PDF: Danzig - Degenesis
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<strong>Danzig</strong><br />
Preview auf das KULTBUCH: Spitalier<br />
Copyright 2008 Sighpress-Verlag
d<br />
a<br />
n z i g<br />
Die Sommer werden immer kürzer, aus flockigem Schnee wird<br />
ewiges Eis. Die Eisbarriere wächst, ertränkt die Ruinen und<br />
sendet als Vorboten einen frostigen Wind in den Süden. Einige<br />
Blaukiefern trotzen noch der Kälte, doch in den meisten ist<br />
nicht mehr Leben als in einem trockenen Stück Knochen. Sie<br />
warten auf ihr Ende. Die Schneelast lässt schließlich ihre Äste<br />
wie Kristalle splittern und entkleidet sie.<br />
Hier oben, so nahe an der Eisbarriere, überlebt nichts. Es<br />
gibt keine Nahrung, deine Haut gefriert und reißt in der Kälte,<br />
der Nordwind treibt Eiskristalle wie Glassplitter vor sich her.<br />
Trotzdem gibt es Menschen hier, und diese Menschen sind<br />
keine Flüchtlinge oder Sträflinge, die dazu gezwungen wurden,<br />
durch Rinnen aus Schnee zu stapfen, nein, sie sind hier, weil<br />
sie genau hier sein wollen und müssen. Hier, das ist <strong>Danzig</strong>, die<br />
letzte Bastion der Menschheit in diesen Breiten: Eingefasst in<br />
Eis liegt die Stadt wie ein überfrostetes Stück Kohle in blauweißer<br />
Einöde.<br />
W I R N Ä H E R N U N S<br />
Tagelang stapfen wir durch die Kälte, queren ein ungestümes<br />
Meer aus knirschendem Eis, während die Knochen nach Pause<br />
schreien und der Atem unter den Tüchern nach Hunger<br />
stinkt.<br />
Einige der Ärzte tragen Augenbinden und stolpern an ein<br />
Seil gebunden hinter ihren Kameraden her. Schneeblindheit:<br />
Erst brennen die Augen nur, dann fühlen sie sich vernarbt und<br />
staubig an. Du willst den Dreck aus ihnen herausreiben, doch<br />
das macht es nur schlimmer. Lass sie in Ruhe. Tränen sammeln<br />
sich auf den geröteten Unterlidern; einmal zwinkern, und die<br />
Flüssigkeit rinnt kalt über die Wangen, wo sie innerhalb von<br />
zwei Atemzügen gefriert. Schließt du die Augen, erblüht vor dir<br />
eine schwarze Sonne, umspielt von rotem Plasma. Es braucht<br />
Minuten, bis sie erlischt und das Nachlicht des Schnees von<br />
der Netzhaut weicht. Es wird Zeit für die Augenbinden. Das<br />
grobe Leinen nimmt dir nicht ganz die Sicht, aber es mindert<br />
die gleißende Helligkeit. Wenn du erstmal in <strong>Danzig</strong> bist, wirst<br />
du für ein paar Tage die Nachtschicht übernehmen, und deine<br />
Augen sind wieder frisch wie polierte Marmorkugeln.<br />
<strong>Danzig</strong>.<br />
Da vorne flattern rote Bänder an einer Stange. Jeder hat<br />
sie gesehen. Alles wird gut: Die Stadt ist nicht mehr weit. Es<br />
sind weitere fünfhundert Schritt, bis wir erkennen können, wie<br />
viele Bänder dort flattern: Es sind drei. Das bedeutet, dass<br />
wir vom Kurs abgekommen sind und uns jetzt nordwestlich<br />
halten müssen. Zwei Bänder hätten bedeutet, dass <strong>Danzig</strong> in<br />
nordnordwestlicher Richtung läge. Ein Band: Gerade nach<br />
Norden. Falls der Trupp zu weit nach Westen geraten wäre,<br />
würden jetzt blaue Bänder vor ihm im Wind knattern, aber<br />
124
die Bedeutung wäre ähnlich wie bei den roten: zwei Bänder<br />
stünden für Nordnordosten, zwei für Nordosten. Eines allein<br />
gibt es nicht.<br />
Wir hangeln uns von Markierstange zu Markierstange. Meistens<br />
sehen wir vor uns in der Ferne einen unruhigen Farbfleck<br />
und steuern auf ihn zu. Wenn der Schnee wieder dichter fällt<br />
und der Tag zu einer rauschenden Dämmerung verdirbt,<br />
halten wir uns an unsere Führer. Meistens ist einer mit einem<br />
Kreiselkompass dabei; die Magnetkompasse sind hier draußen<br />
zwischen den Sporenfeldern nutzlos.<br />
Die erste Stange sichteten wir zehn Kilometer vor <strong>Danzig</strong>,<br />
dann etwa jeden Kilometer eine weitere. Scheiße, wer hat sich<br />
die Mühe gemacht, die alle aufzustellen Man sollte ihm einen<br />
Becher heißes Destillat ausgeben.<br />
Der Schneefall nimmt zu. Vereinzelt ragen steile Hügel aus<br />
der Eiswüste – das sind alte Bauten, einige eingestürzt unter<br />
der weißen Last, aber alle von ihr erstickt. Dort vorne ist eine<br />
Trasse: Sie glitzert im Mittagslicht, aber sie wurde zweifellos<br />
vom Schnee geräumt; die Spikes unter den Schuhen klacken<br />
auf dem Asphalt und ziehen Furchen in die dünne Eisschicht.<br />
Hohe Schneewälle türmen sich zu beiden Seiten: Das muss die<br />
Rinne sein – die Straße nach <strong>Danzig</strong>.<br />
In vielleicht einer Stunde sind wir da.<br />
P E R I P H E R I E<br />
Die Natur hatte Jahrhunderte, um Moosteppiche über Asphalt<br />
auszugießen; Efeu kroch Ziegelwände empor, Pilze fraßen sich<br />
in Möbel, Fichten sprossen auf urvölkischen Straßen, tasteten<br />
mit ihren Wurzeln nach Spalten. Nadeln, Laub und verrottetes<br />
Holz bildeten eine dünne Krume, die der Nordwind aufwirbelte<br />
und sie im Windschatten der urvölkischen Bauten wieder<br />
frei ließ. Was der Mensch der Natur abgetrotzt hatte, forderte<br />
sie jetzt zurück: Der Pachtvertrag war abgelaufen und würde<br />
nicht erneuert werden. Die äußeren Viertel <strong>Danzig</strong>s explodierten<br />
in grüner Pracht, während sich die Sippen der Stadt ins<br />
Zentrum zurückzogen.<br />
Dann kam die Kälte.<br />
Die Moose verdorrten zu einer braunen Matte, die Bäume<br />
erstarrten, der Efeu hing strähnig wie das Haar Ertrunkener<br />
von den Bauten. Frost kroch in den Boden. Die Erinnerung an<br />
diese Tage lebt nur noch in den Köpfen der Alten weiter und<br />
wird schon bald mit ihnen sterben. Wer heute auf den gefrorenen<br />
Block des Hohen Tors klettert, sich auf dem Schrägdach<br />
an eine der verwitterten Löwenstatuen stützt, die Schutzbrille<br />
mit den behandschuhten Daumen von Eiskristallen befreit,<br />
der erblickt vor sich eine weiß gepuderte Ebene, und in sie<br />
hineingedrückt ein konturloses Labyrinth aus Gassen und<br />
Straßen. Der Schnee liegt dort meterhoch, und willst du dich<br />
bis hinab auf die Straßenebene graben, greift dein Spaten<br />
schon nach den ersten Stößen knirschend in Eisschichten,<br />
die sich weiter unten zu einem blauen Panzer verdicken. Und<br />
das, bevor du auch nur das zweite Geschoss freigelegt hast.<br />
Aber wer sollte sich die Mühe machen Dort draußen in der<br />
Peripherie <strong>Danzig</strong>s gibt es nichts, wonach es sich zu graben<br />
lohnen würde. Alles Brennbare aus den Bauten wurde schon<br />
vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten in die Lager der Sippen<br />
gezerrt und ins Feuer gestoßen.<br />
F L U S S L A U F<br />
Die Weichsel ist ein kristallines Band, das sich in der Mittagssonne<br />
glitzernd durch <strong>Danzig</strong> windet, eingefasst von Mauern<br />
aus Kalksteinblöcken. Pulverschnee weht über die vereiste<br />
Fläche, zerreißt an kleinsten Erhebungen zu Schleiern und<br />
verwirbelt. Eiskristalle knirschen unter den Stiefeln. Dort vorne<br />
greift die erstarrte Weichsel unter einer Brücke hindurch.<br />
Geschwungene Bögen tragen die Gesteinslast, und breit ist<br />
die Brücke, dass eine ganze Wiedertäufer-Rotte nebeneinander<br />
darauf laufen könnte. Blinde Lampen auf hohen Stangen<br />
flankieren den Gehweg, eine jede ragt stolz und ungebeugt in<br />
den Himmel, ganz so, als sei das Urvolk nur kurz fort gegangen<br />
und würde schon morgen zurückkehren, um die Lampen<br />
erneut mit knisternder Elektrizität zu füllen. Auf allem liegt<br />
feiner Frost, Eiszapfen wachsen dem Wind entgegen.<br />
Der erstarrte Strom teilt sich auf, umschließt ein mit<br />
rechteckigen Kanälen angefressenes Stück Land. Kräne wie<br />
skelettierte Raben wachen über frostblaue Hallen und vom<br />
Eis zerquetschte Schiffe. Ein Schemen huscht über das Deck<br />
eines gefangenen Stahlkolosses. Möglicherweise ist es eine<br />
Spaltenbestie, obwohl sie hier draußen selten gesehen werden.<br />
Vielleicht auch ein Schrotter, der schon wie Hunderte vor ihm<br />
in die kalte Tiefe des Tankers hinabsteigen will, um Schätze zu<br />
finden, die es nie gab.<br />
Weiter geht es die Weichsel entlang über eisenharte Schneewehen.<br />
Dort drüben, ins rechte Ufer gepresst die steinerne<br />
Blume: Festungswälle, quadratisch im Grundriss, aber an<br />
den Ecken erweitert um gewaltige Pfeile, so dass der Bau von<br />
oben wie ein Eiskristall anmutet. Darin eine kreisrunde Mauer,<br />
in deren Zentrum ein Turm thront. Oben im Zinnenkranz<br />
schwelen noch die Holzscheite. Rauchfäden kräuseln sich in<br />
den Himmel. Dort draußen in der Eisbarriere muss eine Expedition<br />
unterwegs sein, und das Feuer hat ihr in der Nacht den<br />
Weg gewiesen. Wer auch immer es entfacht hat, jetzt wird er in<br />
den Heiztürmen oder der Kalten Maria untergekommen sein<br />
– in der Festung lebt niemand, dazu ist es zu kalt.<br />
Der Wind fegt ungestört von den Eisfeldern im Norden<br />
herab in die Stadt und haucht jedem eine ungesunde Blässe<br />
ins Gesicht, die tief ins Fleisch bis auf die Knochen schneidet.<br />
Gefrorene Augäpfel seien die Spezialität des Nordwinds,<br />
dröhnen die Orgiasten den Neuankömmlingen aus Borca<br />
entgegen und schlagen sich auf die Schulter, dass Wolken aus<br />
Pulverschnee aufstieben.<br />
Weiter geht es nicht. Das blaue Band verschmilzt hier mit<br />
der Landschaft: Endlose weiße Weiten; überzuckerte Schiffe<br />
ragen wie verendete Seeungeheuer aus dem Meer aus Eis.<br />
125
F L U S S B R A N D<br />
Die Spitalier hassen die Weichsel. Faltet man einen der alten<br />
Pläne auf und folgt dem Verlauf des Flusses bis zu seinem Ursprung<br />
(ohne sich von den zahlreichen Zuflüssen ablenken zu<br />
lassen), verharrt der Finger schließlich auf den Westbeskiden,<br />
an der Schnittstelle Pollen/Balkhan. Aber das war vor über 500<br />
Jahren so. Jetzt haben die Wasser aus Pandora die alten Flussbetten<br />
erobert und versenden die Saat des Primers als tanzende<br />
Knospen oder Sporenfetzen ins ganze Land. Auch bis hinauf<br />
nach <strong>Danzig</strong>.<br />
Die Weichsel mag gefroren sein, doch durch sie ziehen sich<br />
zahllose Adern, heiß und fiebrig vor Fäulnis. Vor Jahrzehnten<br />
noch haben Nomaden aus dem Süden Löcher ins Eis geschlagen,<br />
um an das warme Wasser zu gelangen. Sie schleppten es<br />
in Eimern in die Häuser, und manchmal zappelte ein Trilobit<br />
oder einer dieser kugelrunden Käfer darin – eine Delikatesse,<br />
mit einem nussigen Geschmack und eiweißreich. Aber auch<br />
durchdrungen von Fäulnis. Die Myzele fraßen sich in die<br />
Magenschleimhaut und gaben Sporen in den Blutkreislauf<br />
ab, wucherten ins Hirn und verdickten den Liquor zu einem<br />
nassen Wattebausch: Selbst die experimentellen Ex-Derivate<br />
der Epigenetiker hätten einen derart versporten Menschen<br />
nicht retten können.<br />
Im <strong>Danzig</strong>er Spital erzählen sich die Famulanten Geschichten<br />
von fäulniszerfressenen Leibern, die in den nördlichen<br />
Stadtvierteln in den Kellern liegen, vom Kältetod überrascht<br />
und für die Ewigkeit konserviert. Nur ein heißer Sommer, und<br />
die Kadaver würden erblühen. Fäulnis würde in die Fundamente<br />
wuchern, hinauf in die Bauten und hinaus. Wie Dunst<br />
würde sie durch die Häuserschluchten wallen. Nur ein Sommer,<br />
und unter <strong>Danzig</strong> würde das größte Muttersporenfeld<br />
Pollens explodieren mit Wällen hoch wie Drangpanzer. Aber<br />
das ist nur eine Geschichte, die die gefrorenen Gesichter der<br />
Neuankömmlinge rötet und für Abwechslung sorgt im blaukalten<br />
Einerlei der Stadt.<br />
Dennoch, die Weichsel ist eine Gefahr. Die Preservisten<br />
haben Schluss gemacht mit den Wasserentnahmen, und die<br />
Hygieniker wachen darüber, dass vergessen bleibt, dass ein<br />
warmer Strom unter dem gefrorenen Band verläuft.<br />
D I E S C H L A C H T R I N N E<br />
Wer durch die Nordwestrinne stapft, hat das <strong>Danzig</strong>er Spital<br />
als Ziel. Vorher gelangt er jedoch an die Schlachtrinne.<br />
In der letzten Nacht war Vollmond; also ist heute Anlieferung.<br />
Die Schlachtrinne ist am frühen Morgen nicht mehr<br />
als eine weiße Mulde neben dem ausgebrannten Skelett eines<br />
Backsteinbaus, mit aufgeworfenem und überfrorenem Kopfsteinpflaster.<br />
Wenn die Mittagssonne jedoch ihre Strahlen über<br />
die Weichsel schickt und den Platz in goldenes Licht taucht,<br />
nimmt ein Jahrzehnte altes Ritual seinen Lauf:<br />
Drei in dicke Pelze gehüllte Gestalten marschieren in die<br />
Schlachtrinne. Sie stellen sich dicht zusammen und reden leise<br />
miteinander, so dass sich ihre fellbesetzten Kapuzen berühren.<br />
Einer von ihnen hat einen Sack über die Schulter geworfen,<br />
den er mal von der einen in die andere Hand wechselt, aber<br />
nicht ablegt. Die drei Gestalten blicken immer wieder zur Sonne<br />
auf, schätzen die Zeit („mindestens zwölf Uhr“, „niemals,<br />
höchstens zehn Uhr; siehst du dort den Turm, ja da ist einer,<br />
aber schlecht zu sehen im Schnee, verdammt, du siehst doch<br />
die Schattenseite; auf jeden Fall, wenn die Sonne in einer Linie<br />
darüber steht…“). Die drei gehen ein paar Schritte, drücken<br />
die Arme enger an den Körper, die Gesprächsthemen gehen<br />
ihnen aus. In der Ödnis der pollnischen Eiswüste lernst du zu<br />
schweigen, hier funktionierst du nur.<br />
Die Sonne steht inzwischen bei ausgestrecktem Arm drei<br />
Handbreit über dem Horizont; sie hat ein gutes Stück nach<br />
Süden hinter sich gebracht. Rufe wehen zu den Gestalten<br />
herüber. Endlich. Sie starren über die Schlachtrinne hinweg<br />
nach Südosten, beschirmen ihre Augen vor der Sonne, und<br />
tatsächlich, dort drüben schieben sich unförmige Berge durch<br />
den Schnee: Sipplinge des Westja-Clans, traditionell (und wohl<br />
auch aus praktischen Beweggründen) unter unzähligen Fellschichten<br />
begraben; einige Felle sind festgezurrt mit Kordeln<br />
oder Darmschnüren, andere wurden lose übergeworfen. Einer<br />
der Sipplinge trägt auf der Körperachse einen Streifen hellgrauen<br />
Fells; „die Muster sagen etwas aus über die Hierarchie,<br />
oder nennen wir es bei diesen Wilden eher Hackordnung“<br />
raunt eine der Gestalten der neben ihr zu.<br />
Jetzt ist zu erkennen, dass hinter dem Gebirgszug aus Fellen<br />
mehrere Rinder und Pferde hertrotten. Die Tiere sind zottelig,<br />
die Köpfe halten sie geneigt, ihre Wimpern und Nüstern sind<br />
eisverkrustet.<br />
Sie haben einen langen Weg hinter sich, durch Kälte und endlose<br />
Tundra, und wenn man auf der Karte ihre Route mit dem<br />
Finger nachfährt und sich die enorme Distanz bewusst macht,<br />
dann wird einem schnell klar, dass der Westja-Clan das sicherlich<br />
nicht für eine Handvoll Pillen auf sich genommen hat.<br />
Der Einsatz für die Gestalt mit dem Sack: Sie schlägt ihre<br />
Kapuze zurück (eine Frau mit rasiertem Schädel) und hebt<br />
die Hand. Der Sippling mit dem Fellstreifen erwidert den<br />
Gruß, zieht ebenfalls seine Kapuze zurück und entblößt eine<br />
verfilzte graue Matte, die eins zu sein scheint mit dem ebenso<br />
grauen Bart, die für Augen und Nase nur ein helles T ausspart.<br />
Beide ziehen die Kapuzen wieder über und gehen aufeinander<br />
zu. Die Frau reicht dem Mann den Sack, den dieser öffnet,<br />
hineingreift und eine breite Klinge herauszieht. Hervorragend<br />
geschliffen, aber mit grobem Stein, was das Metall zerkratzt<br />
aussehen lässt. Fürs Protokoll: Das Messer ist desinfiziert und<br />
– viel wichtiger – es ist zertifiziert. Von den drei Gestalten,<br />
denn es sind Hygieniker.<br />
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Drei Fellberge führen ein Pferd nach vorne, legen ihm<br />
Schlingen um Beine und Hals. Das Tier scheut, doch Fellstreifen<br />
streicht ihm über den Kopf und redet leise auf es ein.<br />
Es beruhigt sich. Die Hygieniker betrachten das Pferd, einer<br />
blickt ins Maul, ein anderer drückt seinen Kopf an die Flanke<br />
des Tieres und lauscht auf Herzschlag und Lungengeräusche.<br />
Keine Auffälligkeiten. Alle drei nicken: Zertifiziert. Fellstreifen<br />
blickt sie an, dann das Pferd. Seine Brust hebt und senkt sich,<br />
er wechselt die Klinge in die linke Hand, holt aus. Mit einem<br />
Hieb rammt er das Metall in den Nacken des Pferdes, schneidet<br />
tief durch Fettgewebe und Sehnen, und für einen Augenblick<br />
sieht es aus, als hätte es festes Gelee zertrennt – die beiden<br />
Hälften schwingen hin und her. Dann explodiert das Blut aus<br />
der Wunde, das Tier krampft, tritt aus, aber Beine und Hals<br />
sind unter Kontrolle der Westjas, die sich das andere Ende der<br />
Seile um die Unterarme geschlungen haben. Fellstreifen zieht<br />
das Beil aus dem Fleisch, holt erneut aus, schlägt. Das Tier<br />
bricht zusammen.<br />
Das ist nur die erste Schlachtung an diesem Tag, und beileibe<br />
nicht die letzte. Das Fleisch, um einen Monat lang etwa dreihundert<br />
Spitalier zu versorgen, muss heute vorbereitet werden.<br />
Gut drei Ochsen und drei Pferde werden es diesmal sein.<br />
Die Westjas häuten die noch warmen Kadaver und zerlegen<br />
das Fleisch, die Hygieniker nehmen Proben und zerdrücken<br />
sie zwischen Glasträgern, suchen nach Würmern und Sporenbefall.<br />
Es wird gewogen, verzeichnet, zertifiziert. Am späten<br />
Nachmittag, wenn die Farbe aus dem Tag weicht, kommen<br />
Famulanten aus dem Spital herbei; sie schleifen Kisten hinter<br />
sich her. In diese Kisten schaufeln sie unter Aufsicht der Hygieniker<br />
frischen Schnee, legen das Fleisch hinein und bedecken<br />
alles wieder mit Schnee. Sie schließen die Kisten, die Frau<br />
klebt Siegelstreifen (uralt und verwittert, da steht etwas von<br />
„Zollbanderole“) an zwei Stellen vom Deckel ausgehend bis<br />
über den Unterteil, so dass die Kiste nicht zu öffnen ist, ohne<br />
mindestens ein Siegel zu zerreißen. Dann schleppen die Famulanten<br />
die Kisten zurück.<br />
In der Abendsonne wird die Schlachtrinne dampfen; der<br />
Schnee ist zu rotem Matsch zertrampelt. Aber schon nach<br />
zwei Tagen, wenn der Winter seinen weißen Mantel erneut<br />
über dem Platz ausgebreitet hat, wird nichts mehr an das Gemetzel<br />
erinnern.<br />
I N D E R S TA D T<br />
Der Sommer vertreibt den Winter nicht mehr aus den Gassen.<br />
Eiszapfen wachsen an den vorspringenden Dächern; werden<br />
sie nicht abgeschlagen, lässt ihr Gewicht die Balken bersten. In<br />
dicke Felle gehüllte Spitalier schaufeln Gehrinnen oder stoßen<br />
Schnee von Dächern und Brücken. Die Hauptstraßen sind tiefe<br />
Einschnitte im ewigen Weiß, gerade breit genug, um einen<br />
Karren durch sie zu ziehen. Die Wände der Häuser verschwinden<br />
hinter pappigem Schnee.<br />
Friert ein Organismus, verengt er das außen liegende Aderngeflecht<br />
und bewahrt sich so die Wärme im Inneren. Die <strong>Danzig</strong>er<br />
sagen, das habe er sich bei ihnen abgeschaut und lachen<br />
dabei kehlig (die Luft ist trocken: es klingt wie ein Husten).<br />
Tatsächlich konzentriert sich alles Leben in <strong>Danzig</strong> auf einige<br />
wenige Orte – alles, was nicht unbedingt nötig ist, wurde in<br />
den letzten Jahrzehnten aufgegeben und abgestoßen.<br />
127
128
H E I Z T Ü R M E<br />
Die Luft ist heiß und trocken und riecht nach Harz. Flammen<br />
lodern aus einem kreisrunden Loch, lecken an dem blasigen<br />
und tiefschwarzen Gusseisen. Einen Schritt vor, die Augen<br />
geschützt mit einer gerußten Glasplatte, blicken wir in den<br />
Ofen von Schlot II: Ein scharfer Luftzug lässt die Holzscheite<br />
aufglühen und krachen, Funken stieben in die Höhe, die Flammen<br />
tosen. Die Kessel über uns strahlen eine schmerzhafte<br />
Hitze ab, die Nadeln der Druckregler zittern sich in den roten<br />
Bereich, und jetzt hörst du, wie das Wasser braust und sich<br />
stoßweise durch die noch kalten Rohre presst. Anfangs ist es<br />
ein Saugen und Schmatzen, wenn es Luftblasen überwindet<br />
und aus den Ventilen drückt, doch dann erstirbt die Geräuschkulisse<br />
zu einem monotonen Rauschen.<br />
Aus dem Kessel drängen Dutzende Rohre, ein jedes für<br />
einen bestimmten Bezirk. Folgen wir diesem einen mit der<br />
gelben Markierung: Es stößt in die Höhe, schwingt elegant<br />
in die Waagerechte und stößt in die Baracken, gelangt von da<br />
nach draußen, dick isoliert und trotzdem dampfend, sticht aber<br />
sofort wieder durch eine Backsteinwand, verläuft krüpplig wie<br />
ein Ast auf welligem Holzboden, steigt in die Höhe, knickt<br />
weg, durchquert eine Küche. Das Rohr fühlt sich<br />
noch immer lauwarm an, aber es reicht nicht mehr,<br />
um die Behausungen zu heizen. In mehreren<br />
Schlingen kehrt es zurück in den Heizturm, wo das jetzt kalte<br />
Wasser wieder in den Boiler strömt.<br />
Die zwei Heiztürme: Wie eine Zahnkrone auf ein zerstörtes<br />
Gebiss gesetzt wird, wurden die Heiztürme <strong>Danzig</strong><br />
aufgedrückt, aber von einem Zahnarzt, der gerne und viel mit<br />
Drähten fixiert, immer wieder herum um die Stümpfe, Risse<br />
mit Metall abdeckt, das hält. Die Türme sind heute Ungetüme<br />
aus Blechen, Stahlringen und Bolzen, die im Wind knarren und<br />
schwanken. Spitalierkreuze in rissigen Farbfetzen prangen auf<br />
ihnen, verloren zwischen einem Wust aus Heizrohren.<br />
Die Türme stehen etwa einhundert Schritt auseinander, und<br />
zwischen ihnen und um sie herum drängen sich Hütten und<br />
Häuser, einige mit hohen aber schmalen Sichtschlitzen, die<br />
sich gut mit Lumpen verschließen lassen, die meisten fensterlos;<br />
alle nach Norden zeigenden Fassaden sind verstärkt und<br />
innen mit Stoff verhängt. Zwischen den Bauten schlängeln<br />
sich Gassen und Hohlwege, über Brücken aus Stahlseilen gelangt<br />
man über tiefe Gebäudeschluchten. Rohre aus verbeul-<br />
129
tem Blech durchziehen die Siedlung wie Wurzelwerk, verästeln<br />
sich, laufen als parallele Stränge über die Wände der großen<br />
Baracken, hangeln sich an Drahtwerk von Haus zu Haus. Alles<br />
ist darauf ausgelegt, die Hitze aus den Heiztürmen einzuschließen<br />
und nicht entweichen zu lassen.<br />
Es ist feuchtwarm hier. Es tropft von der Decke, die Wände<br />
sind nass und schimmlig; Vorhänge und Decken riechen muffig<br />
und sind klamm. Der Schweiß in deinen Stiefeln ist nach<br />
sechs Monaten immer noch derselbe, den du zu Anfang dort<br />
abgelassen hast. Nur ist er jetzt ranzig und mit Auszügen diverser<br />
Desinfektionsmittel versetzt. Fast alle, die hier arbeiten und<br />
leben, haben Entzündungen und Pilz zwischen den Zehen. Du<br />
riechst es. Nur wer Füße und Überzieher jeden Tag am offenen<br />
Feuer trocknet und dabei nicht mit Kalk und Destillat spart,<br />
hat eine Chance, davon verschont zu bleiben.<br />
D A N Z I G E R S P I TA L<br />
„Das soll das Spital sein“ fragen die Spitalier, die gerade 800<br />
Kilometer Fußmarsch durch die pollnische Ödnis hinter sich<br />
haben, zwischen Sporenfeldern hindurch und geplagt von<br />
Durchfall und Augenentzündungen. Sie erwarten saubere Alleen,<br />
ein Eingangsportal mit Spitalierkreuz, dahinter geweißte<br />
Hallen, Labore, Licht und Wärme.<br />
Das alte Spital ist ein Block aus Beton und Glas, der wie eine<br />
Klippe aus dem aufgewühlten Meer aus Hütten und Häusern<br />
ragt. Seine Fenster sind erhalten, aber zugefroren; Eisblumen<br />
erblühen außen und innen, sind an der Nordseite zu einem fingerdicken<br />
Panzer erstarrt. Eine hüfthohe Schneeschicht krönt<br />
das Flachdach, hat es an zwei Stellen eingedrückt.<br />
Innen marschiert man durch dunkle Gänge, blickt in verlassene<br />
Behandlungszimmer. Betten stehen auf den Fluren, ihre<br />
Laken sind gefroren. Das Linoleum ist rissig und wölbt sich an<br />
den Bruchkanten nach oben. Da, ein Lichtschein, hinter einem<br />
geschwungenen Tresen: Ein Spitalier mit Pelzüberwurf hockt<br />
vor einem Gitterkorb, in dem ein Holzscheit glimmt. Der Spitalier<br />
blickt kurz auf (die Glut wirft einen roten Schimmer auf<br />
sein eingefettetes Gesicht) und winkt einen weiter.<br />
D I E A R C H I V E<br />
Das Gebäude mit seinen großen Glasflächen und dem<br />
maroden Dach ist nicht zu heizen. Zwar nutzen Famulanten<br />
die alten Operationssäle oder Wartebereiche, wenn sie sich<br />
zurückziehen und für ihre Rückkehr ins wahre Leben (Borca,<br />
o Borca!) medizinische Schriften studieren, doch offiziell<br />
wurden die Räume aufgegeben. Ein einzelnes Heizungsrohr<br />
windet sich ins Erdgeschoss, am Empfangsbereich vorbei in<br />
den Westtrakt. Licht fällt in blauen Schleiern durch die Fenster<br />
der angrenzenden Räume in den Gang. Grauer Linoleumboden<br />
quietscht unter den Schuhen, es riecht nach Staub,<br />
Desinfektionsmitteln und altem Papier. Dies ist das Reich der<br />
Hippokratin Dr. Tuska. Sie ist die Wächterin der Bücher und<br />
Aufzeichnungen: Wer ein Schriftstück anfordern will, muss<br />
eine Bestellung ausfüllen und ein Gespräch mit ihr führen.<br />
Wobei gerade Letzteres nicht zu unterschätzen ist.<br />
Die Tuska ist sonderbar.<br />
Ist kein Spitalier anwesend, sitze die Hippokratin wie eine<br />
deaktivierte Menschmaschine hinter ihrem Schreibtisch und<br />
starre auf die Eingangstür, als wolle sie jemanden beschwören,<br />
einzutreten, behaupten einige ihrer Kollegen. Sie zwinkern<br />
nicht dabei oder zucken mit der Augenbraue, um ihrer Mimik<br />
das Prädikat „ich bin witzig“ zu verpassen. Sie meinen es ernst.<br />
Alles Unsinn, sagen andere, es sei reiner Zufall, dass die Tuska<br />
jedem ins Gesicht blickt, sobald er eintritt. Die Tür sei aufgequollen<br />
und schwergängig wegen des Temperaturunterschieds<br />
zwischen Gang und Büro. Unüberhörbar schwergängig, was<br />
der Tuska genug Zeit gibt, sich aufzusetzen und ihrem Besuch<br />
ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ist höflich, das ist alles.<br />
Oder<br />
Aber Tuskas Sprechweise, und da können die Abwiegler<br />
beschwichtigen wie sie wollen, Tuskas Sprechweise ist ungewöhnlich:<br />
Sie macht mitten in ihren Sätzen Pausen, an Stellen,<br />
die kaum der Dramaturgie förderlich sind, dafür aber glauben<br />
lassen, dass die Kälte ihr ein paar Adern auf dem Weg ins Hirn<br />
vereist hat.<br />
Einmal beschwichtigen bitte: Werden wir nicht alle eigentümlich<br />
hier Fragt sich nicht jeder in den schwachen Stunden<br />
nach einem harten Tag, ob er ebenso seltsam wie die Tuska sei,<br />
und genau deshalb nach <strong>Danzig</strong> versetzt wurde<br />
Es lässt sich auf eines runterbrechen: Menschen reden<br />
gerne über andere Menschen, insbesondere wenn sie wenig<br />
Besseres zu tun haben, als sich die Füße zu pudern.<br />
Fakt ist, dass die Tuska zwar seltsam, aber hilfsbereit ist. Sie<br />
kennt die Archive besser als jeder andere, und sie teilt ihr Wissen.<br />
Seid nett zu ihr, auch wenn das nichts an ihrem Verhalten<br />
ändert. Irgendwie spürt man, dass sie es verdient hat.<br />
D I E L A G E R<br />
Die alte Bibliothek des Spitals befindet sich im Obergeschoss,<br />
aber hier versagte die Heizung schon vor Jahren: Die<br />
Bestände sind steif gefroren. Geborgen und aufgetaut werden<br />
sollen sie erst, wenn ein Konzept zur Erhaltung der Bücher<br />
erarbeitet wurde.<br />
Inzwischen drängen sich Einmachgläser mit in Formalin<br />
eingelegten Organen in den Regalen, an den Wänden stapeln<br />
sich Kisten mit Spreizeraufsätzen und Keramikkartuschen,<br />
deren Beschriftung zur Unleserlichkeit verblasst ist. Die alte<br />
Bibliothek verkommt zur Abstellkammer. Von da an ist es nur<br />
ein kleiner Schritt zur Müllhalde.<br />
D I E B L A U E N L A B O R E<br />
Die Ärzte haben sich in die Kelleretage zurückgezogen, in<br />
die blauen Labore. Bis vor zwei Jahren waren dies die Kühlräume<br />
des Gebäudes, jetzt sind es die letzten Räume im alten<br />
<strong>Danzig</strong>er Spital, die noch effektiv zu heizen sind.<br />
Du kommst die Treppe herunter, rechterhand zweigt ein<br />
Gang ab, verliert sich aber in Finsternis. Vor dir liegen vierzig<br />
Meter Fliesenboden, und jede dieser verdammten Fliesen hat<br />
sich aus ihrem Mörtelbett gelöst und knirscht unter deinen<br />
Schritten. Kalk kitzelt dir in der Nase.<br />
Was ja schon mal ein Anfang ist und darauf schließen lässt,<br />
dass die <strong>Danzig</strong>er Spitalier nicht alles vergessen haben, was die<br />
Hygieniker in Borca predigen.<br />
Den Flur runter, bis zur ersten Schiebetür. Dahinter liegen<br />
die blauen Labore, der wichtigste Ort für Spitalier in <strong>Danzig</strong>;<br />
einige behaupten sogar (mit einem schiefen Grinsen auf dem<br />
Gesicht und mit einer Hand im Nacken), dass es der wichtigste<br />
Ort in diesem verdammten Land sei, das ansonsten nur aus<br />
Sporen, Wilden und Fußpilz bestünde.<br />
Hinein: Summende Leuchtdrähte strahlen ein warmrotes<br />
Licht ab, das auf den blauen Fliesen der Wände zu einem<br />
Violett gerinnt. Weiter hinten pulsieren gleißende Lichtinseln<br />
– Leuchtstoffröhren flackern dort an der Decke.<br />
130
Die Labore bestehen aus drei Raumschläuchen von etwa<br />
fünf Schritt Breite und gut zwanzig Schritt Länge; diese<br />
Schläuche liegen nebeneinander und sind durch Schiebetüren<br />
miteinander verbunden. An den Enden eines jeden Raumes<br />
liegt eine abschließbare Kammer. Zu denen werden wir noch<br />
kommen.<br />
Die Labore sind das Domizil der Forschungsgruppe Primer<br />
unter Konsultantin Janssen.<br />
Die Schränke an den Wänden, in denen aufgespießte Trilobiten<br />
und Käfer lagern, die armdicken Glaszylinder mit ihrer<br />
honigfarbenen Flüssigkeit, in der Gliedmaßen und Organe von<br />
Biokineten und Spaltenbestien schwimmen, dies alles dient nur<br />
dem einen Zweck: Den Primer in seiner unveränderten Form<br />
zu finden. Spitalier sitzen beisammen auf aufgequollenen<br />
Holzstühlen, einer zeigt eine Schachtel mit einem zerlegten<br />
Trilobiten herum. Er deutet auf die Facettenaugen, die herausgetrennt<br />
und aufgeschnitten daliegen. Andere beugen sich<br />
über Mikroskope, während ihre Kollegen mit einem Buch<br />
neben ihnen sitzen und leise Einweisungen flüstern. Warme<br />
Luft wallt von den Lamellenheizungen herüber, lässt die Probenträger<br />
und die Linsen beschlagen.<br />
Es ist still in den Laboren.<br />
Nein. Da ist etwas, ein Vibrieren in der Luft. Als hätten die<br />
blauen Labore einen eigenen Herzschlag, der sich einen Atemzug<br />
lang zu einem Flattern beschleunigt, und dann wieder zu<br />
einem erschöpften Stolpern abklingt. Die Ärzte regen sich<br />
nicht, dort steht einer von seinem Mikroskop auf und drückt<br />
sich die Fäuste in die Seiten. Er reckt sich. Das ferne Herz setzt<br />
einen Schlag aus und galoppiert plötzlich voran, schneller als<br />
gerade, steigert sich zu einem Stakkato im Bereich des Hörbaren.<br />
Die Augen des Spitaliers rucken zur Tür am Ende des<br />
Raumes, gut fünfzehn Schritt von ihm entfernt. Andere folgen<br />
seinem Blick. Einen atemlosen Augenblick fixieren zehn Ärzte<br />
das Rechteck aus Aluminium, starren auf das kleine Fenster<br />
darin.<br />
Die Tür.<br />
Dr. Janssen ist der Ansicht, dass sich der Primer aus einem<br />
Wirt lösen und seine Urform als Metaorganismus annehmen<br />
kann, wenn nur die Umgebungsparameter (Atmosphäre, Temperatur)<br />
außerhalb des Anpassungsspektrums des Wirts liegen.<br />
Der kompromittierte Wirt wäre nicht länger ein geeigneter<br />
Träger des Primers.<br />
Soviel zur Theorie. Hinter der Tür sehen wir die Praxis.<br />
Ein Fleischfilm überzieht die Wände, tastet sich in Fugen<br />
und hängt in Lappen von der Decke. Gebein schwimmt auf<br />
dem Fleisch (ist das ein Oberschenkelknochen, der sich teilt<br />
und in etwas übergeht, das wie Rippen aussieht), ist untereinander<br />
mit Knorpelsträngen und Knochenfäden verbunden.<br />
Adern durchziehen das Fleisch, spinnen Knochen ein, und sie<br />
pulsieren. Eine kopfgroße Verdickung unten an der Kante zur<br />
Tür dehnt sich aus und fällt wieder zusammen. Etwas Dunkles<br />
drückt sich gegen die Außenhaut und strafft sie, bevor es wieder<br />
in der nassen Fleischlichkeit der Verdickung versinkt.<br />
Gestatten, Balg Nummer zwei.<br />
Vor zwei Jahren war diese Fleischsuppe noch ein eins-achtzig<br />
großes, weibliches Exemplar eines Migranten, gefangen<br />
auf einem Forschungssporenfeld. Es soll sehr hübsch anzusehen<br />
gewesen sein; häufig unterbrachen Spitalier ihre Arbeit,<br />
um einen Blick durch die Sichtscheibe der Tür zu werfen. Alles<br />
okay. Man könne ja nie wissen, was der Biokinet gerade plane,<br />
haha.<br />
Die Janssen hingegen war völlig humorlos, was den Absonderlichen<br />
anging. Sie hatte eine Handvoll Theorien zu<br />
beweisen, und das ging ihrer Ansicht nach am besten mit<br />
Kohlenmonoxid und Stickoxiden. Der Biokinet überlebte<br />
diese erste Einleitung. Aber er veränderte sich. Und plötzlich<br />
war der Platz vor der Sichtscheibe nicht mehr so begehrt. Der<br />
Absonderliche drückte sich an die Tür, Polypen wuchsen aus<br />
seiner Haut und krallten sich in die Spalte zwischen Zarge und<br />
Tür. Das war gar nicht hübsch anzusehen. Er kam nicht durch,<br />
aber er wich auch nicht mehr von der Stelle. Er presste und<br />
zerschmolz zusehends, wucherte über die Wand, griff zur Decke<br />
und wuchs in die Stutzen hinein, über die die Chemikalien<br />
eingeführt worden waren.<br />
Konsultantin Janssen rast vor Wut. Ihr läuft die Zeit davon,<br />
und dieser verschissene Biokinet hat noch keinen Tropfen<br />
Primer abgesondert. Was soll sie ihm noch einimpfen, damit<br />
er aufgibt Sie hat eine Bestellung an die Pharmazeutiker nach<br />
Borca geschickt – aber glaubt sie wirklich, die Tanks jemals<br />
geliefert zu bekommen<br />
W I R W O L L E N N I C H T<br />
Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, Menschen,<br />
was auch immer: Der alte Sermon, vorgebracht von jungen<br />
Spitaliern mit rissigen blauen Lippen, allesamt hohlwangig.<br />
Sie haben dieses Zittern im Blick und gestikulieren mit fahrigen<br />
Händen. Die Gelenke an den Fingern sind zu glänzenden<br />
Knoten geschwollen, die Haut darüber spannt und verliert sich<br />
dazwischen in trockenen Falten. Einer von ihnen hat einen von<br />
roten Flecken gesäumten Mund – Skorbutmale<br />
Sie drängen sich aneinander in einem fast quadratischen<br />
Bau nahe der Heiztürme. Die Fenster sind vermauert, und<br />
trotzdem fährt die Kälte durch die Fugen, lässt das Schwitzwasser<br />
an den Wänden kondensieren. Es riecht nach frischem<br />
Schweiß und entzündeter Haut.<br />
Gestern kam ein Bote aus dem Spital, und zweifellos hatte er<br />
eine Order an die Janssen dabei. Weiß jemand mehr Was mag<br />
auf dem gelben Papier gestanden haben War es handschriftlich<br />
verfasst oder mit den Typenschreibern getippt<br />
„Was macht das für einen Unterschied“ ruft eine junge<br />
Ärztin. Sie ist neu hier und hat keine Ahnung, daher wird sie<br />
einfach nur ignoriert. Was aber jeder weiß: Die Konsultantin<br />
verweigert den Abzug aus dieser verfluchten Stadt. Dabei sieht<br />
jeder, dass die Ära des <strong>Danzig</strong>er Spitals zu Ende geht; da ist<br />
die Kälte, die Jahr um Jahr weiter um sich greift, in den Kellern<br />
lauern die Spaltenbestien, ganz Borca sieht <strong>Danzig</strong> als Nest<br />
von Eigenbrötlern und Sturköpfen.<br />
Die Janssen wird sie alle ihrem Ehrgeiz opfern!<br />
Gespräche entflammen, in denen die Missstände aufgezählt,<br />
hinausgerotzt werden. Gerötete Gesichter rucken vor, Fäuste<br />
werden geballt.<br />
Und die Order Ja, Typenschreiber, natürlich, als ob die Ärzte<br />
in Borca so hirnverbrannt wären, der Janssen noch mal eine<br />
handgeschriebene Botschaft zukommen zu lassen: „Huch, die<br />
kann ich gar nicht lesen, so unsauber und krakelig“ imitiert<br />
ein Famulant die Konsultantin, und einige seiner Kameraden<br />
lachen auf. Verlaufene Tinte, falscher Stempel, Fälschung,<br />
ungenau formuliert, unleserlich – die Janssen ist erfinderisch,<br />
wenn es darum geht, ihren Frosttempel zu erhalten.<br />
Aber was stand nun in der Order Soll die Besatzung verkleinert<br />
werden Wer darf nach Hause<br />
Niemand hat eine Antwort, aber jeder hat eine Meinung.<br />
disziplin<br />
131
N I E M A N D B E S I T Z T E I N<br />
Recht<br />
AUSSER DEM,<br />
IMMER SEINE<br />
pflicht<br />
ZU TUN.<br />
[AUGUSTE COMTE]<br />
..<br />
Und <strong>Danzig</strong> hat ein Problem mit der Disziplin.<br />
Die Ärzte sind erschöpft. Viele leiden an Mangelerscheinungen,<br />
büßten Zehen und Finger ein. Ein Kamerad auf der<br />
Baracke, dessen Fuß als schwarzer Stumpf unter der Decke zu<br />
stinken beginnt, und der im Fieber schreit und jammert, der<br />
reißt Löcher in die Moral der Truppe. Dann die Angst. Vorige<br />
Woche erst brach ein Arzt nicht weit vom Spital entfernt in<br />
den Boden ein – in einen Tunnel der Spaltenbestien. Ihn zu<br />
befreien war leicht: Sein Anzug war an den Beinen mit langen<br />
Schnitten aufgetrennt worden, die Beine herausgerissen. Nein,<br />
er hat nicht überlebt.<br />
Niemand sieht mehr einen Grund, in <strong>Danzig</strong> auszuharren.<br />
Das Eis wird über die Spaltenbestien kommen, und selbst<br />
wenn sie es schaffen sollten, nicht als gefrorener Zoo in die<br />
Ewigkeit einzugehen: Wen kümmert es Verlassen die Spitalier<br />
Pollen, könnten die Bestien gerne jeden verschissenen Tag am<br />
Sichelschlag picknicken und Schlammbäder nehmen, wenn<br />
ihnen danach ist. Soll ja gut für die Haut sein.<br />
Weitere Argumente Hebt jemand die Hand Aha, Expeditionen<br />
nach Pandora, höre ich von da hinten. Etwas zaghaft,<br />
nicht Mit fester Stimme ließe sich das auch nicht vorbringen,<br />
denn die Expeditionen zum großen Krater, die sind großer<br />
Scheiß. Bitte nachsprechen: Scheiß! Mal ganz davon abgesehen,<br />
dass ihr Nutzen mehr als zweifelhaft ist, ließen sich diese<br />
Expeditionen auch von einem weiter südlich gelegenen Stützpunkt<br />
durchführen. Wäre sicherlich auch billiger für das Spital:<br />
Die Konvois müssten nicht durch ganz Pollen rumpeln.<br />
Die Hotspots Ein interessantes Phänomen, sicher, und die<br />
Preservisten sind immer schnell zur Stelle, um sie abzuriegeln.<br />
Sollen sie doch mit offenen Karten spielen, wenn sie auch nur<br />
einen Arzt in <strong>Danzig</strong> halten wollen.<br />
<strong>Danzig</strong> zeigt dir, was für ein Mensch du bist, sagen die<br />
Spitalier: Die einen haben sich der Kälte und dem Diktat der<br />
Konsultantin ergeben; sie trotten im Tross mit nach Pandora,<br />
sie schaufeln Schnee aus den Gassen und steigen mit Spreizer<br />
und Fungizidgewehr bewaffnet in die Keller hinab. Sie folgen<br />
Befehlen.<br />
Der andere Schlag Spitalier begehrt auf: So hat er sich das<br />
nicht vorgestellt. Die Jahre im Appendix, dann die Ausbildung<br />
im Corpus, und jetzt klettert man über Gerüste und flickt Rohre<br />
Man friert sich den Arsch ab, den man sich als Enklavenarzt<br />
nachtragen lassen könnte Irgendwas stimmt hier nicht.<br />
Ärzte hocken in der Hierarchie der Gesellschaft nicht auf der<br />
untersten Sprosse, soviel ist mal klar, also sollten sie in <strong>Danzig</strong><br />
etwas höher kraxeln. Was, die Leiter hat nur diese eine Sprosse<br />
Was machen sie dann hier<br />
Die letzte Gruppe hat sich angepasst. Man erkennt ihre Mitglieder<br />
an dem feinen Haarflaum auf den Schädeln, der sich<br />
schließlich zu einer dichten Matte auswächst. Sie haben Familie<br />
in <strong>Danzig</strong> oder Umgebung; Sipplingsfrauen tragen ihre Kinder<br />
unter dem Herzen, und kein Hygieniker hat diese Verbindung<br />
zertifiziert oder wird das Neugeborene in die Dokumente<br />
aufnehmen. Die meisten dieser Ärzte werden hier bleiben<br />
oder sich den Nomadenstämmen anschließen, wenn das Spital<br />
<strong>Danzig</strong> aufgibt. Pollen ist ihre neue Heimat, und hier sind ihre<br />
Wurzeln, und mögen diese auch noch grün und schwach wie<br />
Sporengespinst sein.<br />
132
preservisten<br />
R A I M O N D U S H L A N D<br />
Vor einem Jahr gab Nikolai Worschek den Siegelring, der ihn<br />
als Obmann des <strong>Danzig</strong>er Kommandos auswies, an Raimond<br />
Ushland weiter; mit im Wind knatterndem Umhang preschten<br />
er und zwei seiner Gefährten Richtung aufgehender Sonne.<br />
Ushland hatte den Ring wortlos entgegengenommen und<br />
blickte den drei Reitern ebenso wortlos nach. Er musste keine<br />
Fragen nach dem Warum stellen, er hatte es gerochen, dieses<br />
süßliche Miasma der Fäulnis, durchmischt mit dem schwarzen<br />
Gestank zerstörten Lungengewebes. Worschek und seine<br />
Gefährten hatten sich mit dem Feind eingelassen, um auf der<br />
gleichen Ebene gegen ihn anzutreten.<br />
Ushland verstand das.<br />
Sie alle verstanden das. Und sie alle erwarteten, dass man die<br />
Konsequenzen traf, wenn der Tag gekommen war. Ushland<br />
wandte sich ab. Auch er würde sich eines Tages entscheiden<br />
müssen. Oder nein, es war nicht so sehr eine Entscheidung, als<br />
vielmehr die Bereitschaft, ein Schicksal zu akzeptieren.<br />
Doch dieser Tag liegt noch in ferner Zukunft.<br />
Im Moment muss Ushland seinen Zug Preservisten beisammen<br />
halten. Zwanzig Männer und Frauen stehen unter<br />
seinem Kommando, drei davon werden seit Wochen vermisst.<br />
Eigentlich nicht ungewöhnlich, aber Ushland beunruhigt, dass<br />
er ihre Fährte verloren hat. Ihr Geruch weht nicht mehr durch<br />
die Gassen <strong>Danzig</strong>s, und auch wenn er mit seinem Wallach<br />
über die kalten Felder vor der Stadt prescht, riecht er nichts.<br />
Stattdessen ist dort etwas anderes, etwas Großes, Massiges,<br />
Urtümliches. Es riecht nach Alter, nach Abstoßung, es hängt<br />
wie geronnenes Öl in der Luft, klebt an ihm, klebt an allen.<br />
Seine Sinne stumpfen ab.<br />
Ushlands Nasenflügel beben.<br />
Er befürchtet tief im Innersten (und dort wächst es Tag<br />
für Tag zu einer fleischigen Gewissheit heran), dass er seine<br />
Sinne bald nicht mehr benötigt. Was auch immer es ist, es<br />
wird so offensichtlich werden wie der Schnee, der auf <strong>Danzig</strong><br />
herabrieselt.<br />
D A S D A N Z I G E R K O M M A N D O<br />
Die Preservisten haben ihr Lager abseits der Truppe im stillgelegten<br />
Heizturm II aufgeschlagen. Es war schon immer<br />
schlecht für die Moral, wenn die Ärzte das Menschliche an den<br />
Preservisten erleben: Die blau gefrorenen Lippen, die Angstschreie<br />
in der Nacht, die leeren Augen.<br />
Nur die zum Schatten verblassten Reste menschlicher Regung,<br />
denkt Ushland, nur noch dazu da, die Seele zu quälen,<br />
aber nicht mehr das Handeln zu steuern. Sie alle sind den<br />
einen verdammten Schritt zu weit gegangen. Nun, vielleicht<br />
nicht weiter als die Absonderlichen, aber die Absonderlichen<br />
hatten nie die Wahl. Seine Leute hatten sie immer. Nicht einer<br />
ist zurückgewichen.<br />
Da wäre Flemming. Er steht Wache am Eingang zum Heizturm,<br />
ist eine eingeschneite Gestalt mit dampfendem Gesicht.<br />
Seine Augen sind kleine Kiesel inmitten eines Fleischgebirges;<br />
seine Haut ist rissig und alt, Narben leuchten blau auf ihr. Er<br />
trägt kein Preservalis-Schwert, sondern hält in der rechten<br />
Hand einen Spreizer, den er gegen jeden richtet, der sich nicht<br />
zu erkennen gibt. Einen ausgeliehenen Spreizer. Das Schwert,<br />
das hat er im Kampf verloren, zusammen mit seiner linken<br />
Hand. Selbstverständlich bestraft er sich dafür, wie es von<br />
ihm erwartet wird: Er wird Wache halten, bis seine Knochen<br />
festfrieren und ihm die Haut vor Kälte reißt, und dann noch<br />
eine Weile länger.<br />
Wo sind die anderen<br />
Heizturm II besteht aus Außenhülle und Innenbau: Wellblech,<br />
Felle, Teerplatten, Motorhauben – genietet, geschraubt,<br />
mit Draht fixiert, das macht die Hülle aus. An einer Stelle<br />
(genau dort wo Flemming steht), kann man sie durch eine<br />
an Drahtscharnieren hängende Tür passieren. Innen ist es<br />
dunkel, bis auf wenige Lichtpunkte, die an den Ritzen in der<br />
Konstruktion aufblitzen. Der ganze Turm klappert und ächzt.<br />
Der Innenbau hält sich besser: Tastest du dich nach vorne,<br />
spürst du die Ziegeln unter den Fingern. Ein breiter Gang<br />
führt einmal drum herum, aber den muss niemand gehen, da<br />
der Eingang vom Durchgang der Hülle aus keine drei Schritte<br />
linkerhand liegt. Also rein da. Warme Luft schlägt einem entgegen,<br />
ist gesättigt mit ranzigem Schweiß und dem Geruch nach<br />
nassem Fell. Ein Pferd schnaubt. Ein flackerndes Licht in der<br />
Ferne, Schemen, die sich davor bewegen. Erstmal einen Überblick<br />
bekommen: Eine Halle, langgestreckt. Zu unserer Linken<br />
umschließt ein brusthohes Gatter ein nahezu quadratisches<br />
Areal, darin werden die Pferde gehalten. Ein schwarzer Rappe<br />
kommt herbei, seine Hufe schlagen hart auf den Steinboden;<br />
als er sieht, dass wir nicht sein Reiter sind, schnaubt er, senkt<br />
den Kopf und schüttelt sich. Wir wenden uns ab. Inzwischen<br />
haben wir uns an das Halbdunkel gewöhnt.<br />
Dort vorne in der Ecke sitzt Eberts. Die Ellenbogen hat er<br />
auf die Knie gestützt, die Hände baumeln herab wie trockenes<br />
Gestrüpp, seine Augen gleichen dunklen Tälern. Alles an<br />
ihm wirkt verwittert. Er rührt sich nicht. Er ist jetzt in seiner<br />
Vergangenwelt, wie er es nennt, wenn man ihn einmal zum<br />
Sprechen bringt. Dort hat er sein Dorf nicht verlassen, um<br />
seinen Großvater auf dem Weg ins Spital zu stützen; dort blieb<br />
er an der Seite seiner Freundin, bestellt jetzt Felder, gräbt mit<br />
nackten Händen in der warmen Erde, entreißt ihr Knollen,<br />
schmeißt sie neben sich auf einen Haufen, der jedoch nie mehr<br />
als drei Knollen zählt, egal wie lange und wie hart er schuftet.<br />
Mehr, länger, bis der Rücken aufschreit vor Schmerzen, bis die<br />
Hände vor Gicht krampfen.<br />
Eberts ist ein guter Mann, sagt Ushland, starrt ihn an und<br />
riecht das Alter. Dieses Parfüm aus schwarzen Ästen und bitterer<br />
Süße. Eberts verlässt seine Vergangenwelt nie ganz, sackt<br />
in letzter Zeit immer wieder und immer tiefer in sie ab. Selbst<br />
wenn er sich mit seinem Schwert durch die Reihen der Spaltenbestien<br />
hackt, zeigt sein Gesicht die gleiche stoische Mimik,<br />
mit der er in Gedanken Knollen erntet.<br />
Jeder aus Ushlands Kommando ist zu seiner Zeit eine Legende<br />
gewesen. Aber in <strong>Danzig</strong> vergeht die Zeit anders, sie ist<br />
verknotet und erdrosselt sich selbst, denkt Ushland, legt den<br />
Kopf schief und atmet tief ein. Gefühle erblühen in seinem<br />
Geist, eingekapselt vom Wissen, dass es nicht seine eigenen<br />
sind. Er verharrt, bis sie wie ein Lichtfleck auf der Netzhaut<br />
verblasst sind. Kaum jemand verbleibt in <strong>Danzig</strong>, um den<br />
Ruhm der Preservisten nach draußen zu tragen. Wer weiß<br />
schon von Flemmings Kampf Wer berichtet mit pochendem<br />
Herzen von Eberts toten Augen, und wie er ohne Zögern<br />
durch die Reihen der Gegner bricht Ushland hat in einem<br />
Buch gelesen, dass sich manche Tiere am Ende ihres Lebens<br />
an einen entfernten Ort schleppen und sich dort zwischen den<br />
Knochen ihrer Ahnen zur letzten Ruhe betten.<br />
Scheiße, dieses Wetter macht schwermütig. Eine Prüfung,<br />
die jeder von ihnen besteht.<br />
133
Ein altes Torhaus, an dessen Front das steinerne Wappen<br />
<strong>Danzig</strong>s hängt, oben auf dem Dach festgetrampelter Schnee<br />
und in einer Ecke die verkohlten Überreste eines Lagerfeuers:<br />
Wir befinden uns in der Postenkette <strong>Danzig</strong>s, und dies ist<br />
definitiv eines der gemütlicheren Plätzchen. Im Erdgeschoss<br />
lagert unter einer Plane ein Stoß Brennholz, was nicht selbstverständlich<br />
ist, und die Tür ist abschließbar, was hier draußen<br />
einem Wunder gleicht. Selbst wenn mal jemand einen Schlüssel<br />
finden sollte, sind die Schlösser meist verrostet und vereist.<br />
Der Posten ist jetzt seit einigen Stunden verwaist, aber die<br />
Wache ist unterwegs. Sie wird sich beeilen müssen, wenn sie<br />
nicht will, dass die Preservisten etwas von dem Loch in der<br />
Verteidigungslinie erfahren. Und das will sie ganz bestimmt<br />
nicht, denn das würde bedeuten, dass sie mit Obmann Ushland<br />
eine sehr intensive Unterhaltung in Heizturm II führen<br />
müsste. Über Pflichtvergessenheit und Verantwortungsgefühl,<br />
über den Schaden, den man dem Spital zugefügt hat. Über<br />
Schattengedanken des Egoismus. Nur ein krankhaftes Hirn<br />
lasse einen Spitalier so tief sinken, so verkommen sein, sagt<br />
Ushland und lächelt sein Du-machst-es-eh-nicht-mehr-langeund-wenn-ich-dafür-sorge-Lächeln.<br />
Der Gescholtene wird<br />
einen Brief schreiben müssen an Kameraden, Kollegen,<br />
Vorgesetzte und Eltern, in dem er Hilfe erbittet: Erinnern<br />
sie sich an kleine Zeichen, vielleicht ein Stottern oder einen<br />
zuckenden Finger, der darauf hinweist, dass ihr Verstand von<br />
Idiotie geschlagen wurde Ushland zeichnet den Brief gegen<br />
und erwartet Antworten.<br />
Aber gehen wir davon aus, dass der Famulant noch rechtzeitig<br />
an seinem Wachposten eintrifft, die Tür aufschließt, sie mit<br />
der Schulter auframmt und im Inneren erst einmal den Schnee<br />
aus dem Pelz schüttelt. Einen Tag lang wird er auf dem Dach<br />
patrouillieren und nach Spaltenbestien und Absonderlichen<br />
Ausschau halten – und vor allem zusehen, dass ihm nicht die<br />
Hoden zu aneinanderklackernden Eiskugeln gefrieren. Nicht<br />
ganz einfach, insbesondere Letzteres, aber einer muss den Job<br />
schließlich machen.<br />
Vor einigen Jahren noch teilte Dr. Tjajew, ein enger Freund<br />
und Gefolgsmann der Janssen, die Wachen nach einem ausgeklügelten<br />
System ein: Im <strong>Danzig</strong>er Spital hängt noch immer<br />
die Tafel, auf der er die Namen eintrug. Jeder Posten hatte<br />
einen Wert, der sich aus der Entfernung zu den Heiztürmen,<br />
Gefahrenpotenzial und Ausstattung errechnete. Wenn ein Spitalier<br />
einen Tag Wache schob, wurden ihm die Punkte gutgeschrieben.<br />
Viele Punkte waren gut: Wer über 1.000 ansammeln<br />
konnte, erhielt Heimaturlaub. Kleinere Punktebeträge konnten<br />
gegen einen zusätzlichen Streifen Fleisch oder einen Becher<br />
Fettsuppe eingetauscht werden.<br />
Dr. Tjajews System gab eine Struktur vor, die von der <strong>Danzig</strong>er<br />
Besatzung ausgefüllt werden konnte. Du kannst nicht<br />
den ganzen Tag vor einem Ofenrohr hocken, es mit deinen<br />
Händen umklammern und mit der Zunge über das zurückgewichenes<br />
Zahnfleisch tasten, wenn du weißt, dass du Teil einer<br />
Maschinerie bist. Eine Maschinerie, die nicht nur aus willkürkonsequenzen<br />
t<br />
134<br />
<strong>Danzig</strong> wird nicht zu einem Friedhof der Legenden verkommen.<br />
Die Preservisten haben eine Aufgabe (auch wenn<br />
sie sich ändern wird, wenn das Große, das Massige, an die<br />
Oberfläche stößt wie ein Gewirr aus geblähten Gedärmen),<br />
und bevor diese Aufgabe erledigt ist, wird niemand aus dem<br />
<strong>Danzig</strong>er Kommando der Stadt den Rücken kehren. Was auch<br />
immer die Irren im Gremium beschließen.<br />
G E F Ä H R L I C H E S S P I E L<br />
Wer Hippokrat wird, lebt die Dogmen des Spitals. Er verfolgt<br />
einen Auftrag in <strong>Danzig</strong> ebenso zielstrebig wie einen Auftrag<br />
im Westen Borcas. Ein wenig Kälte, gesprungene Lippen und<br />
Gejammer lassen einen solchen Menschen nicht vom Weg<br />
abkommen.<br />
Jetzt ignoriert die Janssen den Befehl zum Rückzug, während<br />
das Gremium wettert und Botschafter um Botschafter nach<br />
Pollen entsendet. Wenn dort ein Weg gewesen ist, dann hat er<br />
sich aufgespalten oder liegt längst unter Schnee begraben.<br />
Hippokraten wachen darüber, dass die Statuten eingehalten<br />
werden. Sie unterbreiten dem Gremium Vorschläge, weisen<br />
auf Fehlverhalten von Ärzten hin und wirken auf Obmänner<br />
ein. Aber welche Werkzeuge wurden ihnen in die Hand<br />
gegeben, um Missstände zu beseitigen, wenn Konsultant und<br />
Obmann nicht auf ihrer Seite stehen Die Antwort ist ebenso<br />
ernüchternd wie einfach: Keine.<br />
<strong>Danzig</strong>s Hippokraten sind kleine unbedeutende Männchen<br />
im Schnee, sagen die Famulanten und lachen. Grimmige<br />
Männchen. Janssens Gebahren ist eine Demütigung für den<br />
ganzen Hippokraten-Stand; wer aus Pollen heimkehrt, wird<br />
seinen Respekt vor den Wächtern der Statuten vergessen haben.<br />
So lange, bis er in eine entfernte und verlauste Enklave<br />
strafversetzt wird, und seine Papiere von einem Hippokraten<br />
unterzeichnet sieht.<br />
So geht es nicht weiter.<br />
Konsultant Grunow versucht seit Jahren, den Einfluss der<br />
Hippokraten zu stärken und sie zu einer unabhängigen Organisation<br />
innerhalb der Ärzteschaft heranzuziehen. Aufpäppeln<br />
nennt er das, legt seinem Gesprächspartner den Arm auf die<br />
Schultern und bedenkt ihn mit einem dünnen Lächeln. Die<br />
Hippokraten hätten sich über die Jahrzehnte einen festen Platz<br />
in der Hierarchie der Ärzteschaft erarbeitet, vom Außenseiter<br />
zum Insider gewissermaßen, haha, und jetzt seien sie erwachsen<br />
und mündig. Oder sehe sein Gesprächspartner das etwa<br />
anders Natürlich nicht, antwortet Grunow für sein Gegenüber,<br />
ist mit seinen Gedanken bereits vorausgeeilt, in einer Welt,<br />
in der alles besser ist. In der die Hippokraten der Vormund der<br />
Spitalier sind.<br />
Doch bislang waren es die Hippokraten selbst, die seine<br />
Eingaben in die Statuten zurückwiesen. Zu weit reichend, die<br />
Konsultanten würden ihre altbewährte Rolle als Richtungsgeber<br />
einbüßen, gefährliche Machtansammlung etc. pp. Dennoch:<br />
Bekäme Grunows Vorschlag im Gremium eine Mehrheit,<br />
könnten die Hippokraten in <strong>Danzig</strong> anders auftreten: Sie<br />
dürften die Preservisten ohne Absprache mit dem Gremium<br />
befehligen; sie könnten die Janssen anklagen, inhaftieren und<br />
ihr im Spital den Prozess machen. Was, da horchen Chesnik<br />
und Szinkowitz auf Die ganze leidige <strong>Danzig</strong>-Geschichte<br />
wäre so leicht zu beenden, nur durch ein einfaches „Ja“ in der<br />
Abstimmung. Die Trupps (arme Jungs und Mädels, verdammt,<br />
hoch qualifiziert und in Pollen gewissermaßen auf Eis gelegt,<br />
haha, Sie verstehen das Wortspiel) könnten zurückgezogen<br />
werden und die Westfront verstärken. „Oder auch die Besatzung<br />
am Korridor ergänzen“ fügt Chesnik schnell hinzu, blickt<br />
zu Dr. Woyth und lächelt gequält.<br />
Wird Janssens Besessenheit zum Prüfstein der Spitalier<br />
P O S T E N
k<br />
alte Maria<br />
h<br />
. . . . . . . .<br />
lichen Befehlen besteht, sondern aus Mathematik und daraus<br />
abgeleiteten Regeln.<br />
Dr. Tjajew zog sich eine tödliche Blutvergiftung zu, da er<br />
seine erfrorenen und verfaulten Zehen nicht amputieren lassen<br />
wollte. Sein Punktesystem überlebte ihn.<br />
Heute handeln die Famulanten untereinander aus, wer<br />
welchen Posten besetzt. Tjajews Bewertung fließt dabei ein:<br />
„Wenn ich jetzt für fünf Tage den Fünfzehner nehme, will<br />
ich danach mindestens eine Woche Ruhe haben. Was, der<br />
Fünfzehner ist weg Jakobov wieder, scheiße! Was ist mit dem<br />
Achtzehner an der Weichsel“<br />
Die Punktezahl steht inzwischen in großen roten Ziffern<br />
an den Wänden der Posten, seit einige Schlauberger die alten<br />
Aufzeichnungen an der Tafel im Spital ausgewischt und verändert<br />
haben.<br />
Ohne Tjajew funktioniert das System nur leidlich. Famulanten<br />
schließen sich zu Verbindungen zusammen, deren Aufnahmekriterien<br />
über Aufenthaltsdauer, Fachbereich oder die<br />
gemeinsame Schlafbaracke definiert werden. Innerhalb dieser<br />
Verbindungen machen sie den Wachdienst unter sich aus oder<br />
verpflichten Neuankömmlinge.<br />
Die Stimmung ist eisig. Einige Famulanten waren noch<br />
nie draußen, geben aber vor, unglaublich eingespannt zu sein<br />
(„Mann, die ganze letzte Woche auf dem 34er… Was, da war<br />
der Jeskoviak Kann gar nicht sein!“), andere kämpfen sich<br />
Tag um Tag durch den Schnee zu den Posten. Wer sich geschickt<br />
und unkollegial verhält, führt ein angenehmes Leben<br />
in <strong>Danzig</strong>. Bis es rauskommt. Schwellungen im Gesicht solle<br />
man kühlen, sagen die Famulanten, reiben sich die Fäuste und<br />
stoßen das Kollegenschwein in die Kälte.<br />
SCHWARZMARKT<br />
S C H WA R Z M A R K T<br />
Mit Chronistenwechseln lässt sich nichts anfangen in <strong>Danzig</strong>,<br />
und so hat sich Tjajews Punktesystem inzwischen zu einer<br />
alternativen Währung entwickelt. Meist wird ein zuverlässiges<br />
Mitglied der Verbindung zum so genannten Leumund ernannt;<br />
dieser Leumund verwaltet die Punktezahlen und wird bei<br />
Konsultantin Janssen oder Obmann Ushland vorstellig, wenn<br />
sich ein Mitglied die Rückkehr nach Borca verdient hat. Auch<br />
addiert er den Postenwert nach einer Wachperiode dem Konto<br />
hinzu oder überschreibt Beträge. Transfers innerhalb der Verbindung<br />
sind schnell gemacht und kostenlos. Für alle weiteren<br />
Transaktionen müssen sich die Leumunde der Verbindungen<br />
treffen, was sie sich ihrerseits mit einem geringen Betrag (1<br />
Punkt pro Überschreibung) vergüten lassen.<br />
Als Bezeichnung für die Währung hat sich der Name ihres<br />
Erfinders durchgesetzt: Ein Tjajew entspricht dabei etwa einem<br />
Chronistenwechsel.<br />
Was lässt sich damit erwerben<br />
Die Nomaden in der <strong>Danzig</strong>er Region verstehen es, den<br />
Spuren des Wilds zu folgen und es zu erlegen; wer mit ihnen<br />
verbandelt ist, kommt leicht an Fleisch und Felle, die<br />
sich gegen gute Tjajews an Kameraden verschachern lassen.<br />
Pharmazeutiker kaufen sich von der Wachpflicht frei, indem<br />
sie südlich der Stadt nach Wurzeln graben und Tundrakräuter<br />
sammeln – im Mörser zerkleinert und mit Fett zu Kugeln<br />
gedreht, ergibt diese Mischung eine einfache Arznei gegen<br />
Skorbut und Beriberi. Die Ustikova ist bekannt dafür, dass sie<br />
für zehn Tjajews einen Stoß Holz auf ihre breiten Schultern
Kreischen und ein von grünen, roten und blauen Leuchtpunkten<br />
gesprenkelter Körper (erinnert an diesen Brauch<br />
zur Jahreswende, bunte Kerzen und Glitzertand in Bäume zu<br />
hängen), das ist eher verstörend als helfend. Also gerieten die<br />
Leuchtpatronen in Vergessenheit.<br />
Bis vor fünfzehn Jahren die Kälte unerträglich wurde und<br />
die täglichen Botengänge zwischen den Posten zur Qual gerieten.<br />
Die Ärzte erinnerten sich der Kisten, die mit einem Fußtritt<br />
in die hinterste Ecke der Lagerräume befördert worden<br />
waren. Brecheisen hebelten jetzt die Deckel auf; Pistolen mit<br />
absurd großem Kaliber wurden aus Öltüchern befreit.<br />
Seitdem ziehen jeden Tag nach Sonnenuntergang farbige<br />
Leuchtkugeln ihre Bahn über <strong>Danzig</strong>, lassen die vereisten Gassen<br />
und Häuser im bunten Widerschein erstrahlen.<br />
Die Spitalier nennen dies die Kannonade. Sie hat einen<br />
Zweck: Die Abfolge der verschiedenen Farben und die Länge<br />
der Pause zwischen zwei Schüssen ist ein einfacher Code. Über<br />
ihn melden sich die Posten und senden ihren Tagesbericht an<br />
das Spital, während das Spital selbst Befehle für die Nacht<br />
ausgibt.<br />
Die Kommunikation hat sich seit ihren Anfängen („Ich lebe<br />
noch und bin da“) zu einer komplexen Sprache<br />
entwickelt („Sichtung<br />
von mehr als<br />
zehn Spalhievt<br />
und heranschleppt. Ein alternder Chirurg verkauft urvölkisches<br />
Mobiliar für 100 und mehr Tjajews: wer es satt hat, auf<br />
Schemeln oder knarzenden Pritschen zu hocken, ist bei ihm<br />
genau richtig. Schädelrasur Ein Tjajew wird abgestrichen und<br />
dem Konto des Famulanten Gershwin gutgeschrieben.<br />
Stimmt der Preis, ist in <strong>Danzig</strong> jede Form von Dienstleistung<br />
zu haben.<br />
D I E K A N N O N A D E<br />
Dem <strong>Danzig</strong>er Spital fehlt es an Nahrung, Filtern, Brennmaterial,<br />
Arzneien – an allem, was das Leben in dieser Eiswüste<br />
ein wenig angenehmer machen würde. Wovon die Spitalier<br />
aber genug haben, das sind Kisten voller Leuchtpatronen.<br />
Zwei Lagerhäuser wurden bei einer Inventur vor über zwanzig<br />
Jahren auf den Plänen mit einem Ausrufezeichen und „verschissene<br />
Leuchtpatronen“ markiert. Da waren die großen<br />
Bestände nahe dem Spital bereits entdeckt und als wertlos<br />
erachtet worden. Munition für reguläre Schusswaffen, gut, die<br />
hätte man nutzen oder zumindest bei den Hellvetikern gegen<br />
Passagescheine oder Wachtruppen eintauschen können. Aber<br />
Leuchtpatronen Um einen Biokineten in Brand zu<br />
schießen, braucht es schon eine Handvoll<br />
davon, eher mehr. Die Stoppelhaare<br />
brennen schlecht und die dornigen<br />
Auswüchse schmelzen bestenfalls,<br />
aber das hält den<br />
Absonderlichen nicht<br />
auf. Das wütende<br />
136
tenbestien in Südost, brauchen Verstärkung“). In jedem Posten<br />
liegt eine Kladde mit liniertem gelbem Papier. Jede Codefolge<br />
ist darin mit farbigen Punkten abgebildet – selbst ein Neuling<br />
sollte nicht mehr als einen Vormittag benötigen, um die abendliche<br />
Kannonade zu lesen und darauf zu antworten.<br />
F A N AT I K E R<br />
Die Wiedertäufer in Purgare sind umgängliche Typen. Du<br />
kannst ihnen nicht trauen, aber du kannst mit ihnen saufen und<br />
feiern; es sind Menschen, die wie jeder Andere eine psychische<br />
Belastungsgrenze kennen. Wird diese überschritten, vielleicht<br />
weil drei oder vier ihrer Kameraden von den Filamentfäden<br />
der Archonten zersäbelt wurden, dann drängen sie sich aneinander<br />
und ziehen sich zurück – oder lassen alles fallen und<br />
rennen. Das macht sie sympathisch, weil es sie vorhersehbar<br />
und menschlich macht.<br />
Doch die Orgiasten in <strong>Danzig</strong> sind anders. Sie steigen in<br />
die Bruthöhlen der Spaltenbestien und kehren nicht um, bis<br />
sie nicht die letzte mit ihren Bihändern zerlegt oder mit Feuer<br />
getauft haben. Die Famulanten auf den Posten haben schon<br />
öfter beobachtet, wie die Orgiasten blutbespritzt und dampfend<br />
aus den Schächten emporgestiegen sind und in stiller<br />
Prozession zu ihrem Hauptquartier – einer Kirche, die von<br />
allen Kalte Maria genannt wird – marschierten.<br />
Wenn die Ärzte längst wieder in Borca sind und das <strong>Danzig</strong>er<br />
Spital nicht mehr ist als eine Grotte voller Eiszapfen, diese<br />
Wiedertäufer werden noch immer hier sein, noch immer Tag<br />
für Tag in den Untergrund steigen und töten.<br />
Gut, dass sie auf der Seite des Spitals stehen. Stehen sie<br />
doch, oder<br />
K A LT E M A R I A<br />
Die Kalte Maria war einst als Marienkirche bekannt. Der riesige<br />
Backsteinbau mit seinem Turm und dem dreischiffigen<br />
Körper ist weithin sichtbar. Doch die Zeit und der Schnee<br />
meinten es nicht gut mit der Kirche: Das Dach gab unter der<br />
Schneelast nach und brach ein. Jetzt ragen Streben wie die<br />
Spanten eines havarierten Schiffs in den Himmel und dienen<br />
Krähen und Raben als Ausblick über <strong>Danzig</strong>.<br />
Das hinderte die Wiedertäufer nicht, sich in der Kirche<br />
niederzulassen. Sie schleppten den Schutt aus den Hallen,<br />
verbrannten die aufgequollenen Bänke und stemmten die<br />
Zugänge zu den Katakomben auf. Angeblich schlafen sie dort<br />
unten. Ihre Andachten begehen sie unter freiem Himmel im<br />
Kirchenschiff, beobachtet nur von verwitterten Ölgemälden in<br />
goldenen Rahmen und begleitet vom Krächzen der Krähen.<br />
Einige wenige Wiedertäufer leben Seite an Seite mit den<br />
Spitaliern zwischen den Heiztürmen, doch die Männer und<br />
Frauen, die sich in der Kalten Maria auf den Kampf vorbereiten,<br />
sind ein besonderer Schlag Mensch. Es sind Fanatiker,<br />
wahrhaft Gläubige, die dem Demiurgen nicht einmal dieses<br />
wertlose Stück Eiswüste überlassen werden.<br />
.......<br />
Ein grüner Stern erstrahlt über <strong>Danzig</strong>, sinkt herab, flackert<br />
und zerfällt zu einem Funkenregen. Ein weiterer explodiert<br />
am Nachthimmel, diesmal in Purpur. Langsam schwebt er zu<br />
Boden, wird gleich zwischen den Ruinen verschwinden und im<br />
Schnee verlöschen.<br />
Doch noch spiegelt sich sein Widerschein in den Pupillen<br />
der Famulanten. Sie stehen auf dem Goldenen Tor; dem ersten<br />
Glied in der Postenkette, nahe bei den Heiztürmen. Schlechte<br />
Wertung, dafür nur eine Stunde Fußmarsch von den schwülwarmen<br />
Baracken und einer Kelle Suppe entfernt. Ein gutes<br />
Dutzend Spitalier hockt unten in der Sarkophag-Kammer,<br />
einem finsteren Loch, leer wie ein ausgeräumter Darm, aber<br />
nicht weniger muffig; normale Menschen würden dort hingehen,<br />
um zu sterben, sagen die Famulanten und grinsen. Sie<br />
sitzen in ihre Mäntel gewickelt auf einer Pritsche an der Wand,<br />
aufgereiht wie zur Begutachtung. Einige haben ihre Mützen<br />
über die Augen gezogen und die Köpfe gegen die Schultern<br />
ihrer Kameraden gelehnt. Zwei unterhalten sich flüsternd.<br />
Über ihnen wird die Luke aufgerissen, purpurnes Flackern<br />
wischt durch den Raum. Oben brüllt jemand „Sichtung!“. Alle<br />
springen auf, reißen sich die Mützen aus dem Gesicht, ihre Augen<br />
blicken glasig und können die Erschöpfung nicht verbergen,<br />
doch die Körper funktionieren. Kälte wallt in den Raum<br />
hinab, da sind sie bereits an der Doppeltür und wuchten sie<br />
zu zweit auf. Spreizer und Fungizidgewehr werden gegriffen,<br />
dann geht es hinaus in eine wunderschöne Nacht unter einem<br />
strahlenden Sternenhimmel.<br />
Die Hatz beginnt.<br />
Die Spaltenbestien beherrschen den Untergrund; auf die<br />
Spitalier, die in die Keller und Tunnel hinabsteigen, sollte man<br />
nicht seinen Lohn verwetten. An der Oberfläche stehen die<br />
Chancen besser: Die Spitalier können manövrieren und in<br />
...<br />
geschlossener<br />
Formation mit gesenkten Spreizern vorrücken.<br />
Früher einmal sollten die Bestien möglichst am Stück gefangen<br />
werden. Die Forscher in den blauen Laboren zerschnitten<br />
Kadaver um Kadaver, weideten aus, wuschen Organe und<br />
konservierten sie in Formalin für die Ewigkeit. Aber die Lager<br />
sind voll, und die Zeit der Forschung ist vorbei.<br />
Jetzt geht es darum, die Spaltenbestien auszurotten.<br />
Alles ist erlaubt: Brandstaub, zuschnappende Spreizerklingen,<br />
Brennereinsatz. Das Fleisch bricht in knusprigen Schwarten<br />
von den Knochen, der Schädel ist zerteilt und das Hirn<br />
verdampft. Recht so.<br />
Es gibt nur zwei Regeln: Die eine lautet „Bleibt zusammen.“<br />
Fällt ein Spitalier zurück, müssen mindestens zwei weitere<br />
.<br />
D I E H AT Z<br />
Ärzte an seiner Seite bleiben. Die Spaltenbestien sind dumm,<br />
aber sie wittern Schwäche. Ein abgeschlagener Spitalier wäre<br />
leichte Beute für sie.<br />
Regel Nummer zwei: Lasst die Bestien nicht entkommen.<br />
Jede Spaltenbestie, die an der Oberfläche gestellt wird, bedeutet<br />
eine Monstrosität weniger für die Jungs und Mädels, die in<br />
die Tiefe geschickt werden.<br />
h<br />
137
spaltenbestien<br />
@<br />
V O R T R I E B<br />
Das <strong>Danzig</strong>er Spital war das Gegenstück zum borcischen Spital.<br />
Es verkündete eine einfache Botschaft: Die Spitalier stehen<br />
diesseits und jenseits des Sichelschlags, stellen sich überall dort<br />
gegen die Absonderlichen, wo Menschen sind, die ihrer Hilfe<br />
bedürfen. Es machte Sinn, die Spaltenbestien zu jagen und ihre<br />
Baue auszuräuchern: Wohnzimmer und Praxis müssen sauber<br />
gehalten werden. Das sah jeder ein, weil es sich einfach richtig<br />
anfühlte.<br />
Aber wie ist das heute<br />
Warum müssen Frischlinge aus Borca, die gerade noch Anatomiebücher<br />
gewälzt und lateinische Begriffe gepaukt haben,<br />
mit Spreizern in Tunnel kriechen Tunnel, in denen der bleiche<br />
Tod auf sie lauert Die Antwort ist ebenso einfach wie ernüchternd:<br />
Weil die Janssen es verlangt.<br />
Vierzehn Durchbrüche in den Untergrund der Spaltenbestien<br />
sind bekannt, aber es muss Hunderte geben, anders ließe<br />
sich nicht erklären, dass die Bestien an scheinbar beliebigen<br />
Stellen auftauchen. Von den vierzehn Zugängen führen fünf<br />
zu den zwei bekannten Bruthöhlen. Diese Kavernen liegen<br />
weit unter den Kellern <strong>Danzig</strong>s in einer grau-schwarzen Erdschicht;<br />
vielleicht wurden sie vor Urzeiten durch Wasserströme<br />
ausgespült, aber vielleicht waren es auch die Spaltenbestien, die<br />
über Jahrzehnte hinweg Geröll aus der Tiefe geschafft haben.<br />
Schuttkegel nahe den Eingängen lassen Letzteres vermuten.<br />
Schauen wir uns die Bruthöhlen an: Man schlage ein Medizinbuch<br />
auf und werfe einen Blick auf das menschliche<br />
Gedärm und wie es im Körper verteilt ist – und man hat einen<br />
guten Eindruck von der Topographie der Höhlen: Ein zentraler<br />
Trakt windet sich in engen aufeinander liegenden Schlingen<br />
durch das Erdreich, die Austrittsöffnungen von Tunneln und<br />
Schächten durchlöchern seine Wandungen. Die oberen Bereiche<br />
sind zerfressen von Mulden und Vertiefungen, gerade<br />
groß genug, dass sich eine ausgewachsene Spaltenbestie in sie<br />
hineinzwängen kann.<br />
In zwei Abhandlungen (jetzt gefrorene Blöcke Papier in den<br />
Archiven) formulieren Spitalier die Hypothese, Spaltenbestien<br />
seien stark von der psychischen Strukturdominante „Mutter“<br />
beeinflusst. Die Höhlungen stünden für den Uterus, in den<br />
sie zurückkehren wollten; die langen gewundenen Gänge seien<br />
Nabelschnüre, die hinab ans Ziel der inneren Sehnsüchte<br />
führten.<br />
Was sagt uns das über die Bestien<br />
Wir wissen, dass sie versporte Menschen selbst gegen den<br />
Wind wittern, also können sie vermutlich ihre Sinneshaare in<br />
das Noumenon absenken. Dennoch leben sie nicht im Kollektiv<br />
wie Psychonauten – aber sie spüren, dass dort etwas ist.<br />
Etwas, das sich als drängende Wärme in der Brust oder als<br />
Kribbeln in den Lenden ausdrückt. Was auf eine vereinigende<br />
und gebärende Entität hinweist, vielleicht eine Entität, aus der<br />
sie einst ausgeschlossen wurden. Spaltenbestien sind demnach<br />
vom Kollektiv abgenabelte Absonderliche, denen der Schritt<br />
Richtung Menschlichkeit verwehrt ist, da sie vom Primer bis in<br />
die letzte Knochenmarkzelle durchdrungen wurden. Diagnose:<br />
Unheilbar erkrankt. Zu Monstren verwachsene Menschen,<br />
denen man nur den schnellen Tod schenken kann.<br />
Genau genommen ändert sich dadurch für die Spitalier in<br />
den Tunneln nichts. Aber zumindest haben sie jetzt eine weitere<br />
Rechtfertigung, zum Spreizer zu greifen.<br />
Zurück in den Bau.<br />
Von den Mulden geht es weiter hinab: Der Boden ist glatt<br />
gescheuert wie überall, nur leuchtet er hier in einem matten<br />
Weiß: Kalk. Weiter unten kleben körnige Knollen der gleichen<br />
Farbe am Boden. Das muss Kot sein; Spaltenbestien fressen<br />
selbst die Gebeine ihrer Opfer und scheiden sie als Knochenmehl<br />
wieder aus.<br />
Bei jedem Schritt knirscht es unter den Stiefeln. Die Vertiefungen<br />
in den Wänden sind hier teilweise eingebrochen, es<br />
riecht nach Schwefel und Ammoniak. Der Kalkstaub kitzelt<br />
im Rachen. Hier unten war seit langem niemand mehr. Gewissermaßen<br />
ist dies der Enddarm: Hier landet der Auswurf der<br />
Spaltenbestien. Ist die Umgebung verschmutzt, graben sie sich<br />
weiter nach oben, um dort neue Schlafmulden anzulegen.<br />
Bisher konnte dies zwar nicht beobachtet werden, aber es<br />
gibt Hinweise auf dieses Verhalten der Spaltenbestien: Bruthöhle<br />
Nummer Eins wurde vor fünf Jahren von einem Vortriebstrupp<br />
entdeckt – die Spitalier ließen sich in einen Schacht<br />
hinab, der in der untersten Schlinge des Baus mündete. Das<br />
war ihr Glück, denn wären sie in den oberen Bereich eingedrungen,<br />
ihre Kameraden an der Oberfläche hätten sie nie<br />
wieder gesehen. So jedoch krochen sie durch den Knochenstaub<br />
und skizzierten die Umgebung (diese erste schematische<br />
Zeichnung einer Bruthöhle gilt inzwischen als verschollen,<br />
angeblich wurde sie von einem Famulanten gestohlen und in<br />
Justitian verkauft). Die Ärzte ließen sich auf keinen Kampf ein<br />
und zogen sich zurück. Als sie zwei Jahre später einen erneuten<br />
Vorstoß wagten, war die untere Ebene verfallen, aber oben<br />
mindestens zwei Schlingen hinzugefügt worden.<br />
Bislang wurden die Bruthöhlen nicht angegriffen. Wollte<br />
man den Bau ausräuchern, hätten sich die Bestien schnell<br />
durch das Tunnelsystem verteilt, und alle Löcher zu stopfen,<br />
das ist unmöglich – selbst wenn man sie alle kennen würde.<br />
Dazu kommt noch die Frage: Wohin führen die Gänge, die<br />
nicht in Bruthöhlen enden Die restlichen zehn bekannten Tunnel<br />
winden sich in langen Spiralen in die Tiefe und verzweigen<br />
dort unten wie Wurzelwerk. Kein Spitalier stieß bislang bis an<br />
ihr Ende vor: Die Tunnel verengen sich zu schmalen Röhren,<br />
sind glatt gescheuert von den Körperborsten der Spaltenbestien.<br />
Ein Arzt käme hier nur noch robbend voran. Freiwillige Die<br />
Gasdampflampe wirft kaltes Licht auf die Gesichter der Famulanten,<br />
entreißt sie der Dunkelheit. Zungen fahren über Lippen,<br />
Augen sind zu Boden gerichtet, Nasenflügel beben. Die Erde<br />
lastet schwer auf den Tunneln, die Umgebung ächzt und knarrt.<br />
Der Preservist bleckt seine Zähne und will lachen. Laut lachen,<br />
bis ihm der Bauch schmerzt und die Rippen knacken. Ein letzter<br />
Blick auf die Truppe, dann winkt er zum Rückzug.<br />
N O U M E N O N - A N O M A L I E N<br />
noumenon<br />
Die Nadeln der Noumenon-Visualizer zittern eine geschwungene<br />
Fieberkurve auf das Papier – der Nachklang eines Residenten,<br />
der sich irgendwo dort draußen in seinem Sporenfeld<br />
versteckt. Doch plötzlich schlägt die Nadel aus, bis zum<br />
Anschlag und schnellt wieder zurück, dann das Ganze noch<br />
einmal. Auf dem Endlospapier hinterlässt sie zwei Amplituden<br />
mit gekappten Spitzen. Diese Signatur ist nicht verzeichnet,<br />
aber jeder in <strong>Danzig</strong> weiß, was sie bedeutet: Innerhalb der<br />
nächsten sechs Stunden werden Biokineten gegen die Stadt<br />
anrennen.<br />
Kein Problem.<br />
Die Brut kommt auf altbekanntem Weg, läuft geradewegs<br />
138
in die Brandgräben. Nicht ein Psychonaut wird seine Phänomene<br />
wirken. Es wird nur Minuten dauern, dann ist der<br />
Schnee blutgetränkt und die eigentliche Arbeit beginnt: Die<br />
von Spreizern zerteilten Gliedmaßen müssen eingesammelt<br />
und verbrannt werden. Und wieder wurde die Welt von 20-30<br />
Migranten befreit.<br />
Ein großer Erfolg.<br />
Wäre da nicht diese Ungewissheit. Was ist mit den Biokineten<br />
los, was lässt sie in diesen Wahn verfallen<br />
Folgt man ihren Spuren ins Ödland, sieht man, dass sie geradewegs<br />
aus Südost kamen. Sie liefen entlang einer gedachten<br />
Linie, die wie ein schwungvoll geführter Pinselstrich halb Pollen<br />
durchzieht. Sie schneidet an mehreren Stellen Sporenfelder<br />
– doch diese Felder sind verkümmert, ihre Residenten entweder<br />
geflohen oder zu fadenscheinigen Hautkokons verkommen,<br />
die schon vor Jahren vom Wind davongetragen wurden.<br />
Eine Expedition berichtete, dass sie mehrere Spuren entdeckt<br />
hätten, die erst orthogonal zu der Linie verliefen, dann aber<br />
auf sie eingeschwenkt sind. Scheinbar muss jeder Biokinet, der<br />
sich ihr nähert, ihr auch folgen.<br />
Möglicherweise handelt es sich um eine Feldlinie des pollnischen<br />
Erdenchakras. Wenn das so ist, ist diese Linie vergiftet<br />
– und der Noumenon-Puls ist das Fieber.<br />
H O T S P O T S<br />
Es ist kalt wie immer, der Nordwind lässt die Rotze an der<br />
Nase gefrieren. Und trotzdem schmilzt der Schnee vor uns.<br />
In dichten Schwaden steigt der Dampf auf, hüllt uns ein und<br />
erhebt sich über die Ruinen. Er ist weithin sichtbar an diesem<br />
klaren Frühlingsmorgen; die Spitalier auf Posten 46 werden<br />
die Zeichen sehen und mit ihren Signalpistolen das Spital<br />
– und damit die Preservisten – informieren.<br />
Doch noch bleibt etwas Zeit.<br />
Der Schnee verwandelt sich zu Matsch, der zerfließt und<br />
Pfützen bildet. Asphalt glitzert feucht. Es vergehen nur einige<br />
Minuten, und jetzt ist eine etwa vier Schritt durchmessende,<br />
kreisförmige Fläche von Schnee befreit.<br />
Überall in <strong>Danzig</strong> wurde dieses Phänomen bereits beobachtet.<br />
Oftmals eilen Sipplinge herbei, brechen Erdschollen<br />
aus dem Boden, wickeln sie in Tücher und schleppen sie in ihr<br />
Lager. Zurück lassen sie Statuetten, sorgsam am Rande des Kreises<br />
aufgestellt, die steinernen Augen aufs Zentrum ausgerichtet<br />
– wer etwas nimmt, muss auch etwas geben. Die Sipplinge glauben,<br />
dass diese Erde die Keimzelle für eine Ewige Oase sei.<br />
Andere verscharren in ihr ihre Verstorbenen und türmen<br />
Grabhügel auf. Die Alten flüstern den Jungen zu, dass den<br />
Toten damit der Weg ins Jenseits versperrt bliebe und sie so<br />
ihre Familien beschützen würden. Aber nur so lange, bis sie<br />
erführen, dass sie ausgetrickst wurden. Also: Psst!<br />
Den Preservisten passt das gar nicht. Es gibt einen Auslöser<br />
für die so genannten Hotspots, und dieser Auslöser ist definitiv<br />
nicht geologischen Ursprungs, sondern… etwas<br />
Anderes.<br />
Die Janssen fordert Geheimhaltung und hat den Preservisten<br />
die Hippokraten an die Seite gestellt.<br />
Lächerlich.<br />
Dutzende Sipplingsstämme haben bereits die Erde über<br />
Hotspots abgetragen und ihre Kleidung in den warmen Luftzug<br />
gehalten. Das da unten war unübersehbar. Es erinnert<br />
an bleiches Wurzelgeflecht, aber es geht nicht von einem<br />
Stamm aus und verzweigt dann zu immer kleiner und dünner<br />
werdenden Fasern, sondern die glatten weißen Stränge sind<br />
wild miteinander verwachsen. Mehr wie ein ins Riesenhafte<br />
vergrößerter Schwamm, oder wie man sich Neuronenverbindungen<br />
im Hirn vorstellt. Das Geflecht ist empfindlich: Mit<br />
einem Spaten lassen sich ganze Blöcke herausschneiden, wobei<br />
die zertrennten Enden verschrumpeln und sich wie Muskeln<br />
zusammenkrampfen.<br />
An den Hotspots arbeitet sich dieses Geflecht an die<br />
Oberfläche. Es wird nicht den Asphalt aufbrechen oder in<br />
armdicken Tauen durch den Schnee stoßen und die Ruinen<br />
erobern, nein. Das braucht es nicht. Was sollte es schon an der<br />
Oberfläche wollen Tektonische Verwerfungen umgehen Es<br />
ist bereits überall. Wo man in <strong>Danzig</strong> auch gräbt, man sollte<br />
nicht seine Tjajews darauf verwetten, dass man in fünf Schritt<br />
Tiefe noch auf gute alte Erde stößt.<br />
Die Hippokraten vertreten dazu keine offizielle Meinung.<br />
Sie schweigen, wie es die Janssen von ihnen verlangt, aber sie<br />
dementieren die Gerüchte auch nicht. Und man sieht es in<br />
ihrem Blick, diesem „die-Welt-geht-unter-und-unsere-Ärschehocken-auf-dem-Vulkan“-Starren,<br />
der erst von gesenkten<br />
Lidern unterbrochen wird, wenn das Thema wechselt.<br />
Warum verhindert die Janssen, dass alle erfahren, was unter<br />
<strong>Danzig</strong> geschieht<br />
Vielleicht will sie eine Panik verhindern. Dass sie <strong>Danzig</strong> um<br />
jeden Preis halten will, ist mehr als deutlich. Aber macht es die<br />
Famulanten nervös, dass ein monströses Etwas unter ihren Füßen<br />
heranwächst Möglicherweise ein wenig. Aber es gibt ihnen<br />
auch das Gefühl, ihr Aufenthalt in <strong>Danzig</strong> habe einen Sinn.<br />
Oder ist es genau das, was die Janssen bezweckt<br />
139
D E R E I S B R E C H E R<br />
Zwei Punkte runter in der Posten-Wertung. Der Grund ist der<br />
Feldstecher: Mattgrüne Beschichtung, die Gläser schimmern<br />
wie Öl, und sie beschlagen nie. Am Stellrad eingeätzt steht<br />
20x60, und die erste Zahl dürfte für die Vergrößerung stehen.<br />
Das ist schon mal nicht schlecht, aber die Besonderheit (das<br />
„Bonbon“, wie die Famulanten hier draußen es nennen), das<br />
ist der Knopf und was er bewirkt. Du hältst auf das Ziel drauf,<br />
deine Hände zittern vor Kälte, verwackeln die Fichtengruppe<br />
dort drüben zu einer gesprenkelten Grünfläche. Dann drückst<br />
du auf den Knopf, ganz sanft, und in dem Feldstecher erwacht<br />
ein alter Mechanismus. Durch die Handschuhe spürst du es<br />
nicht, aber wenn es windstill ist, kannst du es hören: Ein Surren<br />
wie der Flügelschlag eines Käfers. Und plötzlich steht<br />
das Bild still. Dein Hände zittern weiter wie gehabt, aber<br />
der Feldstecher liegt wie ein Stück Blei in ihnen. Zwei<br />
Atemzüge lang währt der Zauber; die Sicht ist perfekt,<br />
bestenfalls mit einem Stativ könnte man diese<br />
Qualität erreichen. Ist ein Gyroskop dafür verantwortlich<br />
Ein Famulant, der einige Zeit in<br />
einer Schrotterenklave gelebt und dann<br />
nach <strong>Danzig</strong> befördert wurde (kleiner<br />
Scherz seiner Vorgesetzten,<br />
wie’s scheint), erzählte etwas von<br />
einer Kadernwelle und Wirbelstrombremse.<br />
Klugscheißer.<br />
Wenn die Chronisten von diesem<br />
Gerät wüssten, sie würden<br />
mit Anlauf über den Sichelschlag<br />
setzen, zumindest behaupten<br />
das die Wachposten<br />
hier draußen. Jeder Spitalier<br />
in <strong>Danzig</strong> will einmal durch<br />
das Artefakt geblickt haben.<br />
Kein Wunder, dass dieser<br />
Posten immer besetzt ist.<br />
Aber das ist nicht der einzige<br />
Grund.<br />
Einmal im Jahr lässt sich<br />
mit dem Feldstecher in genau<br />
südsüdwestlicher Richtung<br />
ein schwarzer Punkt zwischen<br />
zwei weit ausgreifenden Hügeln<br />
ausmachen. Er scheint sich<br />
kaum zu bewegen, was daran liegt,<br />
dass er genau auf den Betrachter<br />
zuhält. Bildstabilisierung ein: Ein Koloss<br />
von Mensch pflügt sich durch den Schnee.<br />
Dampfwirbel umwehen ihn, schwarzer<br />
Stoff flattert wie das aufgeplusterte Gefieder<br />
einer Krähe.<br />
Das ist der Eisbrecher. Ein Fragment aus<br />
dem Cluster.<br />
Natürlich. Ein Chronist, in <strong>Danzig</strong>.<br />
Zeit für ein wenig Schauspiel.<br />
Die Epigenetiker sind diesmal dran. Sie<br />
empfangen den Ankömmling, stellen sich vor<br />
und geleiten ihn zu den Heiztürmen. Der Eisbrecher<br />
verströmt wie ein undichter Kessel rhythmisch<br />
warme Luft, was seine Lumpen selbst bei Windstille<br />
wehen lässt. Was nicht weiter schlimm wäre, wenn er nicht mit<br />
jedem Luftstoß einen süßlichen Gestank absondern würde.<br />
Sein Gesicht ist vermummt, wie bei jedem Chronisten, nur<br />
die Gläser sind sehr klein, so groß wie Daumennägel; das<br />
Vocoder-Mundstück durchbricht die Maske zwei Fingerbreit<br />
neben der Stelle, an der normalerweise der Mund sitzen sollte.<br />
Ein einzelnes fingerdickes Kabel läuft von dort hinab in die<br />
Untiefen seines tonnenförmigen Körpers.<br />
Der Eisbrecher redet nicht viel. Er wankt hinter den Epigenetikern<br />
her, lässt sich herumführen wie jedes Jahr. Wenn<br />
er spricht, schallt seine Stimme klar und jung aus dem Mund-<br />
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stück, und das steht dermaßen mit seiner Erscheinung im<br />
Widerspruch, dass manchem seiner Begleiter ein Schauer über<br />
den Rücken läuft.<br />
„Spaltenbestien. Das Verhalten.“ Er redet in Substantiven.<br />
Unterbricht seine Gegenüber nie. Er weiß eine Menge über<br />
<strong>Danzig</strong>, und einiges mehr, was weit jenseits des Wahrnehmungshorizonts<br />
der Spitalier liegt: Er kennt die Hotspots (vor<br />
Jahren, als sie den Ärzten noch unbekannt waren, nannte er<br />
sie Ausblühungen), er erkundigt sich nach dem Vielfachen<br />
(wer oder was auch immer das sein mag), er fragt nach neuen<br />
Noumenon-Signaturen.<br />
Seine Stimme verändert sich. Je länger er sich bei den Spitaliern<br />
aufhält, desto stärker dunkelt sie nach. Als ob sie sich<br />
vom vielen Gebrauch abnutzt und ein Jahr benötigt, um sich<br />
zu erholen.<br />
Die Epigenetiker führen ihn zum Spital. Auf dem Weg hat<br />
er alle Antworten erhalten, die die Ärzte ihm geben konnten,<br />
seine Stimme ist inzwischen ein brummender Bass. Er selbst<br />
geht auf keine Fragen ein, also wurden ihm auch keine gestellt.<br />
Doch er entlohnt die Spitalier für ihre Gastfreundschaft: Im<br />
Generatorraum neben den blauen Laboren wird er eine Spule<br />
auswechseln, einen Motor anschließen und den Kinetikspeicher<br />
dreier Spreizer neu formieren, wie er es nennt. Alle hoffen,<br />
dass er wieder ein Gastgeschenk mitbringt. Wie damals<br />
den Feldstecher.<br />
Alle sprechen den Eisbrecher mit „Fragment“ an, sind<br />
aufmerksame und besorgte Gastgeber, deuten Verbeugungen<br />
an (selbst diejenigen, die in Justitian den Maskenfressen am<br />
liebsten gegen die Sichtgläser geschnippt hätten).<br />
Der Eisbrecher nennt sich selbst Syntax.<br />
Das ist ein gebräuchlicher Name bei den Chronisten, das<br />
hat der Cluster bestätigt, aber er hat auch bestätigt, dass es kein<br />
Fragment gleichen Namens gebe, und schon gar keines, das<br />
in jährlichen Intervallen den Sichelschlag kreuze, um alleine<br />
durch Pollen zu laufen.<br />
Das wissen alle Spitalier in <strong>Danzig</strong>, und doch lassen sie sich<br />
auf das Spiel ein. Sie notieren die Fragen des Eisbrechers,<br />
sind insbesondere an denen interessiert, die sie nicht verstehen.<br />
Heute noch sind seine Sätze wie Orakelsprüche, aber sie<br />
können vorbereiten auf das, was kommt. Vielleicht auf den<br />
Vielfachen, vielleicht auf die Ausblühungen.<br />
Vor allem ist der Eisbrecher eines: Eine Ablenkung. Bis zum<br />
nächsten Jahr werden die Famulanten jeden seiner Aussprüche<br />
diskutieren und mit alten Aufzeichnungen vergleichen; sie<br />
werden spekulieren, was es mit dem Dampf auf sich hat, woran<br />
sie sein Gestank erinnert. Kälte und Entbehrung werden<br />
vergessen sein.<br />
A R T E F A K T : F E L D S T E C H E R<br />
Das Geschenk des Eisbrechers an das <strong>Danzig</strong>er Spital ist kein<br />
Einzelstück, aber es ist selten und wertvoll. Einige baugleiche<br />
Exemplare befinden sich im Besitz der Hellvetiker, und<br />
Schrotter können diesen speziellen Typ Feldstecher in Öltücher<br />
eingeschlagen im Rucksack mit sich herumschleppen,<br />
ohne seinen wahren Wert zu kennen.<br />
Oftmals haben sich die Lager in der Stabilisatormechanik<br />
festgefressen; öffnet ein sachkundiger Schrotter den Feldstecher,<br />
säubert und ölt die beweglichen Elemente, kann die<br />
Funktionalität wieder vollständig hergestellt werden (AW auf<br />
Verstand+Technik mit einer Erschwernis von 14, um die Mechanik<br />
zu verstehen, und einen AW auf Verstand+Basteln, um<br />
das Gerät zu warten).<br />
.........<br />
P R O F I L : F E L D S T E C H E R ( M I T S T A -<br />
B I L I S A T O R F U N K T I O N )<br />
Eigenschaft: 20fache Vergrößerung; Tech-Level IV; Wert<br />
2.200 CW (ohne Stabilisatorfunktion 300 CW)<br />
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