherung<br />

von Kleinbauern und<br />

fördert die ländliche Entwicklung.<br />

Bedrohung der BioProduktion<br />

Der weltweite Biobaumwollanbau erreichte<br />

2009 / 2010 eine Produktion von<br />

241 000 Tonnen Baumwollfasern. Über<br />

80 Prozent der Biobaumwolle wurde in<br />

Indien produziert und bot über 200 000<br />

Kleinbauern mit durchschnittlich ein<br />

bis zwei Hektar Land in heissen und<br />

trockenen Regionen eine echte Einkommensgrundlage.<br />

Doch die Zukunft<br />

der Biobaumwollproduktion ist durch<br />

die rasante Ausdehnung von so genannter<br />

‹Bt-Baumwolle› stark bedroht.<br />

Sie macht bereits 90 Prozent der Anbaufläche<br />

aus. Bt-Baumwolle ist gentechnisch<br />

veränderte Baumwolle, die ein Gen<br />

des Bakteriums ‹Bacillus thurigiensis›<br />

(Bt) enthält. Dieses Gen produziert in der<br />

Pflanze einen Giftstoff und sorgt damit<br />

für einen eingebauten Insektenschutz:<br />

Wenn die Larve des Baumwollkapselbohrers<br />

von dieser Pflanze frisst, ist dies<br />

für sie tödlich.<br />

Bereits in den Jahren 2011/12 kam<br />

es zu einem drastischen Rückgang<br />

(über 30 Prozent) der Biobaumwollanbaufläche<br />

in Indien. Dafür gibt es<br />

verschiedene Gründe: Zum einen führt<br />

die Vermischung der Biobaumwolle<br />

mit Bt-Baumwolle zur Aberkennung des<br />

Biolabels. Eine konsequente Trennung<br />

und Qualitätssicherung der gesamten<br />

Produktionskette bedeutet grosse Mehrkosten.<br />

Zudem konzentrieren sich<br />

Saatgutvermehrung und Züchtung von<br />

Baumwolle fast ausschliesslich auf gentechnisch<br />

veränderte Bt-Hybridsorten<br />

für Anbaubedingungen mit hohem Input<br />

an Dünger, Pestiziden und Bewässerung.<br />

Einheimische Bauwollarten, die an<br />

marginale Standorte angepasst sind,<br />

werden vernachlässigt. Mittler weile ist<br />

der Saatgutmarkt von Bt-freien Baumwollsorten<br />

völlig zum Erliegen gekommen.<br />

Bioproduzenten in Indien sind<br />

mit einem akuten Mangel an gentechnikfreiem<br />

Saatgut konfrontiert und vom<br />

Zuchtfortschritt abgeschnitten.<br />

Gentechnikfreie Züchtung<br />

Dieser Herausforderung möchte das Projekt<br />

‹Green Cotton› begegnen, das die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> in den Jahren<br />

2013 bis 2016 mit 623 500 Franken<br />

fördert: Das Forschungsinstitut für biologischen<br />

Landbau in Frick (FiBL) baut<br />

gemeinsam mit den indischen Biobaumwollorganisationen<br />

bioRe India und<br />

chetna organics (diese arbeiten jeweils mit<br />

4300 beziehungsweise 1200 Kleinbauern<br />

in Zentralindien zusammen) und mit<br />

der landwirtschaftlichen Universität<br />

Dharwad eine dezentrale Baumwollzüchtung<br />

auf, die gentechnikfrei bleibt<br />

und den Bedürfnissen des ökologischen<br />

und Low-Input-Anbaus entspricht.<br />

In einem innovativen transdisziplinären<br />

Ansatz werden Kleinbauern, Züchter,<br />

Forscher, Anbauberater, Spinnereien und<br />

der Textilhandel von Beginn an in diesen<br />

Prozess involviert. Das wichtigste Ziel<br />

des Projekts: Die Kleinbauern sollen<br />

durch eine koordinierte Zusammenarbeit<br />

aller Beteiligten ihren Saatgutbedarf<br />

für die nachhaltige Produktion von<br />

Biobaumwolle abdecken und die Bioanbauflächen<br />

in Indien sollen wieder<br />

ausgedehnt werden können. Langfristig<br />

soll die Autonomie der Kleinbauern<br />

gegenüber globalen Saatgutmärkten<br />

gesichert werden.<br />

Vier zentrale Aktivitäten<br />

Das Projekt ‹Green Cotton› ist Anfang<br />

2013 gestartet und knüpft nahtlos an seit<br />

2010 laufende Arbeiten im Bereich<br />

Saatgut von bioRe India, der Universität<br />

Dharwad und des FiBL an. So hat eine<br />

Masterarbeit aus dem Jahr 2011/12<br />

zur partizipativen Baumwollzüchtung<br />

bei bioRe India bereits wertvolle<br />

Vorarbeit geleistet. 2012/13 wurden in<br />

verschiedenen Sortenversuchen einheimische<br />

Baumwollsorten identifiziert,<br />

die für den Biolandbau geeignet sind.<br />

In Ergänzung zur Sortenprüfung werden<br />

im Projekt ‹Green Cotton› neue Sorten<br />

gezüchtet, die speziell an die jeweiligen<br />

Standorte angepasst sind und eine<br />

gute Faserqualität aufweisen. Vier<br />

Hauptaktivitäten prägen das Projekt<br />

‹Green Cotton›:<br />

— Vernetzung aller Stakeholder und<br />

Koordination der Projektaktivitäten:<br />

Momentan handeln die einzelnen<br />

Akteure in der biologischen Saatgutzüchtung<br />

noch sehr isoliert. Um die Saatgutsituation<br />

möglichst effizient zu<br />

verbessern, gilt es, Netzwerke aufzubauen<br />

und Strukturen für eine enge und<br />

vertrauensvolle Zusammenarbeit zu<br />

schaffen: Landwirte, Forscher, Züchter,<br />

Vermehrer, Verarbeiter und Händler<br />

sollen gemeinsam die wichtigsten Herausforderungen<br />

erarbeiten und daraus<br />

die konkreten Zuchtziele und den entsprechenden<br />

Forschungsbedarf ableiten<br />

und gemeinsam umsetzen. Es sind<br />

regelmässige Projekttreffen, Workshops<br />

und Tagungen geplant.<br />

69


Tätigkeitsbereich<br />

mensch und umwelt<br />

Die neuen Biobaumwollsorten sollen nicht nur<br />

an die verschiedenen Anbaubedingungen<br />

in Indien angepasst sein, Ziel der Züchtung<br />

ist auch eine gute Faserqualität.<br />

Baumwolle<br />

Baumwolle ist eine der wichtigsten landwirtschaftlichen<br />

Kulturen, die mehr als 100<br />

Millionen Menschen Arbeit und Einkommen<br />

sichert. Besonders in weniger entwickelten<br />

Regionen hängen über 40 Prozent der<br />

ländlichen Haushalte direkt vom Baumwoll-Sektor<br />

ab. Intensiver Anbau und eine<br />

intensive Bewässerung führen zu kontaminierten<br />

Böden, zum Rückgang des Grundwassers,<br />

zu Wüstenbildung und Versalzung<br />

und damit zu sinkender Bodenfruchtbarkeit<br />

und zu sinkenden Erträgen. Die stark<br />

schwankenden Preise für Baumwolle und die<br />

steigenden Preise für Dünger, Pestizide<br />

und Saatgut erhöhen das Verschuldungsrisiko<br />

von Kleinbauern. In Kombination mit<br />

fairem Handel trägt die ressourcen- und umweltschonende<br />

Biobaumwollproduktion<br />

zu Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft bei,<br />

sie verbessert die Einkommenssicherung<br />

und fördert die ländliche Entwicklung. Biobaumwolle<br />

erfreut sich einer weltweit<br />

steigenden Nachfrage mit einer jährlichen<br />

Wachstumsrate von 15 bis 20 Prozent.<br />

— Kapazitätsaufbau in partizipativer<br />

Züchtung und Saatgutvermehrung:<br />

An jedem Standort (bei bioRe India in<br />

Madhya Pradesh, bei Chetna Organic<br />

in Orissa und an der Universität Dharwad)<br />

wird je ein Agronom ausgebildet, der<br />

langfristig die Hauptverantwortung für<br />

die lokalen Züchtungsaktivitäten<br />

übernimmt. Workshops schulen Kleinbauern<br />

in Sortenevaluierung, Einzelpflanzenselektion,<br />

Saatgutvermehrung<br />

und Kreuzungserstellung. Das Wissen<br />

wird anschliessend von den Kleinbauern<br />

umgesetzt.<br />

— Erhaltung und Erzeugung<br />

genetischer Diversität der einheimischen<br />

Desi-Baumwolle für die Anpassung an<br />

abiotische und biotische Stressfaktoren:<br />

Es werden die bisher züchterisch<br />

vernachlässigten einheimischen Desi-<br />

Baumwollsorten gesammelt und<br />

gekreuzt, da diese widerstandsfähiger<br />

gegenüber umweltbedingten Stressfaktoren<br />

wie zum Beispiel Trockenheit<br />

sind und weniger stark von Schädlingen<br />

und Krankheiten befallen werden.<br />

Die Neuzüchtung von Desi-Baumwollsorten<br />

ist eine wichtige Strategie,<br />

um sich auf die Zunahme von widrigen<br />

Wetterbedingungen in Folge des<br />

Klimawandels vorzubereiten und die<br />

Anbaurisiken zu minimieren.<br />

— Standortangepasste Selektion<br />

von fortgeschrittenem Zuchtmaterial:<br />

Parallel zur Entwicklung neuer<br />

Desi-Baumwollsorten wird bereits<br />

vorliegendes, erfolgversprechendes<br />

Züchtungsmaterial unter lokalen<br />

Bedingungen in mehrjährigem Anbau<br />

geprüft. Auswahlkriterien sind dabei<br />

gewünschte Sortenmerkmale, die<br />

Beurteilung der Züchter sowie nationale<br />

Sortenprüfungen. Bereits nach vier<br />

Jahren sollen vielversprechende Zuchtstämme<br />

für einen Pilotanbau bei<br />

interessierten Kleinbauern zur Verfügung<br />

stehen.<br />

Anpassung an den Klimawandel<br />

Der dezentrale und partizipative Ansatz<br />

des Projekts gewährleistet, dass eine<br />

Vielzahl genetisch diverser Sorten entsteht,<br />

die an die jeweiligen Anbaubedingungen<br />

angepasst sind und die Zuchtziele sowohl<br />

die Interessen der Kleinbauern als<br />

auch den Bedürfnissen der Textilindustrie<br />

entsprechen. Die Kleinbauern werden<br />

in die Lage versetzt, die für sie am besten<br />

geeigneten Sorten selbst zu erkennen,<br />

zu züchten und zu vermehren. Dieser Züchtungsansatz<br />

stellt ein Modell dar, wie<br />

mit überschaubaren Investitionen verbesserte<br />

Sorten entwickelt, die Vielfalt auf<br />

dem Feld erhöht und somit die Anpassung<br />

an den Klimawandel verbessert werden<br />

kann. Dies ist ein sehr anspruchsvoller Ansatz,<br />

da es einen grossen Koopera tionsund<br />

Trainingsaufwand beinhaltet. Er hat<br />

aber den Vorteil, dass die Umsetzung<br />

der neu gewonnenen Erkenntnisse schon<br />

während der Projektphase in die Praxis<br />

gewährleistet wird und zu nachhaltigeren<br />

und autonomen Problemlösungen führt.<br />

Dr. Monika Messmer leitet auf Seiten des<br />

<strong>Schweiz</strong>er Forschungsinstituts für biologischen<br />

Landbau das Projekt ‹Green Cotton›.<br />

monika.messmer@fibl.org<br />

70 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Kleinbauern sind von Anfang an in das Projekt<br />

involviert. Sie lernen, die für sie am besten<br />

geeigneten Biobaumwollsorten zu erkennen,<br />

zu züchten und zu vermehren.


Engagiert<br />

Jeder kann<br />

etwas bewirken<br />

Mirjam Walser<br />

STEP into action<br />

Ausgestaltung eines Workshops mitgeholfen,<br />

die Pressemeldung für die Deutschschweiz bearbeitet<br />

und die Webseite gepflegt. Innerhalb<br />

kurzer Zeit erhielt ich einen Einblick in verschiedene<br />

Aspekte der Eventorganisation. Am Tag des<br />

Parcours selbst habe ich einen Workshop<br />

zum Thema Überfischung betreut. Meine Bedenken,<br />

dass sich die Jugendlichen nicht für diese<br />

Thematik interessieren liessen, waren unbegründet.<br />

In den kleinen Gruppen entwickelten sich<br />

schnell spannende Diskussionen.<br />

«Changemaker gesucht! Dynamisch, jung, Lust<br />

etwas zu bewegen» Das Plakat gesichtet, eine<br />

E-Mail geschrieben – und schon war ich im Team<br />

von euforia und mitten drin in der Organisation<br />

von STEP into action. Das Ziel dieses interaktiven<br />

Parcours: Er soll Jugendliche für die Zusammenhänge<br />

in einer globalisierten Welt sensibilisieren<br />

und das Potenzial und die Auswirkungen des<br />

eigenen Handelns erfahrbar machen. Ausserdem<br />

werden den Jugendlichen konkrete Möglichkeiten<br />

des Engagements in ihrem lokalen Umfeld<br />

aufgezeigt. Rund 700 Schülerinnen und Schüler<br />

nahmen mit ihren Klassen am STEP into action<br />

in Genf teil und machten jenen 13. November 2012<br />

für mich zu einem einmaligen Erlebnis.<br />

Konkrete Möglichkeiten<br />

Um die Schulklassen auf den Parcours vorzubereiten,<br />

haben wir diese in den Wochen zuvor besucht.<br />

Es war eine bereichernde Erfahrung, vor<br />

einer Klasse zu stehen und ihre kritischen Fragen<br />

zum Thema Nachhaltigkeit und Engagement<br />

zu besprechen. Die Jugendlichen waren durchaus<br />

über Umweltprobleme oder soziale Missstände<br />

informiert. Sie sahen jedoch kaum Möglichkeiten,<br />

in diesem Bereich etwas verändern zu können.<br />

Die Aussage «da kann man sowieso nichts dagegen<br />

tun» hörte ich oft – und gerade deshalb wollte<br />

ich ihnen das Gegenteil vermitteln: Man muss<br />

nicht alleine die ganze Welt revolutionieren, alle<br />

Beiträge zusammen können eine nachhaltige<br />

Veränderung in der Gesellschaft bewirken! STEP<br />

into action bietet Jugendlichen konkrete Aktionsmöglichkeiten<br />

und fördert ihre Initiativen.<br />

Durch den persönlichen Kontakt und den<br />

positiven Zugang zum Thema sollen sie erleben,<br />

dass gesellschaftliches Engagement wichtig ist<br />

und Spass macht.<br />

Die vielen Stunden, die ich für das Projekt<br />

investiert habe, haben sich auf allen Ebenen<br />

gelohnt. Mit euforia habe ich eine Organisation<br />

gefunden, die bewegt und in der ich selbst<br />

etwas bewirken kann. Der Weg über ein Bildungsprojekt<br />

scheint mir besonders wertvoll zu sein,<br />

um eine Generation junger ‹Changemaker›<br />

für wirkungsvolles Engagement zu begeistern und<br />

einen bewussten Umgang mit natürlichen Ressourcen<br />

nachhaltig zu verankern. Ich bin bereits<br />

gespannt auf die nächste Ausgabe des STEP<br />

into action im Herbst 2013 in Basel und Zürich!<br />

Einblicke in die Eventorganisation<br />

Doch wie kam es dazu Mehr als ein Jahr minutiöser<br />

Planung war notwendig, um einen perfekt<br />

organisierten und abwechslungsreichen Parcours<br />

auf die Beine zu stellen. Ich stiess in der finalen<br />

Organisationsphase dazu und wurde sofort mit<br />

verschiedenen Aufgaben betraut: Ich habe bei der<br />

Mirjam Walser (26) studiert in Zürich Kunstgeschichte und<br />

Politikwissenschaften. Sie arbeitet ehrenamtlich für die<br />

Non-Profit-Organisation euforia, um Jugendlichen zu zeigen,<br />

dass gesellschaftliches Engagement sinnvoll ist und vor allem<br />

auch Spass macht. Mit der Hilfe von euforia hat sie zudem<br />

mit vier anderen jungen Leuten ihr eigenes Projekt ‹Krumme<br />

Gurke› entwickelt. Der Verein hat zum Ziel, die Lebensmittelverluste<br />

bei der landwirtschaftlichen Produktion zu verringern.<br />

72 <strong>Mercator</strong> Magazin 01 / 13


Kalender<br />

Impressum<br />

<strong>Mercator</strong> Magazin, Ausgabe 01 / 13<br />

Herausgeber /<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

redaktion / Nadine Fieke<br />

bildnachweis / Jonas Jäggy (Cover,<br />

S. 1, 5, 10 — 19, 24 — 29, 33, 34 — 38,<br />

42 — 45) / Bernhard Fuchs (S. 2) / Nicole<br />

Bräm (S. 3) / Fachhochschule Nordwestschweiz<br />

(S. 4) / Helvetas, Emanuel<br />

Freudiger (S. 5) / Brigit Rufer (S. 30,<br />

62 — 66, 72) / Idée:sport (S. 40) / Nadine<br />

Schalbetter (S. 46 — 47) /careACT<br />

(S. 48 — 49) / OxIMUN (S. 48) / Till<br />

Horvath (S. 51) / Joel Sames (S. 52 — 59) /<br />

<strong>Stiftung</strong> Dialog (S. 60 — 61) / Monika<br />

Messmer, Matthias Klaiss (S. 68 — 71)<br />

gESTALTUNG / Rob & Rose<br />

Lithografie / Andreas Muster, Basel<br />

druck / Odermatt AG, Dallenwil<br />

papier / PlanoPlus 90 g/m 2<br />

auflage / 1500 Exemplare<br />

© 2013, <strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

SC2013052401<br />

Kontakt<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Gartenstrasse 33<br />

Postfach 2148,<br />

CH – 8022 Zürich<br />

Tel. + 41 ( 0 ) 44 206 55 80<br />

info@stiftung - mercator.ch<br />

www.stiftung - mercator.ch<br />

Ansprechpartner Projekte<br />

Beno Baumberger<br />

b.baumberger@stiftung - mercator.ch<br />

— Engagier dich!<br />

— <strong>Schweiz</strong>erische Geschichtstage<br />

Nadine Felix<br />

n.felix@stiftung - mercator.ch<br />

— Personalisiertes Lernen in<br />

heterogenen Lerngemeinschaften<br />

— Schulen lernen von Schulen<br />

— SWiSE<br />

Sara Fink<br />

s.fink@stiftung - mercator.ch<br />

— ChagALL<br />

— CHANSON<br />

— ElternWissen – Schulerfolg<br />

— Pathways to Success<br />

— Projekter<br />

— STEP into Action<br />

Patric Schatzmann<br />

p.schatzmann@stiftung-mercator.ch<br />

— Bildungs-Café<br />

— LIFT<br />

— Platz:Box<br />

Olivia Schaub<br />

o.schaub@stiftung-mercator.ch<br />

— Ausstellung ‹Wir essen die Welt›<br />

— Graduiertenprogramm<br />

‹Gerechtigkeit in praktischen<br />

Kontexten›<br />

— <strong>Mercator</strong> Kolleg<br />

Regula von Büren<br />

r.vonbueren@stiftung - mercator.ch<br />

— Blickfelder<br />

— Green Cotton<br />

— konsumGLOBAL<br />

— Tagung Umweltbildung<br />

— Umweltschulen – Lernen<br />

und Handeln<br />

juni<br />

26.06.2013<br />

Verleihung der<br />

<strong>Mercator</strong> Awards<br />

Ein Jahr nach seiner Eröffnung lädt<br />

der Graduate Campus der Universität<br />

Zürich ab 17 Uhr zu seiner<br />

Jahresveranstaltung in die Aula<br />

ein: Ein Vortrag und eine Podiumsdiskussion<br />

beschäftigen sich mit<br />

der Frage «Welche Perspektiven<br />

bieten wir unserem wissenschaftlichen<br />

Nachwuchs». Im Rahmen<br />

der Veranstaltung verleiht eine interdisziplinäre<br />

Jury die <strong>Mercator</strong> Awards<br />

an herausragende gesellschaftsrelevante<br />

Forschungsarbeiten von<br />

Nachwuchswissenschaftlern.<br />

www.grc.uzh.ch<br />

27.06.2013<br />

Begabtenförderung<br />

in der <strong>Schweiz</strong><br />

Im Bildungs- und Forschungsbereich<br />

haben die Diskussionen um private Ergänzungs-<br />

und Spezialleistungen<br />

zugenommen. Dies betrifft auch den<br />

Bereich der Begabtenförderung. Eine<br />

wachsende Zahl von Akteuren bewegt<br />

sich in der Förderlandschaft junger<br />

Talente. Das Symposium des Centre<br />

for Philanthropy Studies der Universität<br />

Basel möchte ein Gesamtbild<br />

und ein Netzwerk der Begabtenförderung<br />

aufbauen. Die Veranstaltung<br />

findet ab 9 Uhr im Kollegienhaus der<br />

Universität Basel statt.<br />

www.ceps.unibas.ch<br />

juli<br />

08.— 11. 07. 2013<br />

Sommerakademie<br />

Bei der 6. Sommerakademie von<br />

Infoklick.ch in Engelberg dreht sich<br />

alles um Grenzen: Wo sind sie nötig<br />

und wo begrenzen sie die Entwicklung<br />

Welches Mass an Grenzen<br />

braucht es Und welche Rolle spielen<br />

sie im Alltag von Jugendlichen<br />

Kinder- und Jugendförderungsakteure<br />

aus Praxis, Wissenschaft, Politik<br />

und Verwaltung setzen sich in<br />

Workshops und Vorträgen mit dem<br />

Thema ‹Grenzgänger – Jugendliche<br />

zwischen Faszination und Grenzüberschreitung›<br />

auseinander. Die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>Mercator</strong> <strong>Schweiz</strong> bietet an<br />

der Sommerakademie den Workshop<br />

‹So funktionieren <strong>Stiftung</strong>en› an.<br />

Die Teilnehmer erhalten Einblicke in<br />

Aufbau, Vielfalt, Entscheidungsprozesse<br />

und Ziele von <strong>Stiftung</strong>en.<br />

www.infoklick.ch/sommerakademie<br />

august<br />

04.—18. 08. 2013<br />

TheaterFlucht<br />

Kinder aus der <strong>Schweiz</strong> mit und ohne<br />

Migrationshintergrund erarbeiten<br />

zwei Wochen lang zusammen mit<br />

Kindern aus Durchgangszentren eine<br />

Aufführung mit Theaterimprovisation,<br />

Gesang und Tanz. Auf kreative Weise<br />

können sie sich mit Themen wie<br />

Flucht, Integration und Rassismus<br />

auseinandersetzen und gegenseitige<br />

Vorurteile abbauen. Zwischen Juni<br />

und Oktober 2013 findet das Begegnungsprojekt<br />

der Friedensorganisation<br />

Service Civil International in<br />

acht <strong>Schweiz</strong>er Städten statt – vom<br />

4. bis 18. August 2013 in Lausanne.<br />

www.theaterflucht.ch<br />

september<br />

26.—27. 09. 2013<br />

ScienceComm’13<br />

Der jährliche Kongress Science-<br />

Comm von Science et Cité vernetzt<br />

<strong>Schweiz</strong>er Akteure der Wissenschaftskommunikation.<br />

Im Théâtre<br />

L'heure bleue in La Chaux-de-Fonds<br />

diskutieren Vertreter von Museen,<br />

Schülerlaboren, Hochschulen und<br />

Wissenschaftsfestivals, Presse- und<br />

Öffentlichkeitsarbeitsstellen sowie<br />

Wissenschaftsjournalisten und<br />

Bildungspolitiker zum Jahresthema<br />

‹Herausforderungen und Grenzen<br />

der Wissenschaftskommunikation›.<br />

www.sciencecomm.ch<br />

Oktober<br />

06.—09. 10. 2013<br />

World Resources<br />

Forum<br />

Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft,<br />

Politik und Gesellschaft<br />

suchen beim World Resources Forum<br />

in Davos nach Antworten auf Fragen<br />

des rasant steigenden Ressourcenverbrauchs.<br />

Im Zentrum stehen<br />

2013 die Themen ‹Ressourceneffizienz<br />

und Governance›, ‹Nachhaltige<br />

Betriebe und Industrie›, ‹Nachhaltige<br />

Städte und Infrastruktur›<br />

und ‹Lebensstil und Bildung›.<br />

www.worldresourcesforum.org

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