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Hödl, Orishas... © H. Gerald Hödl 2004 1 Orishas, Heilige, Exodus und

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<strong>Orishas</strong>, <strong>Heilige</strong>, <strong>Exodus</strong> <strong>und</strong> Babylon.<br />

Inkulturation „von unten“ in afroamerikanischen Religionen.<br />

Hans <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong><br />

Vorbemerkung: dies ist er Vortragstext vom 19.05.04; er ist nicht endkorrigiert <strong>und</strong> es fehlen<br />

die meisten Verweise auf Literatur, Quellen <strong>und</strong> weiter zu diskutierende Fragen. Teilweise<br />

sind Formulierungen aus meinen Publikationen übernommen, die für eine<br />

publikationsreife Gestaltung dieses Textes noch umgearbeitet werden müssen (indem<br />

referiert <strong>und</strong> auf die Texte, die hier wörtlich übernommen oder leicht paraphrasiert worden<br />

sind, verwiesen)<br />

1. Einführender Überblick<br />

Unter afroamerikanischen Religionen versteht man religiöse Gruppierungen, die in den Amerikas<br />

unter den aus Afrika verschleppten Sklaven <strong>und</strong> deren Nachkommen entstanden sind. Damit ist<br />

eine große Bandbreite an Religionen gemeint, unter denen sich (1) solche finden, die die<br />

autochthonen afrikanischen Traditionen erhalten, weitergeführt <strong>und</strong> in verschiedenem Grad mit<br />

Elementen des Christentums, des Spiritismus, indigener amerikanischer Traditionen <strong>und</strong> anderen<br />

Religionen zu neuen religiösen Bewegungen geformt haben. Andererseits bezeichnet man auch (2)<br />

afrikanisch geprägte christliche Denominationen („Black Churches“, v.a. in den USA), (3) religiöspolitische<br />

Bewegungen, (4) den „Black Catholicism“ <strong>und</strong> (5) die spezifischen Formen des<br />

sunnitischen Islam unter der afroamerikanischen Bevölkerung der USA („Black Muslims“) als<br />

afroamerikanische Religionen.<br />

Ich gehe im folgenden hauptsächlich auf die unter (1) genannten religiösen Gruppierungen, die<br />

afroamerikanischen Kultgemeinschaften, die man als Transformationen indigener afrikanischer<br />

Kulte betrachten kann, ein. Danach wird ein kurzer, beispielhafter, vergleichender Blick auf<br />

afrikanisch geprägtes Christentum <strong>und</strong> den Rastafarianismus, den man als religiös-politische<br />

Bewegung einstufen kann, geworfen. Mein Hauptperspektive werden die unterschiedlichen<br />

Adaptierungen von christlicher Ikonographie <strong>und</strong> biblischer Symbolik in den genannten<br />

Gruppierungen bilden. Zuletzt soll gefragt werden, ob diese Phänomene mit dem<br />

Inkulturationsparadigma adäquat erfaßt werden können.<br />

2. Afroamerikanische Religionen in Brasilien <strong>und</strong> in der Karibik<br />

2.1. hauptsächliche Merkmale<br />

Ihre wichtigsten Merkmale sind (1) die Verehrung von Geistwesen (nicht nur) afrikanischer<br />

Herkunft, der Orisha (engl. Schreibweise, vom Yorùbá-Wort òrìşà, bras.: Orixá), in der Karibik <strong>und</strong><br />

dem Süden der USA auch Vodou oder Loa (Bezeichnungen, die aus dem Ewe <strong>und</strong> Fon stammen)<br />

genannt. Die Religion der Yorùbá kennt einen für den Kosmos letztverantwortlichen deus otiosus,<br />

Olódùmarè.<br />

1<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


(1) Olódù, der Sprössling der Boa.<br />

(2) Olódù, der nicht geht, sich nicht verändert, bestehen bleibt.<br />

(3) Derjenige, der das Zepter mit der Krone verbindet.<br />

(4) Ol-odù-kàrì. ein Name, der denjenigen nennt, der höchste Vollkommenheit besitzt<br />

Nicht er steht aber im Zentrum des religiösen Lebens, sondern die òrìşà, Wesenheiten, die<br />

Eigenschaften deszendierter Gottheiten mit denen von Naturgottheiten <strong>und</strong> Kulturheroen<br />

vereinigen. Der Name òrìşà selbst wird entweder als ohun-tí-a-ríşà erklärt, was so viel bedeutet wie<br />

„das was gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gesammelt wurde oder aus Orí („Kopf“) <strong>und</strong> şè („beginnen“) abgeleitet,<br />

dann bedeutete der Name soviel wie „Quelle des Orí“.<br />

Versuche, ein fixes Pantheon zu ermitteln, sind aufgr<strong>und</strong> der oralen Traditionsbildung <strong>und</strong> großer<br />

regionaler Unterschiede zum Scheitern verurteilt. In den afroamerikanischen Kulten sind aber<br />

bestimmte òrìşà (resp. ihre Pendants bei den Ewe <strong>und</strong> Fon) ins Zentrum der Verehrung gelangt.<br />

(2) der Mediumismus, mittels dessen sich bestimmte òrìşà in initiierten Adepten manifestieren <strong>und</strong><br />

(3) der Gebrauch des Ifá-Orakels, der aus der Religion der Yorùbá stammt (im Vodun der Ewe gibt<br />

es ein ähnliches System, Afa). Im Wesentlichen teilen die afroamerikanischen Kulte Züge der<br />

Kosmologie der Yorùbá, die von einem zweigeteilten Kosmos, ayé (Welt) <strong>und</strong> òrun (Himmel)<br />

ausgeht, oft als die beiden Hälften einer Kalebasse dargestellt. Zentral ist das Konzept von aşe, der<br />

Lebenskraft, die, von Olódùmarè gegeben, von jedem Individuum in einzigartiger Weise besessen<br />

wird. Alle Dinge besitzen aşe, Götter, Ahnen, Geister, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, aber auch<br />

Worte wie Lieder, Gebete, Lobgesänge, Flüche, sogar das alltägliche Gespräch. Aşe ist wesentlich<br />

eine performative Kraft, die mit Aktivität zunimmt <strong>und</strong> mit Passivität abnimmt. Die in den<br />

afroamerikanischen Religionen dominante kultische Orientierung <strong>und</strong> die zentrale Praxis der Opfer<br />

an die Orisha beruht auf dieser Konzeption.<br />

2.1. Geschichte<br />

Die Geschichte der afroamerikanischen Religionen beginnt mit dem transatlantischen<br />

Sklavenhandel. In der Regel läßt man dessen Vorgeschichte mit dem Jahr 1441 beginnen, als Antam<br />

Goncalves an der Westküste der Sahara ein Paar entführte <strong>und</strong> es seinem Herrscher, Prinz Heinrich<br />

dem Seefahrer, zum Geschenk brachte. Zu dieser Zeit bestand jedoch bereits sowohl eine Tradition<br />

der Haltung afrikanischer Sklaven in Südeuropa, als auch ein System der Sklaverei in Westafrika, an<br />

die der Sklavenhandel anknüpfen konnte. Die alten westafrikanischen Reiche Gana, Mali <strong>und</strong><br />

Songhay hatten seit ungefähr 700 n. Chr. mit arabischen Kaufleuten Gold- <strong>und</strong> Salzhandel über die<br />

Sahara getrieben. Ihre Herrscher waren in der Regel zum Islam übergetreten. Die muslimischen<br />

Herrscher versklavten ihre Kriegsgefangenen, aber auch in den traditionell afrikanischen Reichen<br />

wurden Sklaven aus Kriegsgefangenen rekrutiert, aber auch Delinquenten mit dem Sklavenstatus<br />

bestraft. Wichtig für die Entstehung des transatlantischen Sklavenhandels war, dass es den<br />

2<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


Portugiesen im Laufe des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts durch Umschiffung der westafrikanischen Küste gelang,<br />

den Transsaharahandel resp. die Küstenregion von Senegambia, wo die Mauren <strong>und</strong> Wolof den<br />

Gold- <strong>und</strong> Sklavenhandel kontrollierten, zu umgehen <strong>und</strong> sich direkten Zugang zu den<br />

westafrikanischen Goldquellen zu verschaffen. Im Austausch für das Gold lieferten sie den Akan<br />

zunächst Feuerwaffen, deren Verkauf jedoch bald vom Papst verboten wurde, um die Gefahr, dass<br />

diese in die Hände der Muslime gelangten, zu bannen. Das zu dieser Zeit expandierende Reich von<br />

Benin verfügte über eine große Menge an Kriegsgefangenen, die sie den Portugiesen verkauften, die<br />

diese wiederum den Akan gegen Gold weiter verkauften. Als Benin aufhörte, Sklaven zu verkaufen,<br />

erschlossen die Portugiesen neue Sklavenmärkte weiter im Osten, aus dem Nigerdelta <strong>und</strong> aus<br />

Igboland. Ausserdem bezogen sie zunächst Sklaven aus dem Königreich Kongo, dessen Herrscher<br />

Afonso Mbemba Nzinga (herrschte von 1506-1543) sich, wie schon sein Vater, eng an das<br />

Christentum anschloß. Nachdem dieser den Sklavenhandel beschränkte, gründeten die Portugiesen<br />

den Umschlagplatz Luanda. Zunächst wurden die Sklaven, die nicht am afrikanischen Kontinent<br />

verkauft wurden, auf die kapverdischen Inseln, die iberische Halbinsel, nach Madeira <strong>und</strong> auf die<br />

kanarischen Inseln verschifft, von wo aus sie nach den Amerikas gebracht wurden. Seit 1532 hatte<br />

der direkte Export von Sklaven in die Amerikas begonnen. Dieser kann somit auch als eine durch<br />

neue Nachfrage entstandene Ausdehnung der Zwischenhändlertätigkeit der portugiesischen<br />

Seefahrer, die zunächst den afrikanischen <strong>und</strong> südeuropäischen Markt beliefert hatten, angesehen<br />

werden. Es bildete sich die gemeinhin als „Dreieckshandel“ bezeichnete Form des transatlantischen<br />

Handels heraus, in der Industriewaren von Europa nach Afrika, Sklaven von Afrika nach den<br />

Amerikas <strong>und</strong> Kolonialwaren aus den Amerikas nach Europa gebracht wurden. Die Überfahrt auf<br />

den Sklavenschiffen hieß entsprechend „Middle Passage“.<br />

Diese Passage bedeutete, dass die Sklaven, Angehörige unterschiedlicher Völker mit verschiedenen<br />

Sprachen, nachdem sie den Transportweg zu den Umschlagplätzen aneinandergeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

bewacht hinter sich gebracht hatten, zumeist ohne genaue Vorstellung vom Ziel ihrer Reise – die<br />

Europäer wurden etwa für Meereslebewesen aus dem Land der Toten gehalten, deren schwarze<br />

Schuhe aus der Haut von Afrikanern gemacht sei <strong>und</strong> deren Getränk, der Rotwein, Blut von<br />

Afrikanern sei –eng zusammengepfercht bei sich aus dieser Lage ergebenden Magen-Darm-<br />

Erkrankungen zwei bis drei Monate zubrachten. An Deck gab es auf dem durchschnittlichen<br />

Sklavenschiff 0,4 Quadrameter Platz pro Sklave, die Sterblichkeitsrate wird auf über 50% geschätzt,<br />

wobei die meisten schon vor der Verschiffung starben. Ein 1756 aus dem Igboland im Alter von elf<br />

Jahren verkaufter Sklave hat die Situation am Sklavenschiff folgendermaßen geschildert:<br />

„Die räumliche Enge <strong>und</strong> die Hitze [...] raubten einem den Atem. Dadurch schwitzte man noch<br />

mehr, so daß die Luft durch die schlechten Ausdünstungen schwer wurde; viele Sklaven wurden<br />

krank <strong>und</strong> starben [...] Diese erbärmlichen Verhältnisse wurden durch die [...] Ketten noch<br />

verschlimmert [...] <strong>und</strong> durch den Dreck der Notdurftkübel, in die manchmal die Kinder fielen <strong>und</strong><br />

fast erstickten. Die Schreie der Frauen <strong>und</strong> das Stöhnen der Sterbenden – all das bot ein Bild<br />

3<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


unvorstellbaren Grauens.“ (zit. nach Iliffe, 184)<br />

Bis zur Mitte des 17.Jahrh<strong>und</strong>erts wurden afrikanischeSklaven hauptsächlich von Portugiesen nach<br />

Brasilien verbracht, in der Folge von Eroberungen im Norden Brasiliens <strong>und</strong> in Westafrika traten<br />

die Holländer in den Sklavenhandel ein <strong>und</strong> belieferten die Zuckerplantagen auf den britischen <strong>und</strong><br />

französischen Karibikinseln mit Sklaven. Dort hatte es zwar seit etwa 1510 schon afrikanische<br />

Sklaven gegeben1, der Beginn des Zuckeranbaus in der Karibik im 17. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> der<br />

Zuckerboom des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts steigerte aber die Nachfrage nach Sklaven enorm. In der Folge<br />

beteiligten sich dann Engländer <strong>und</strong> Franzosen selbst an den Sklaventransporten, die im achzehnten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert ihre größte Ausdehnung annahmen2. An den klassischen Umschlagplätzen des<br />

Sklavenhandels, der Karibik, in die etwa 42 % der exportierten Sklaven verbracht worden waren <strong>und</strong><br />

in Brasilien (v.a. Salvador de Bahia), wohin etwa 38 % gebracht worden waren, bildeten sich dann<br />

auch die afroamerikanischen Religionen, als Folgeerscheinung des transatlantischen Sklavenhandels<br />

heraus. Diese sind, den Herkunftsorten der Sklaven gemäß, insbesondere durch die<br />

westafrikanischen Religionen der Yorùbá, Fon <strong>und</strong> Ewe beeinflußt, aber auch durch Kulte aus<br />

Zentralafrika (Kongo <strong>und</strong> Angola, das Gebiet, aus dem vom Anfang bis zum Ende des<br />

Sklavenhandels durchwegs Sklaven geliefert worden waren). In der Zeit der allmählichen<br />

Abschaffung der Sklaverei (zwischen dem britischen Verbot des Sklavenhandels 1807 <strong>und</strong> der<br />

Abschaffung der Sklaverei in Brasilien 1888) werden Sklaven zunehmend aus Sklavenkindern <strong>und</strong><br />

weniger aus neuen Importen rekrutiert, was vielerorts erst eine Traditionsbildung ermöglicht.<br />

Deshalb sind die religiösen Traditionen der zuletzt in die Sklaverei verbrachten ethnischen Gruppen<br />

stärker in die Gestalt der afroamerikanischen Religionen eingegangen. In Kuba etwa sind die<br />

Yoruba, die in den früheren Perioden nicht viel mehr als 8% der importierten Sklaven gestellt<br />

hatten, in den Jahren 1850-70 die stärkste Gruppe3, mit über 36%. Deren Orisha wurden dabei mit<br />

katholischen <strong>Heilige</strong>ngestalten assoziiert. Frühere Forscher, die die christlichen Einflüsse als<br />

dominant betrachtet haben, haben darin einen Synkretismus erblickt, der christliche<br />

<strong>Heilige</strong>nverehrung mit den afrikanischen Göttergestalten verbinde. Aufgr<strong>und</strong> der besseren<br />

Erforschung der sowohl aus afrikanischer Tradition als auch wegen der Unterdrückungssituation für<br />

Nichtadepten geheim gehaltenen Kulte stellt man heute eher die Kulturleistung der Erhaltung <strong>und</strong><br />

Transformation der afrikanischen Traditionen unter erschwerten Bedingungen in den Mittelpunkt,<br />

die die christliche Ikonographie als Ausdrucksmittel, das zugleich der Camouflage diente, adaptiert<br />

hat. Die afroamerikanischen Religionen haben in den letzten Jahrzehnten insgesamt an Bedeutung<br />

gewonnen, indem sie sich über das ursprüngliche Verbreitungsgebiet <strong>und</strong> die afroamerikanische<br />

Anhängerschaft hinaus ausgebreitet haben. Weiters ist in deren Kontext auch eine Reafrikanisierung<br />

1 Also 7 Jahre vor der offiziellen „Begründung“ der Tradition schwarzer Sklaven in den Amerikas durch die Petition an<br />

den spanischen Kölnig, die u.a. von Las Casas unterzeichnet wurde (vgl. Bisnauth, 80).<br />

2 Vgl. Iliffe, 176ff; dort geschätzte Zahlen <strong>und</strong> Abwägugn derselben<br />

3 Statistik bei Brandon, 57ff.<br />

4<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


zu beobachten, eine neue Hinwendung zu den Ursprungstraditionen am afrikanischen Kontinent,<br />

die zu religionsgeschichtlich bedeutsamen Prozessen führt. Ich gehe im folgenden zunächst kurz auf<br />

die Geschichte der afrobrasilianischen <strong>und</strong> afrokaribuischen Religionen ein, um danach die Art der<br />

Verschmelzung von christlicher Ikonographie mit afrikanischer Religiosität am Beispiel einer<br />

afrokaribischen Religion, der kubanischen Santéria, beispielhaft zu skizzieren.<br />

Brasilien<br />

In Brasilien kann man neben den beiden großen Richtungen Candomblé (größererAnteil von<br />

Traditionen bantusprachiger Völker) <strong>und</strong> Umbanda noch Macumba, Xango, Batuque, Tambor de Mina,<br />

Nago u.a. kleinere Bewegungen nennen. Die afrobrasilianischen Religionen stehen in enger<br />

Verbindung mit anderen Bereichen der Kultur, mit Kunst, Musik, Tanz, Heilk<strong>und</strong>e. Für die<br />

Entwicklung dieser Traditionen waren die quilombos, Siedlungen von geflüchteten Sklaven, <strong>und</strong> die<br />

„Bruderschaften“ (Irmandades), in die die Sklaven organisiert worden sind, wichtig. Frauen der<br />

„Irmandade da Nossa senhora da Boa Morte“ (Schwesternschaft unserer Frau vom guten Tod)<br />

gründeten 1830 den ersten terreiro (Kultort) im Stadtzentrum „Barroquinha“ von Bahía <strong>und</strong> damit<br />

die erste Institution, die sich den Namen Candomblé gab. Heute gibt es in Brasilien ca. 2000, meist<br />

von Frauen geleitete terreiros. Wichtige Orixá, „Boten“ von Olorun (=Olódùmarè), sind u.a.: Oxala, der<br />

mit dem gekreuzigten Jesus assoziiert wird. Er entspricht Obàtálá, dem Hauptòrìşà von Ifé, dem<br />

spirituellen Zentrum <strong>und</strong> der mythischen Gründungsstadt der Yorùbá. Die Bezeichnung leitet sich<br />

von dessen anderem Namen Òrìşànla (= der große òrìşà) ab. Er spielt in der Kosmogonie der<br />

Yorùbá eine wichtige Rolle u.a. als derjenige, der den Körper der Menschen formt <strong>und</strong> gilt als<br />

Symbol moralischer Reinheit <strong>und</strong> ausgeglichenen Temperamentes. Yemanja, die brasilianische Form<br />

von Yemoja, die in Ifé als Gattin von Obàtálá gilt, eine Fruchtbarkeits- <strong>und</strong> Liebesgöttin, die Königin<br />

der Meere, ist, als Mutter der Orixá mit Maria von der Empfängnis assoziiert, der beliebteste Orixá<br />

Brasiliens. Nana Buruku ist eine mit der heiligen Anna verb<strong>und</strong>ene Wassergottheit (ursprgl. Ewe).<br />

Xangô, (Yorùbá: Şàngó; engl.: Shango) ist ein in den meisten afroamerikanischen Religionen<br />

bedeutender Orisha, der Züge einer Naturgottheit (Donner, Blitz) mit denen eines Kulturheroen<br />

(Elektrizität) <strong>und</strong> einer historischen Persönlichkeit, dem vierten Alafin (Herrscher) der Yorùbá-Stadt<br />

Oyo, vereinigt. Yansan (bras. für Oya, die Frau von Şàngó, eine Wettergottheit) wird mit der heiligen<br />

Barbara assoziiert, deren Vater der Legende nach vom Blitz erschlagen wurde, weil er sie wegen<br />

ihrer Konversion zum Christentum getötet hatte. Wichtig ist auch Ogun, der traditionelle Gott des<br />

Eisens, der Schmiede <strong>und</strong> der Jäger. Exu (Yorùbá: Eşu), der „Götterbote“ <strong>und</strong> Herr der Kreuzwege,<br />

bringt u.a. die Opfer der Menschen zu den Orixá. Die Ahnenverehrung ist in den brasilianischen<br />

Kulten weniger wichtig als in Afrika, im Zentrum steht axe, (bras. für aşe), die Kraft, die hilft, das<br />

Schicksal zu erfüllen <strong>und</strong> zu meistern, die Harmonie des Lebens zu erhalten, Glück zu erlangen,<br />

Unglück zu überwinden. Die Kultleiter sind der pai de santo oder die mae de santo, die Initiierten<br />

5<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


werden filha oder filho genannt: Sie dienen als Medien für die Orixa, deren Erscheinen in der Trance<br />

im Zentrum des Kultes steht. Die Orixá treten im Kopf (Yorùbá: ori) in ihre durch lange Initiation<br />

vorbereiteten Medien. Die Institution der Oga, männliche, unterstützende Mitglieder, die keine<br />

spirituelle Rolle spielen, aber als Vermittler zwischen den terreiros <strong>und</strong> der Gesellschaft wichtig sind,<br />

geht auf die lange Zeit der polizeilichen Repression der Kulte zurück. Der Kultort, terreiro, entweder<br />

ein eigenes Gebäude im Besitz einer Gruppe oder Person oder nur ein Raum in einem Haus oder<br />

einer Wohnung, ist als ganzes ein „heiliger“ (geweihter) Ort, besondere Räume aber (quartos de santo)<br />

stehen nur Eingeweihten zur Verfügung, während in den barraçaos, wo getrommelt <strong>und</strong> gesungen<br />

wird <strong>und</strong> sich auch viele Besessenheiten ereignen, Zutritt für alle besteht.<br />

Die Umbanda ist in den 1920er Jahren in Rio de Janeiro entstanden <strong>und</strong> in den 50er Jahren in Sao<br />

Paulo sehr populär geworden. Ursprünglich eine Religion der Unterprivilegierten, ist sie, bald von<br />

der Mittelschicht beherrscht, heute eine Religion aller sozialen Schichten. Als Unterschiede zum<br />

Candomblé lassen sich die größere Ausrichtung auf die Anliegen des Individuums, damit auch eine<br />

weniger starke Betonung der afrikanischen Elemente (im Sinne der Bewahrung), die eher in die<br />

moderne Welt integriert werden, nennen <strong>und</strong> ebenso eine deutlicher ausgeprägte synkretistische<br />

Tendenz, vor allem durch den Einbezug des Spiritismus von Allen Kardec. Umbanda ist stärker auf<br />

den Erfolg des Individuums bezogen, utilitaristischer geprägt als der Candomblé, in dem mehr Wert<br />

auf Selbstwerdung <strong>und</strong> Gruppenidentität gelegt wird.<br />

Karibik<br />

In der Karibik verschmelzen Elemente der Religionen der sehr bald ausgerotteten Ureinwohner, des<br />

Christentums, afrikanischer <strong>und</strong> indischer Religionen4. Man kann (theoretisch) 5 Gruppen unterscheiden. (1) Sog. Neo-Afrikanische Religionen, die Elemente<br />

afrikanischer Religionen mit dem katholischen <strong>Heilige</strong>nkult verbinden.<br />

(2) Aus dem Protestantismus abgeleitete, auf afrikanischen Elementen beruhende Religionen in Jamaica (Cumina,<br />

Convince), Grenada (Big Drum), Santa Lucia (Carriacou, Kele).<br />

(3) Sog. Erweckungsreligionen (Revivalists, Revivalist Movements), im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert im<br />

Zusammenhang mit Pfingstler-Bewegungen (Pentecoastal Churches <strong>und</strong> charismatischen<br />

protestantischen Bewegungen, zumeist aus den USA) entstanden.<br />

(4) Die Praktiken der Divination <strong>und</strong> Heilung durch Mediumismus stehen im Zentrum des Espiritismo in<br />

Puerto Rico <strong>und</strong> des Maria Lionza-Kultes in Venezuela (Parallelen zur Umbanda).<br />

(5) Religiös-politische Bewegungen, oft mit dem Ziel einer Repatriierung der aus Afrika stammenden<br />

amerikanischen Bevölkerung, wie die Rastafaris <strong>und</strong> Dreadlocks in Jamaica, die sich über die Karibik<br />

4 (Inder waren nach dem Ende der Sklaverei – in der britischen Karibik bereits 1832 – als Kontraktarbeiter tätig <strong>und</strong><br />

sowohl für die Einführung hinduistischer Traditionen als auch für die Etablierung des Islam auf den westindischen<br />

Inseln verantwortlich; vgl. insg. Bisnauth, bes. 140-164)<br />

6<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


hinaus verbreitet haben.<br />

Santería:<br />

Zur ersten Gruppe gehören neben anderen kleineren Kulten der Vodou in Haiti, Shango in Trinidad<br />

& Tobago, Santería in Kuba, der Dominikanischen Republik <strong>und</strong> Puerto Rico. Die santería hat ihren<br />

Namen von der Verehrung katholischer <strong>Heilige</strong>r bekommen. In der Santería werden zwei<br />

Hauptrichtungen unterschieden, die regla ocha (in der Yorùbá-Tradition) <strong>und</strong> die regla mayombe, stärker<br />

zentralafrikanisch geprägt, in der Nganga-(Ahnen-) Kult <strong>und</strong> Spiritismus eine größere Rolle spielen.<br />

Ich gehe im folgenden auf die regla ocha (aus: regla de oricha) ein. Diese bietet zwei Wege der Initiation<br />

an, einen zum Santero (Priester eines bestimmten òrìşà), einen zum Babalao (Priester des Ifá-Orakels),<br />

der Männern vorbehalten ist. Mit dem Ifá-Orakel werden durch verschiedene Verfahren Texte aus<br />

einem durch einen binären Code organisierten mündlich überlieferten Korpus von 256 Abteilungen<br />

(die 16 Möglichkeiten, I <strong>und</strong> II in Vierergruppen anzuordnen, lassen sich zu 16² Figuren<br />

kombinieren) ermittelt. In der Santería ist die Divination wichtiger als die Besessenheitstrance. Für<br />

diese sind v.a. die „siete potencias“ (sieben Mächte) zentral, die zusammen mit Ifá (auch Orula, von<br />

Orunmila, dem Stifter des Orakels im Glauben der Yorùbá), den der Babalao empfängt, dauerhaft im<br />

Kopf eines Adepten „installiert“ werden können: Obatalá, Eleggua, Ochûn, Yemayá, Shangó, Ogûn, Oyá.<br />

Auf Kuba wird Shangó, dessen Symbol die Doppelaxt ist, aufgr<strong>und</strong> dieser ikonographischen<br />

Parallele mit der heiligen Barbara assoziiert. Andere Orisha wie Olokun oder Yewa werden nur<br />

vorübergehend empfangen.Die initiierten Mitglieder werden baba, babaloricha, iya loricha <strong>und</strong> hijo/hija<br />

de santo genannt <strong>und</strong> lassen eine langwierige <strong>und</strong> teure Initiation über sich ergehen. Die Santería ist<br />

heute auch ausserhalb der Karibik, z.B. in den USA, verbreitet, <strong>und</strong> auch nicht mehr auf Amerikaner<br />

afrikanischer Herkunft beschränkt.<br />

<strong>Orishas</strong> als <strong>Heilige</strong>:<br />

(Nicht nur) in den botanicas, Geschäften, in denen mit den Kulten in Verbindung stehende<br />

Gegenstände, aber auch Heilkräuter <strong>und</strong> Ähnliches erworben werden können, gibt es auch eine<br />

große Auswahl an magischen Kerzen in Gläsern mit bis zu sieben Tage anhaltender Brenndauer zu<br />

erstehen, die sog. seven-day-candles. Darauf finden sich in der Regel religiöse Bilder oder Symbole<br />

auf der einen <strong>und</strong> Gebete auf der anderen Seite. Diese Kerzen sind Teil der überaus reichhaltigen<br />

„material culture“ der Santería, sind aber auch in anderen Kontexten zu finden, etwa Kerzen, die<br />

das Bestehen einer Prüfung oder einen Lotteriegewinn zum Gegenstand haben. Die ursprüngliche<br />

religiöse Symbolik ist also für eher säkulare bis scherzhafte Zwecke adaptiert worden. Man findet<br />

auch eine große Anzahl von Kerzen, die rein katholischen Inhaltes sind, also bestimmten <strong>Heilige</strong>n<br />

gewidmet. Eine besondere Form stellen die Kerzen dar, die den siete potencias africanas gewidmet sind,<br />

auf denen eine sehr populäre Darstellung der siete potencias der Santería mittels katholischer<br />

7<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


Ikonographie zu finden ist 5.<br />

Das Gebet auf der Rückseite bittet die siete potencias um Einschreiten zugunsten dessen, der die<br />

Kerze abbrennt. Die Darstellung auf der Vorderseite versammelt sieben <strong>Heilige</strong>nmedaillons, die an<br />

einer Kette miteinander verb<strong>und</strong>en sind um ein Bildnis des gekreuzigten Jesus mit den sogenannten<br />

Arma Christi, den mit der Kreuzigung verb<strong>und</strong>enen Gegenständen: dem Hahn6, der Petrus seine<br />

dreimalige Verleugnung angezeigt hat, dem Essigschwamm, der Lanze, mit der der Gekreuzigte in<br />

die Seite gestochen worden ist, Hammer <strong>und</strong> Nägel. Darunter steht der Name Olofi, eine kreolische<br />

Version des Yoruba-Namens Olofin, was soviel wie „höchster Herrscher“ bedeutet <strong>und</strong> einer der<br />

Namen von Olódùmarè ist. Damit ist dessen Eigenschaft, sowohl ayé als auch orun zu beherrschen,<br />

angesprochen. Die ikonographische Entsprechung zielt auf die in der Santería häufige<br />

Gleichsetzung von Olódùmarè mit Jesus als dem persönlichen Gott.<br />

Die weiteren Entsprechungen von links unten nach rechts oben sind:<br />

Die Jungfrau von der Barmherzigkeit als Obatala<br />

Die Virgen de la regla als Yemaja<br />

Die Jungfrau von Cobre als Ochum<br />

Die heilige Barbara als Chango<br />

Der heilige Franz v. Assisi als Orula (kreolisch für Orunmila)<br />

Johannes der Täufer als Ogum<br />

<strong>Heilige</strong>r Antonius als Elegua. 7<br />

Den genannten Orisha werden in der Santería in der Regel folgende Eigenschaften zugeordnet:<br />

Obatala: Vater der orisa, Wächter der Sitten <strong>und</strong> Motral, von Recht <strong>und</strong> Tradition; Gemütsruhe,<br />

Frieden<br />

Sango: Gott von Donner <strong>und</strong> Blitz. Feuer, regiert die Leidenschaften<br />

Oya: Wächterin der Friedhöfe, Gerechtigkeit, Sturm, hurrican Zuständig für den tod <strong>und</strong> die<br />

Geschäftswelt<br />

Oshun: patronin der Liebe, des Geldes, der gelben Metalle; zuständig für Geschlechtlichkeit <strong>und</strong><br />

Ehe (Exkurs: Jungfau v. Cobre, Patronin Kubas, Legende v. Kultbild, Anbetungsort, an den die<br />

schwarzen Hausmädchen mit gekommen sind <strong>und</strong> eine ähnliche Verehrung einer weiblichen<br />

Gottheit beobachtet haben, wie bei Oshun im Yorùbáland).<br />

Yemaja: Mutter der Orisa, Meeresgöttin, Mutter der Welt; zuständig für Mutterschaft<br />

Eleggua: Bote der Orisa, Wächter der Kreuzwege <strong>und</strong> Tore, Kommunikation, Zufall, Gefahr.<br />

5 Zu den unterschiedlichen Gruppierungen, Darstellungen <strong>und</strong> Identifikationen mit Katholischen <strong>Heilige</strong>n, die in Bezug<br />

auf siete potencias beobachtet worden sind, vgl. Brandon 109f.<br />

6 Der Hahn hat auch in der Santería seine eigene kultische Bedeutung, bes. in Opferritualen.<br />

7 Es fehlt also Oya, die oft zu den siete potencias gezählt wird; Esu/ellegua, hier mit dem heiligen antonius assoziiert,<br />

wird manchmal mit dem Schutzengel darfestellt.<br />

8<br />

<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


Die Darstellung der Orisha durch katholische <strong>Heilige</strong> wurde von Melville Herskovits im Jahr 1937<br />

als Synkretismus bezeichnet, den er als den akkulturativen Prozess auffasst, durch den eine Synthese<br />

zwischen afrikanischen Mustern <strong>und</strong> den europäischen Traditionen, denen die Schwarzen ausgesetzt<br />

waren, entstanden sei. Der von Herskovits eingeführte Begriff des Synkretismus ist in weiterer Folge<br />

kritisiert worden. So von dem französischen Anthropologen Roger Bastide, der als das<br />

zugr<strong>und</strong>eliegende Konzept das der Übersetzung annimmt. Demnach vertreten die Santeros die<br />

Ansicht, dass es im Gr<strong>und</strong>e nur einen Gott gäbe, der aber zu entfernt von der Menschheit sei,<br />

weshalb Vermittler notwendig seien, etwa die <strong>Heilige</strong>n <strong>und</strong> Engel für die Katholiken Europas oder<br />

die Orisha <strong>und</strong> Vodun für die Afrikaner. Man könne diese Konzepte aber ineinander übersetzen.<br />

Dass es in vergleichbaren Kontexten unterschiedliche Übersetzungsvorschläge gibt, zeigt die am<br />

Handout zu findende Tabelle. Auch George Brandon verwendet zwar den Begriff Synkretismus in<br />

seiner Studie, dekonstruiert ihn aber im letzten Kapitel (180) <strong>und</strong> zeigt, daß es sich um ein "blackbox-concept"<br />

handelt (181), das ein nicht lösbares, sondern nur im Zuge seiner Auflösung zu<br />

bewältigendes Problem für die historische <strong>und</strong> anthropologische Forschung darstellt (181). Er zeigt,<br />

wie die Elemente der alten Ethnizität reformuliert <strong>und</strong> angepaßt werden, "to survive the invasion of<br />

a stronger [...] civilization" <strong>und</strong> daß sie, "[...] can be used to further a group's own interests" (182).<br />

Ähnlich argumentiert Canizares im Kapitel "Syncretism or Dissimulation?" (a.a.O., 38-47). Er geht<br />

von verschiedenen Diskursebenen aus. Seiner Analyse zufolge sind die katholischen <strong>und</strong><br />

afrikanischen Anteile direkt proportional zueinander, <strong>und</strong> bei einem höheren Diskurslevel – der mit<br />

besserer praktischer <strong>und</strong>/oder theoretischer Kenntnis der Santería erreicht wird, – nimmt der<br />

afrikanische Anteil auf Kosten des katholischen zu. Jemand auf höherem Diskurslevel wird aber<br />

einem weniger Eingeweihten gegenüber dessen Verständnismodell, das die katholischen <strong>Heilige</strong>n in<br />

den Vordergr<strong>und</strong> rückt, gebrauchen. Der transformative Charakter der Yorùbá-Kultur ist in<br />

verschiedenen Studien von Anthropologen hervorgehoben worden. In diese Richtung argumentiert<br />

etwa Kubik, (a.a.O. 31). Er stellt fest, daß das als "Synkretismus" bezeichnete Phänomen in den<br />

afroamerikanischen Religionen sich als "semantic transfer" herausstellt. Anders allerdings<br />

Berkenbrock (91ff), der Synkretismus als Kennzeichen der afrobrasilianischen Religionen<br />

bezeichnet, wobei festzustellen ist, daß diese mit der Einbeziehung von spiritistischen Elementen,<br />

indianischen Geistern (Caboclos) <strong>und</strong> Geistern verstorbener Sklaven (pretos velhos) <strong>und</strong> anderem<br />

in der Umbanda (eine der vier offiziellen Staatsreligionen in Brasilien), auch mit der allmählichen<br />

Überlagerung von Bantutraditionen durch die Yoruba-<strong>Orishas</strong> in der Macumba, sicher eher (je nach<br />

Gebiet verschieden) synkretistische Züge aufweisen als die afrokaribischen Kulte (vgl. v.a. Angelina<br />

Pollak-Eltz, Trommel <strong>und</strong> Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg-Basel-Wien 1995,<br />

145-190); Candomblé ist hingegen der am stärksten von der Religion der Yoruba beeinflußte<br />

afrobrasilianische Kult. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen den Kulten <strong>und</strong> die Bestimmung<br />

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<strong>Hödl</strong>, <strong>Orishas</strong>... <strong>©</strong> H. <strong>Gerald</strong> <strong>Hödl</strong> <strong>2004</strong>


ihres Verhältnisses zueinander aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch.<br />

Ich komme nun auf die Kerze mit den siete potencias zurück. Die amerikanische Anthropologin<br />

Mary Ann Clarke hat, ausgehend von ihrer Feststellung, dass diese Kerze nie auf den Altären der<br />

Santeros zu finden ist, ihren Gebrauch untersucht <strong>und</strong> festgestellt, dass sie in folgenden Kontexten<br />

verwendet wird:<br />

• von eingeweihten Santeros, wenn sie spiritistische Praktiken ausüben, die nicht zur Santería<br />

selbst gehören<br />

• von Santeros, wenn sie Rituale für Außenstehende durchführen<br />

• von Außenstehenden, wen sie mit der Santería assoziierte Rituale außerhalb des eigentlichen<br />

Rahmens der Santería durchführen.<br />

Daraus ergibt sich deutlich, dass es sich, in diesem Fall der ikonographischen Übernahme weder um<br />

ein synkretistisches Phänomen in dem Sinn handelt, dass aus Elementen zweier ursprungsfremder<br />

Religionen eine neue entsteht, noch um eine Camouflage in dem Sinn, dass eigentlich afrikanische<br />

Riten sich mit katholischer Ikonographie maskieren. Vielmehr handelt es sich um ein im<br />

multireligiösen Kontext – indem sowohl Katholiken an spiritistischen <strong>und</strong> afroamerikanischen<br />

Riten teilnehmen als auch etwa santeros an den katholischen Gottesdiensten – anzutreffendes<br />

Phänomen, das die Herauslösung von Riten aus ihrem ursprünglichen Kontext ohne<br />

Berücksichtigung desselben, anzeigt. Das ist nicht nur, wie Clark darlegt, etwa dem selektiven<br />

Anwenden etwa von Yoga oder der Zen-Meditation als Entspannungsübung vergleichbar, wenn<br />

diese aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst wird. Dieser Vorgang entspricht m.E. auch der<br />

religiösen Situation in der heutigen Welt, die oft als „New Age“ oder „Esoterik“ bezeichnet wird,<br />

treffender aber mit dem Ausdruck der „alternativen Spiritualität“ zu benennen ist. In den westlichen<br />

Gesellschaften sind neuerdings solche alternativen Arten religiöser Sinngebung nicht mehr im<br />

Horizont einer für die Gesellschaft zentralen kirchlichen Macht angesiedelt. Eine für diese<br />

Gesellschaften neue Form von Religionsausübung ist entstanden, die gekennzeichnet ist durch (a)<br />

häufigen Wechsel spiritueller Praktiken, Lehren <strong>und</strong> Therapien, der (b) mit Eklektizismus<br />

verb<strong>und</strong>en ist, der Hand in Hand geht mit (c) der Etablierung von Verbindungen <strong>und</strong><br />

Verweisungen, die gegen religionsgeschichtlich Erfassbares gehen (oder Religionsgeschichte in die<br />

reine Präsenz des Materials für gegenwärtige Neuinterpretationen verwandelt), sowie sich (d) durch<br />

eine Ablehnung institutioneller Formen auszeichnet, die in soziologischer Hinsicht den<br />

hauptsächlichen Unterschied zu anderen mit der Individualisierung von Religion in der Neuzeit<br />

entstandenen Kultformen („Sekten“, neureligiöse Bewegungen u. Ä.) ausmacht (vgl. Iwersen 1997).<br />

Die Santería ist, wie überhaupt die afroamerikanischen Religionen, sehr gut auf eine solche<br />

Situation, in der Kultgruppen <strong>und</strong> auf verschiedene Weise institutionalisierte Gruppen<br />

konkurrenzierende Angebote auf einem Markt der Religionen plazieren, eingestellt.<br />

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Die reiche materielle Kultur der afroamerikanischen Religionen zeigt darüber hinaus deren adaptive<br />

Fähigkeit in dem Sinne, dass vorfindbare kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten für eine vielschichtige<br />

religiöse Sprache eingesetzt werden.<br />

<strong>Exodus</strong> <strong>und</strong> Babylon<br />

Doch sind diese, die afrikanischen Traditionen in erstaunlich hohem Maß bewahrenden <strong>und</strong><br />

fortführenden Religionen nicht die einzigen, die man unter dem Begriff „afroamerikanische<br />

Religionen“ zusammenfaßt. Eine für unseren Zusammenhang nicht unerhebliche Strömung besteht<br />

in den afroamerikanischen Christentümern, unter denen sich solche finden, die, z.T. stark durch<br />

ekstatische Erlebnisse <strong>und</strong> Ausdrucksweise geprägt, der christlichen Erweckungsreligiosität<br />

zuzuordnen sind, in der dem Bekehrungserlebnis, das als Heiligung verstanden wird, eine größere<br />

Bedeutung zukommt, als einer allmählichen Einführung in Lehren <strong>und</strong> Glaubensartikel. In der<br />

Geschichte der Missionierung der afrikanischen Sklaven in den USA war der erlebte Widerspruch<br />

zwischen den christlichen Idealen <strong>und</strong> der Realität der Sklavenhaltung von nicht geringer<br />

Bedeutung. In der kolonialen Zeit mussten die anglikanischen Missionare zunächst den Widerstand<br />

der Sklavenbesitzer überwinden, die gegen eine Konvertierung der Sklaven die Einwände hatten,<br />

dass durch die Angleichung der Religion die rassische Abgrenzung aufgelöst würde, dass die Sklaven<br />

überheblich würden <strong>und</strong> dass aus der Taufe direkte Emanzipation folgen würde, da das englische<br />

Gesetz die Versklavung von Christen verbot. Daraus folgte einerseits eine ganze Literatur, die die<br />

Vereinbarkeit von Christentum <strong>und</strong> Sklaverei, vor allem aus Eph. 6.5 gefolgert, darlegte,<br />

andererseits auch der Verdacht, dass sich manche Sklaven nur taufen ließen, um der Sklaverei zu<br />

entkommen. A. J. Raboteau berichtet von einem Missionar in South Carolina, der von den Sklaven,<br />

die sich taufen lassen wollten, einen Eid verlangte, dass sie das Sakrament nicht um der Freiheit<br />

willen empfangen wollten. Und er bemerkt: apparently he missed the irony. Die anglikanische<br />

Mission, die mehr auf langsame Indoktrination gesetzt hatte, hatte weniger Erfolg als die<br />

Erweckungsbewegungen, die ca. ab 1740 sich in den Kolonien ausbreiteten <strong>und</strong> auch nach der<br />

Unabhängigkeit, vor allem in Form der baptistischen <strong>und</strong> methodistischen Missionierung viele<br />

Schwarze zur Konversion bewegen konnten. Sowohl Baptisten als auch Methodisten waren<br />

zunächst Abolitionisten, was einer der Gründe für ihren Erfolg sein kann. Doch bald passten beide<br />

Gruppen ihren Standpunkt gegenüber der Sklaverei den Widerständen, die sie erfahren hatten, an,<br />

<strong>und</strong> bemühten sich eher um eine Verbesserung der Lage der Sklaven als um eine Abschaffung der<br />

Sklaverei. Aber die kurze Zeit, in der sie die Trennung der spirituellen <strong>und</strong> weltlichen Gleichheit<br />

zwischen den Menschen aufgelöst hatten, hatte doch zu einer Ausbreitung des Christentums unter<br />

den Sklaven geführt, denen aber doch der Unterschied zwischen dem Christentum ihrer weißen<br />

Herren <strong>und</strong> ihrem Christentum stets bewußt blieb. In der Regel konnten Schwarze nur unter<br />

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Aufsicht Gottesdienste besuchen <strong>und</strong> wurden auch von weißen Predigern instruiert, die die Aufgabe<br />

hatten, sie zu besseren Sklaven zu erziehen, indem sie vor allem darüber predigten, dass sie ihre<br />

Herren nicht bestehlen sollten, nicht faul sein sollten usw. Daneben begannen die Sklaven aber, ihre<br />

eigenen Gottesdienste zu halten. Eine frühere Sklavin beschreibt dies so:<br />

„The preacher came and he’d just say ‚Serve your masters. Don‘t steal your master’s turkey. Don’t<br />

steal your master’s chickens [...] Do whatsoever your master tell you to do.‘ Same old thing all the<br />

time. My father would have church in dwelling houses and they had to whisper [...] Sometimes they<br />

would have church at his house. That would be when they want a real meetin‘ with some real<br />

preachin‘ [...] they used to sing their song in a whisper. That was a prayer meeting from house to<br />

house ... once or twice a week.“<br />

Offensichtlich entstand so etwas wie eine eigene Auslegung der Bibel, die derjenigen der Herren<br />

<strong>und</strong> der von diesen zugelassenen Predigern widersprach, eine Auslegung, die gegen die<br />

Vereinbarkeit von Christentum <strong>und</strong> Sklaverei ging. Die Afroamerikaner begannen ihre Situation mit<br />

den Bildern <strong>und</strong> Erzählungen der Bibel zu reflektieren <strong>und</strong> fanden darin die Geschichte der<br />

Befreiung aus der Sklaverei. Weiße Prediger mußten feststellen, daß, wo sie von der Befreiung aus<br />

der Sünde predigten, ihre schwarzen Schafe die reale Befreiung aus der Sklaverei verstanden. Keine<br />

Passage der Bibel war ihnen so geläufig wie die Erzählung von <strong>Exodus</strong> <strong>und</strong> Landnahme. Ein weißer<br />

Armeekaplan erinnerte sich:<br />

„There is no part of the Bible with which they are so familiar as the story of the deliverance of<br />

Israel. Moses is their ‚ideal‘ of all that is high, and noble, and perfect, in man. I think they have been<br />

accustomed to regard Christ not so much in the light of a spiritual deliverer, as that of a second<br />

Moses who would eventually lead them out of their prison-house of bondage“.<br />

Diese Hoffnungen drücken sich, ebenso wie die Situation der Gefangenschaft in der Fremde ganz<br />

deutlich in einigen der als Negro-Spirituals bekannt gewordenen Liedern aus. Liedern wie<br />

„Sometimes I feel like a motherless child, along way from home“ stehen solche des Aufrufes wie<br />

„Go down Moses“ <strong>und</strong> der Hoffnung wie „Didn‘t my Lord deliver Daniel?“ gegenüber8. Für die<br />

Südstaatensklaven wurde Kanaan, das gelobte Land, mit dem Norden assoziiert <strong>und</strong> der die<br />

Überqueerung des Jordan mit der Flucht in den Norden. Die Ironie an dieser Auslegung der<br />

<strong>Exodus</strong>-Erzählung ist, dass sie diejenige der weissen christlichen Siedler umdreht, die mit derselben<br />

Geschichte ihren Weg aus Europa in das in ihrer Auslegung gelobte Land Amerika illustriert <strong>und</strong><br />

reflektiert hatten.<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den ich nur mehr hinweisen kann, ist, dass die<br />

Erweckungsfrömmigkeit, wie sie etwa in der Wesleyanischen Heiligung sich asudrückt, der<br />

8 Zur religiösen, emanzipativen <strong>und</strong> afroamerikanische Identität stiftenden Bedeutung der Spirituals <strong>und</strong> zur<br />

Adaptierung bilblischer Symbolik in deren Kontext vgl. James H. Cone, The Spirituals and the Blues. An Interpretation.<br />

Maryknoll, NY, 1991; Arthur C. Jones, Wade in the Water. The Wisdom of the Spirituals. Maryknoll, NY, 1993; Cheryll<br />

A. Kirk-Duggan, Exorcizing Evil. A Womanist Perspective on the Spirituals. Maryknoll, NY, 1997.<br />

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ekstatischen Religiosität der Westafrikaner entgegengekommen ist. So liegt auch, neben der<br />

methodistischen Heiligungsspiritualität, <strong>und</strong> von der weißen Kirchengeschichtsschreibung oft<br />

verdrängt, eine der Wurzeln der Pfingstlerbewegung in Amerika im afroamerikanischen<br />

Christentum. William Joseph Seymour, ein Sohn von Sklaven, der sich selbst das Lesen <strong>und</strong><br />

Schreiben beigebracht hatte, war die zentrale Person in der in Los Angeles gelegenen Azusa Street<br />

Mission, in der, während eines zehntägigen Fastens, sich zwsichen dem 09. <strong>und</strong> 12. April 1906<br />

charismatische Manifestationen wie Glossolalie ereigneten, die einen entscheidenden anstoß zur<br />

Ausbreitung des Pentecoastalism bedeutet haben. Seymour, 1870 geboren <strong>und</strong> im Mississippidelta<br />

aufgewachsen, ging als junger Mann nach Norden, zunächst anch Indianapolis, dann nach<br />

Cincinatti, trat der schwarzen Methodistengemeinde bei <strong>und</strong> arbeitete als unabhängiger Evangelist.<br />

Danach ging er nach Houston, Texas, wo er die Bibelschule von Charles Fox Parham besuchte, der<br />

gemeinhin als Begründer der Pfingstbewegung gilt. Allerdings mußte er dem Unterricht von<br />

außerhalb des Klassenraumes folgen, weil Parham, der später noch als Vertreter der lehre, dass die<br />

Angelsachsen die legitimen Erben Israels seien, für den Ku-Klux-Clan predigte, schon damals<br />

strikter Vertreter der Rassentrennung war. Schraf tritt die Bedeutung der Rassenfrage für das usamerikanische<br />

Christentum in der Geschichte der Pfingstlerbewegung hervor. War die Aszusa Street<br />

Mission, die innerhalb von zwei Jahren 38 Missionare hervorbrachte, zunächst das Symbol für die<br />

Überwindung der Rassengrenzen, wie es Alexander Boddy beschrieb, echauffierte sich Parham 1912<br />

über die Auflösung von Grenzen:<br />

„men and women, whites and blacks, knelt together or fell across one another; frequently, a white<br />

woman, perhaps of wealth and culture, could be seen thrown back in the arnms of a big „buck<br />

nigger“ and held tightly as she shivered and shook in freak imitation of pentecoast. Horrible, awful<br />

shame!“<br />

Wie Ian McRobert schreibt, haben weiße Pfingstler in den Vereinigten Staaten in der Folge<br />

doktrinäre Streitigkeiten dazu benützt, das Leitmotiv der schwarzen Christenheit in den Amerikas,<br />

die ekstatische Frömmigkeit <strong>und</strong> Erweckung, als dessen Inkorporation das frühe Pfingstlertum<br />

angesehen werden kann, aus ihrer Geschichte herauszuschreiben. Doch bestehen gleicherweise<br />

afroamerikanisch geprägte pfingstlersiche Denominationen fort wie auch neue enstehen <strong>und</strong> sich<br />

ausbreiten, etwa die die Revival Zion –Bewegung in Jamaica oder die Spiritual Baptists (auch –aufgr<strong>und</strong><br />

der Form des Gottesdienstes –shouters genannt), eine in Trinidad entstandene inzwischen auch in<br />

Kanada, den USA <strong>und</strong> England verbreitete christliche Religion, deren Anhänger zum<br />

überwiegenden Teil aus den unteren sozialen Schichten stammen. In den bis zu sechsstündigen<br />

Gottesdiensten steht eine emotionsgeladene Predigt, die von Zurufen aus der Gemeinde begleitet<br />

wird, im Mittelpunkt. Diese ekstatische Form des Kultes wird von einer streng hierarchisch<br />

geordneten Gemeindestruktur begleitet, mit einem auf dem Charisma gegründeten Priesteramt <strong>und</strong><br />

männlich dominierter Hierarchie. Manche Mitglieder, darunter auch Kultleiter, sind zugleich<br />

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Anhänger der Shango-Religion. Neben Predigt <strong>und</strong> Austreibung der bösen Geister (als die die òrìşà<br />

hier angesehen werden) steht die Zungenrede als Manifestation des heiligen Geistes <strong>und</strong> das<br />

öffentliche Sündenbekenntnis (die Besessenen werfen sich dabei auf den Boden) im Mittelpunkt des<br />

Gottesdienstes. Der Mittelpfosten der Kapelle ist, wie in den Kultorten im Vodou, von großer<br />

Bedeutung.<br />

Babylon<br />

Zuletzt will ich noch kurz, anhand eines Liedtextes, auf die Adaptierung christlicher Metaphorik in<br />

der jamaicanischen Rastafari-Bewegung eingehen. Die biblische Erzählung vom babylonischen Exil<br />

der Israeliten ist von den Rastafaris auf ihre eigene Situation, die Existenz in der afrikanischen<br />

Diaspora, als Menschen afrikanischer Herkunft in den Amerikas, bezogen worden. Der Name<br />

Rastafari kommt von dem Titel des äthiopischen Kaisers Haile Selassie, Ras Tafari, was auf<br />

amharisch soviel wie „ehrfurchtgebietender Prinz“ bedeutet. 1930 wurde Haile Selassie in<br />

Äthiopien, dem damals einzigem afrikanischen Land, das nicht durch eine Kolonialmacht<br />

beherrscht wurde, zum Kaiser gekrönt. Dieses Ereignis wertenden jamaikanische Afroamerikaner<br />

als Erfüllung der Predigt von Marcus Garvey, einem geborenen Jamaicaner, der ein<br />

Repatriierungsprojekt für die in den Amerikas lebenden nachfahren der dorthin als Sklaven<br />

verschleppten Afrikaner betrieb. Er hatte prophezeit, dass in Afrika ein König gekrönt werden<br />

würde, der diese Hoffnungen erfüllen werde. Unter den Anhängern des Rastafari-tums genießt er<br />

(außer bei der Denomination der „Twelve Tribes of Israel“, die ihn für einen erleuchteten Herrscher<br />

<strong>und</strong> eine Erlösergestalt, aber nicht für Gott halten) göttliche Verehrung. Die Rastafari bekennen<br />

sich zu der alleinigen Gottheit „Jah“ (aus dem biblischen Jahwe abgeleitet) <strong>und</strong> sehen ihre Situation<br />

als der des alten Israel im babylonischen Exil analog an, indem die damalige historische Situation<br />

nun auf sie zutreffe (muß genauer erläutert werden). Ihre Art der Adaptierung der biblischen Texte,<br />

um ihre eigene Situation zu reflektieren <strong>und</strong> zu deuten, kann man an dem Reggae-Song „By the<br />

Rivers of Babylon“ deutlich machen, der im Wesentlichen zwei Passagen aus den Psalmen montiert:<br />

Der Text des von der Gruppe „The Melodians“ geschriebenen Liedes lautet:<br />

By the rivers of Babylon,<br />

Where he sat down,<br />

And there he wept<br />

When he remembered Zion<br />

Oh, the wicked carried us away in captivity,<br />

Required from us a song,<br />

How can we sing King Alpha's song<br />

Inna strange land?<br />

Sing it aloud, awn, awn, awn, awn [and on]<br />

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sing the song of freedom, sister, awn, awn, [and] awn<br />

Sing the song of freedom, brother, awn, awn, [and] awn<br />

Whoa, whoa, whoa, whoa Whoa<br />

We gonna sing and shout it, awn, awn, [and] awn<br />

We gonna jump and shout it, awn, awn, [and] awn<br />

Shout the song of freedom, awn, awn, [and] awn.<br />

So, let the words of our mouth<br />

And the meditations of our heart<br />

Be acceptable in Thy sight.<br />

O Far I<br />

Darin kann man Passagen aus folgenden Psalmen entdecken (zitiert nach der New International<br />

Version):<br />

Psalm 137, 1; 3-4:<br />

By the rivers of Babylon,<br />

we sat and wept,<br />

when we remembered Zion.<br />

For there our captors<br />

asked us for songs<br />

our tormentors demanded songs of joy, they said, Sing us one of the songs of Zion.<br />

How shall we sing the songs of the LORD'<br />

in a strange land?<br />

Psalm 19,14:<br />

Let the words of my mouth,<br />

and the meditation of my heart,<br />

be acceptable in thy sight,<br />

O LORD, my strength, and my redeemer<br />

Die Abänderungen des alttestamentlichen Textes bestehen hauptsächlich in den Einsetzungen von<br />

Far I (Haile Selassie) für “Lord”, was auch in der Ersetzung von “Lord sond” durch “King Alpha”<br />

ausgedrückt wird, denn dieser Name, aus Offenbarung 1,8 <strong>und</strong> 22, 13 gezogen, wird von den<br />

Rastafaris auf Haile Selassie bezogen.<br />

Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick<br />

Kann man nun die hier skizzierten Adaptierungen christlicher Symbolsysteme, Erzählungen <strong>und</strong><br />

Glaubenslehren mit dem Begriff der Inkulturation näher interpretieren? Das ist meines Erachtens<br />

eine theologische Frage. Zweifellos kann man Elemente dessen, was in den klassischen Definitionen<br />

der Inkulturation beschrieben wird, feststellen. Es werden Erfahrungsweisen <strong>und</strong><br />

Ausdrucksmöglichkeiten, die einer neu mit dem Christentum in Kontrakt gekommenen Kultur<br />

enstammen, in die christliche Religion so eingebracht, dass dabei sowohl die kulturellen<br />

Symbolsysteme mit neuem Inhalt erfüllt werden als auch die Kirche, insofern sie als<br />

Gesamtgemeinschaft der Christgläubigen gedacht wird <strong>und</strong> als eigentliches Subjekt des<br />

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Inkulturationsprozesses, neue Möglichkeiten der kulturell ausgedrückten Antwort auf die<br />

Offenbarung Gottes erhält, sei dies im Bereich der religiösen Musik, die in den letzten Jahrzehnten<br />

weltweit stark von den afrikanischen Melodien <strong>und</strong> Rhythmen beeinflußt worden ist, sei es auf dem<br />

Gebiet der Spiritualität, durch neue Akzente etwa am Gebiet ekstatischer Frömmigkeit. Diese<br />

Fragen will ich hier nicht entscheiden, aber einige kulturwissenschaftlich motivierte Anmerkungen<br />

dazu machen.<br />

Freilich kann man die meisten der geschilderten Adaptierungen einfach als einen Prozess der<br />

Akkulturation bezeichnen. Im Kontext der von mir im ersten Vortrag eingeführten Unterscheidung<br />

von Denotat <strong>und</strong> Konnotat eines Zeichens kann man feststellen, dass ich hier gehäuft Beispiele für<br />

unterschiedliche, ja gegenläufige Konnotationen gebracht haben, die den Begriff eines<br />

zugr<strong>und</strong>eliegenden Denotats aufzuheben scheinen. Nehmen wir die <strong>Exodus</strong>-Geschichte, so<br />

denotiert sie ihren historischen Sinn, den Auszug der Israeliten aus Ägypten <strong>und</strong> die Landnahme, so<br />

wir uns dazu entschließen können, dieser Geschichte einen mehr als mythologischen Sinn<br />

beizulegen. Konnotiert ist jeweils die Anwendung auf die Lebenssituation einer Gruppe, <strong>und</strong> hier<br />

ergeben sich gegenläufige Bedeutungen, indem für die eine Gruppe das biblische Ägypten mit<br />

„Amerika“. für die andere Gruppe das biblische Kanaan mit „Amerika“ konnotiert wird. In der<br />

Sprache der Semiotik gesagt, ist „Ägypten“ <strong>und</strong> „Kanaan“ in beiden Fällen ein konnotatives<br />

Zeichen. Die Semiotik geht davon aus, das man am Zeichen die Ebene des Ausdrucks – den<br />

Signifikanten – von der des Inhalts, - dem Signifikat – unterscheiden kann. Ein denotatives Zeichen<br />

benennt also mittels eines Zeigenden ein dadurch Bezeichnetes. Ein konnotatives Zeichen liegt nun<br />

vor, wenn ein aus einem Signifikanten – in unserem Fall der biblischen Erzählung – <strong>und</strong> einem<br />

Signifikat – in unserem Fall dem dadurch bezeichneten historischen Ereignis – zusammengesetztes<br />

Zeichen selbst wiederum zum Signifikanten eines neuen Signifikats wird. In unseren Beispielen wird<br />

aber deutlich, das letzteres von einer Interpretantengemeinschaft abhängig ist, was bedeutet, dass ein<br />

Zeichen nur dann ein Zeichen ist, wenn es für jemanden etwas bedeutet. Um zu erkennen, was ein<br />

Zeichen für jemanden bedeutet, muß ich dieses umschreiben. Etwa: Ägypten bedeutet einen<br />

Zustand der Unfreiheit; Ägypten bedeutet eine alte Hochkultur im Niltal; Ägypten bedeutet einen<br />

Staat in Nordafrika; Ägypten bedeutet Amerika; dieses Zeichen, auf das ich rekurrieren muß, um die<br />

Bedeutung eines Zeichens zu erläutern, nennt man den Interpretanten des Zeichens. Um einen<br />

solchen Interpretanten verstehen zu können, muß ich einer Interpretantengemeinschaft angehören,<br />

also das Symbolsystem einer Gemeinschaft verstehen. Was wir nun in allen diesen Vorgängen<br />

beobachten können, ist ein shifting von Interpretanten. Sei es die Diastase zwischen schwarzer <strong>und</strong><br />

weißer Interpretation biblischer Geschichten, sei es die unterschiedliche Interpretation des<br />

Zustandes ekstatischer Erregtheit, sei es die Symbolisierung von spirituellen Erfahrungen durch<br />

verschiedene Kultbilder <strong>und</strong> Gestalten. Im kompliziertesten Fall, dem der Santería, geht es noch<br />

dazu darum, dass offensichtlich von einzelnen Agenten mit Bedeutungsebenen gespielt wird, je nach<br />

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Anlaß. Dieser Fall zeigt uns auch deutlich, dass, wo keine Instanz da ist, die autoritative<br />

Entscheidungen über die zugelassenen Interpretanten fällt, also keine Institution, die eine fixe<br />

hermeneutik vorgibt, auch keine homogenen Interpretantengemeinschaften zu erwarten sind.<br />

Letztendlich ist aber die Frage, welche Interpretation zugelassen wird, eine Frage der Macht, wie<br />

sich deutlich an den Abgrenzungskämpfen zwischen weißer <strong>und</strong> schwarzer Interpretation der Bibel<br />

zeigt. Mit Hinsicht auf diese Frage der Machtverhältnisse habe ich vor einigen Monaten den Titel<br />

des heutigen Vortrages mit „Inkulturation von unten“ projektiert, da in den Fällen, die ich heute<br />

skizziert habe, die Symbolsysteme einer übermächtigen oppressiven Kultur von der unterlegenen<br />

<strong>und</strong> unterdrückten Seite teilweise virtuos annektiert worden sind.<br />

Literatur: V. J. Berkenbrock, Die Erfahrung der Orixás. Eine Studie über die religiöse Erfahrung im Candomblé. Bonn<br />

1995. S. Bramly, Macumba. The Teachings of Maria-José, Mother of the Gods. San Francisco 1994. G. Brandon, Santeria<br />

from Africa to the New World. The Dead Sell memories. Bloomington 1993; R. Canizares, Walking with the Night. The<br />

Afro-Cuban World of Santeria. Rochester 1993; T. E. Fulop/ A. J. Raboteau (Hg.), African American Religion.<br />

Interpretive Essays in History and Culture. New York 1997; F. Giobellina-Brumana / E. Gonzales Martinez, Spirits from the<br />

Margin. Umbanda in São Paulo. A Study in Popular Religion and Social Experience. Uppsala 1989. St. D. Glazier (Hg.),<br />

Encyclopedia of African and African-American Religions. New York 2001; E. J. de Hohenstein, Das Reich der magischen<br />

Mütter. Eine Untersuchung über die Frauen in den afro-brasilianischen Besessenheitskulten Candomblé. Frankfurt<br />

1991; P. E. Johnson (Hg.), African-American Christianity. Essays in History. London 1994; B. I. Karade, The Handbook of<br />

Yoruba Religious Concepts. York Beach 1994 (dt.: I. Karade, Yoruba. Handbuch der afrikanischen Mystik. Aitrang<br />

1998); M. Kremser (Hg.), „Ay Bo Bo“. Afro-Karibische Religionen. 3 Bde. Wien 1996; A. Pollak-Eltz, Trommel <strong>und</strong><br />

Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg i. B. 1995; B. E. Schmidt, Von Geistern, Orichas <strong>und</strong> den<br />

Puertoricanern. Zur Verbindung von Religion <strong>und</strong> Ethnizität. Marburg/Lahn 1995.<br />

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