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<strong>Inhalt</strong><br />

AUFSÄTZE<br />

Aus Wissenschaft und Praxis – Strafprozessrecht: 130 Jahre<br />

Strafprozessordnung<br />

Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung<br />

seit 1950<br />

Von Ministerialdirektor a.D. Prof. Dr. Peter Rieß, Bonn 466<br />

Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die<br />

Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München 484<br />

Zum Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung<br />

über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen auf das<br />

erkennende Gericht und anderen Absonderlichkeiten<br />

des Rechtsschutzsystems im Ermittlungsverfahren<br />

Von Staatsanwalt Dr. Markus Löffelmann, Arusha, Tansania 495<br />

Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung –<br />

Beispiel: Untersuchungshaft<br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht<br />

Michael Tsambikakis, Köln 503<br />

Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

Von RiOLG Prof. Dr. Matthias Jahn, Erlangen/Nürnberg 511<br />

Der „falsche“ Angeklagte<br />

Von Vors. RiBGH a.D. Prof. Dr. Lutz Meyer-Goßner,<br />

Landau (Pfalz) 519<br />

Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung<br />

der Absprachen im Strafverfahren<br />

Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen 526<br />

Möglichkeiten zur Entlastung der Berufungskammern –<br />

Zugleich eine Kritik der Annahmeberufung<br />

Von RiBayObLG a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Heinz Gössel,<br />

München 539<br />

Die gescheiterte Reform des reformierten Strafprozesses<br />

Liberale Prozessrechtslehre zwischen Paulskirche und<br />

Reichsgründung<br />

Von Privatdozent Dr. Arnd Koch, Augsburg 542


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

Von Ministerialdirektor a. D. Prof. Dr. Peter Rieß, Bonn<br />

I. Einleitung<br />

Die deutsche Strafprozessordnung, deren Wortlaut die Dogmatik<br />

und die Praxis unseres Strafverfahrens maßgebend,<br />

wenn auch nicht ausschließlich bestimmt, ist in ihrer Ursprungsfassung<br />

am 1. Oktober 1879 in Kraft getreten, 1 sie<br />

begeht also in diesen Tagen ihren 130sten Geburtstag. Das<br />

bietet Veranlassung zu einem Rückblick darauf, wie sie sich<br />

in dieser langen Zeit entwickelt hat. Der nachfolgende Beitrag<br />

beschränkt sich auf die Zeit der Bundesrepublik, also die<br />

letzten 60 Jahre, und legt seinen Schwerpunkt auf Veränderungen<br />

in den gesetzlichen Regelungen. 2 Dass Wissenschaft<br />

und Rechtsprechung auch bei unverändertem Gesetzeswortlaut<br />

das Strafverfahrensrecht in vielen Punkten verändert<br />

haben, wird nur kursorisch und an einigen Beispielen behandelt.<br />

Nach einem ganz knappen Rückblick auf die ersten 70<br />

Jahre (unter II.) beginnt der Beitrag (unter III.) mit einer<br />

vergleichenden Übersicht über die Gesetzesentwicklung in<br />

der Bundesrepublik. Sie war lange Zeit von der – schließlich<br />

erfolglos gebliebenen – Absicht geprägt, das deutsche Strafverfahrensrecht<br />

im Wege einer Gesamtreform durchgreifend<br />

zu erneuern. Damit befasst sich (unter IV.) der nächste Abschnitt.<br />

Dem nachfolgend werden (unter V.) Eigenschaften<br />

der davon unabhängigen Novellengesetzgebung charakterisiert.<br />

Anschließend werden (unter VI.) einige wichtig erscheinende<br />

Entwicklungslinien gekennzeichnet und (unter<br />

VII.) einige Beispiele für die Einflüsse von Wissenschaft und<br />

Rechtsprechung gegeben, bevor abschließend (unter VIII.)<br />

auf aktuelle offene Fragen und Defizite eingegangen wird. 3<br />

1 Strafprozessordnung v. 1.2.1877 (RGBl. S. 253), in Kraft<br />

getreten am 1.10.1879 gemäß § 1 EGStPO v. 1.2.1877 (RGBl.<br />

S. 346) i.V.m. § 1 EGGVG v. 27.1.1877 (RGBl. S. 77).<br />

2<br />

Ein vollständiger Nachweis der Rechtsentwicklung im<br />

Strafverfahren, auf den hier insgesamt verwiesen wird, bei<br />

Kühne, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1,<br />

26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. F (inhaltlich für die Zeit bis<br />

1998 übereinstimmend mit Rieß, in: Ders. [Hrsg.], Löwe/Rosenberg,<br />

Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

Bd. 1, 25. Aufl., 1998, Einl. Abschn. E); zur<br />

Entwicklung in der 15. Legislaturperiode Rieß, StraFo 2006,<br />

4 ff. Eine zusammenfassende Darstellung der Gesetzesentwicklung<br />

von 1973-1987 bei Rieß, in: v. Gamm u. a. (Hrsg.)<br />

Festschrift für Gerd Pfeiffer zum Abschied aus dem Amt als<br />

Präsident des Bundesgerichtshofes, 1988, S. 155 ff. Zahlreiche<br />

Nachweise der bis dahin erschienenen Reformliteratur<br />

bei Engelhard, in: Eyrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Kurt<br />

Rebmann zum 65. Geburtstag, 1989, S. 45 ff.<br />

3 In Kauf genommen wird dabei, dass manche Sachfragen<br />

dabei unter verschiedenen Blickwinkeln wiederholt angesprochen<br />

werden.<br />

II. Ausgangslage und Vorgeschichte<br />

Der staatliche Neuaufbau der Bundesrepublik hatte auch die<br />

Aufgabe zu bewältigen, im Verfahrensrecht, also im GVG,<br />

der ZPO und der StPO, die nach dem Zusammenbruch seit<br />

1945 eingetretene Rechtszersplitterung und die Perversionen<br />

zu beseitigen, die durch den Nationalsozialismus herbeigeführt<br />

worden waren. Dies geschah mit Wirkung vom 1. Oktober<br />

1950 durch das sog Vereinheitlichungsgesetz. 4 Es enthält<br />

als Anlage eine vom parlamentarischen Gesetzgeber mit<br />

beschlossene Neufassung der StPO und des GVG. Sie sind<br />

die Grundlagen der seitherigen Entwicklung.<br />

Von ihrem <strong>Inhalt</strong> her handelt es sich dabei aber nicht um<br />

neue – und nicht einmal um tiefgreifend reformierte – Gesetze,<br />

sondern um solche, die weitgehend am Ende der Weimarer<br />

Republik galten. Beibehalten wurden einige während des<br />

Nationalsozialismus eingeführte ideologiefreie Änderungen. 5<br />

Hinzu traten nur wenige zukunftsweisende Reformansätze,<br />

von denen die Einführung des § 136a StPO sowie die einschränkungslose<br />

Geltung des Beweisantragsrechts hervorzuheben<br />

sind.<br />

Hinzu kommt: Anders als die ZPO, die 1933 im Anschluss<br />

an ältere Vorarbeiten umfassend reformiert worden<br />

war, ist die StPO weder im Kaiserreich noch in der Weimarer<br />

Zeit grundsätzlich überarbeitet worden. Von 1879 bis 1918<br />

ist sie praktisch unverändert geblieben. In der Weimarer Zeit<br />

enthält vor allem die sog. Emminger-Reform 6 im Jahre 1924<br />

größere Veränderungen. Sie sind nur teilweise von Dauer<br />

geblieben oder ausgebaut worden, so etwa erste Durchbrechungen<br />

des Legalitätsprinzips oder die Umwandlung des<br />

klassischen Schwurgerichts in ein vom Typ her Großes<br />

Schöffengericht. 7 Davon abgesehen hat es nur wenige Veränderungen<br />

in Einzelgebieten gegeben, so im Haftrecht. 8 Drei<br />

auf eine vollständige Neufassung der StPO abzielende amtliche<br />

Entwürfe von 1909, 1919 und 1939 9 sind nicht verwirk-<br />

4 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem<br />

Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege,<br />

des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.9.1950<br />

(BGBl. S. 455) – VereinhG. Ausführlich zu diesen Gesetz<br />

Rieß, in Letzgus u.a. (Hrsg.), Festschrift für Herbert Helmrich<br />

zum 60. Geburtstag, 1994, S. 127 ff.<br />

5 So etwa das sog. Adhäsionsverfahren (§§ 403-406c StPO)<br />

nach österreichischem Vorbild durch die 3. Verordnung zur<br />

Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 29.5.1943 (RGBl. I<br />

S. 342), das bis 1986 weitgehend unverändert blieb und seither<br />

mehrfache Erweiterungen erfahren hat; s. zur Entwicklung<br />

näher Rieß, in: Widmaier u.a. (Hrsg.), Festschrift für<br />

Hans Dahs, 2005, S. 425 ff.<br />

6 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege<br />

v. 4.1.1924 (RGBl. I S. 15); s. näher Vormbaum, Die Lex<br />

Emminger vom 4. Januar 1924, 1988.<br />

7 Dazu näher Rieß, in: Schöch u.a. (Hrsg.), Festschrift für Gunter<br />

Widmaier zum 70. Geburtstag, 2008, S. 473 ff. (479 f.).<br />

8 S. unten Fn. 80.<br />

9 S. dazu m.w.N. Kühne (Fn. 2), Rn. 19 ff., 30 ff., 64 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

466<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

licht worden. Die ab 1950 geltende StPO beruht damit in<br />

ihrer Substanz sowie ihren systematischen, dogmatischen und<br />

geistesgeschichtlichen Grundlagen und weitgehend auch in<br />

ihrem Wortlaut auf der Entstehungszeit der siebziger Jahre<br />

des 19. Jahrhunderts. Indem sie die in der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts entstandenen partikularrechtlichen, vielfach<br />

zersplitterten Verfahrensordnungen in einem wichtigen und<br />

frühen Schritt zur Rechtseinheit zusammenfasste, bildet sie<br />

den deutschen Schlussstein in der Überwindung des überlebten<br />

gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses zum modernen<br />

reformierten Strafprozess.<br />

III. Die Veränderungen im Überblick<br />

Der bei der Wiederherstellung der Rechtseinheit notwendiger<br />

Weise eingeschlagene konservative Weg hat das Strafverfahrensrecht<br />

der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an mit<br />

einem Reformstau belastet, der dem Gesetzgeber bewusst<br />

war und zu dessen Überwindung er die Vorbereitung weiterer<br />

Reformen von Anfang an anmahnte. Er ist eine der Ursachen<br />

für eine intensive und häufige Novellengesetzgebung.<br />

1. Quantitative Entwicklung<br />

Seit der Neufassung durch das VereinhG im September 1950<br />

bis zum Ende der 16. Legislaturperiode im Herbst 2009 ist<br />

die StPO insgesamt durch 152 Gesetze geändert worden,<br />

damit sind im Durchschnitt zweieinhalb Änderungsgesetze<br />

jährlich angefallen. 10 Die Häufigkeitsverteilung ist ungleichmäßig;<br />

die Änderungsgeschwindigkeit nimmt zu. In den<br />

ersten zwanzig Jahren von 1950-1969 sind insgesamt 17<br />

Änderungsgesetze verkündet worden, davon nur 6 im ersten<br />

Jahrzehnt. Von 1970-1989 waren es 39 und von 1990 bis<br />

zum 1.9.2009 96, davon 58 in den letzten zehn Jahren. 11 Die<br />

Werte für das Gerichtsverfassungsgesetz sind, auch wenn<br />

man die den Zivilprozess betreffenden Vorschriften außer<br />

Acht lässt, ähnlich hoch.<br />

Ein Vergleich der einzelnen Vorschriften der StPO bestätigt<br />

die Änderungsintensität: Bei einem Bestand von 1950<br />

etwa 500 Paragraphen wurden bis zum Ende der 15. Legislaturperiode<br />

2005 211 neu gefasst oder (teilweise häufig) geändert,<br />

52 aufgehoben und 183 neu eingefügt. In umgekehrter<br />

Perspektive ergibt sich nach dem aktuellen Stand zum Ende<br />

der 16. Legislaturperiode im Herbst 2009: Von den derzeit<br />

621 Paragraphen der StPO stimmen mit der Fassung von<br />

1950 146 im Wortlaut überein, weitere 66 haben nur Änderungen<br />

erfahren, die ihren <strong>Inhalt</strong> nicht nennenswert betreffen.<br />

Das macht rund ein Drittel des gesamten Normenbestandes<br />

aus. Dem stehen 209 Vorschriften gegenüber, die – und zwar<br />

teilweise tiefgreifend – auch inhaltlich geändert worden sind;<br />

200 Paragraphen sind schließlich neu eingefügt worden.<br />

Das Gewicht dieser imponierenden, wenn nicht erschreckenden<br />

Zahl der Änderungen wird freilich etwas relativiert,<br />

wenn man ihren Charakter und ihre Bedeutung betrachtet. Zu<br />

unterscheiden sind drei Typen:<br />

Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Einzeländerungen<br />

sind reine Folgeänderungen mit dem Ziel der Anpassung<br />

an die Änderungen in anderen Rechtsgebieten; sie wirken<br />

sich kaum auf den sachlichen <strong>Inhalt</strong> aus.<br />

Als Folge der (mindestens auch) dienenden Aufgabe des<br />

Strafverfahrensrechts gegenüber dem materiellen Strafrecht<br />

erfordern dessen Veränderungen vielfach Eingriffe<br />

in das Prozessrecht, die über bloße Anpassungen hinausgehen<br />

und eigenständige prozessuale Neuerungen darstellen.<br />

Dazu zählen etwa (als bloße Beispiele) seit 1975 die<br />

Vorschrift über das vorläufige Berufsverbot (§ 132a StPO)<br />

oder (aktuell) § 275a StPO, der das gerichtliche Verfahren<br />

bei der Entscheidung über die vorbehaltene und die nachträgliche<br />

Sicherungsverwahrung regelt.<br />

Den sachlichen Schwerpunkt bilden aber diejenigen Gesetzesänderungen,<br />

die ohne solche Anlässe oder über sie<br />

hinausgehend das Regelungsgefüge des Strafverfahrensrechts<br />

inhaltlich verändern. Das kann durch kleinere Gesetze<br />

geschehen, die eine Einzelfrage behandeln und insoweit<br />

durchaus bedeutungsvoll sein können, aber auch<br />

durch breiter angelegte Novellen, darunter auch solche,<br />

die eine übergreifende Thematik enthalten. Eine Liste der<br />

unter diesem Aspekt wichtigen Gesetze ist als Anhang<br />

beigefügt.<br />

2. Vergleichende Gegenüberstellung<br />

Würde man den Text der StPO in der Fassung vom 1.10.1950<br />

dem der heute geltenden synoptisch gegenüberstellen, so<br />

könnte der Eindruck entstehen, es mit zwei zwar verwandten,<br />

aber doch unterschiedlichen Strafverfahrensordnungen zu tun<br />

zu haben.<br />

Das betrifft in mehrfacher Hinsicht bereits die gesetzlichen<br />

Grundlagen für das Strafverfahren:<br />

10 Eine Liste aller Änderungsgesetze zur StPO und zum GVG<br />

bei Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Aufl.<br />

2009; Darstellung der Entwicklungsgeschichte der einzelnen<br />

Vorschriften in der 25. und 26. Aufl. des Löwe/Rosenberg<br />

(Fn. 2) jeweils vor der Einzelkommentierung.<br />

11 Der (verkürzten) 15. Legislaturperiode sind 20 Änderungsgesetze<br />

zu verdanken, davon zwei (1. Opferrechtsreformgesetz<br />

[Fn. 97] und 1. JuMoG [Fn. 65]) von besonderer Bedeutung,<br />

der soeben beendeten 16. Legislaturperiode ebenfalls<br />

20, von denen drei besonders bedeutsame (zur Untersuchungshaftreform<br />

[Fn. 84], zum Opferschutz [Fn. 98] und zur<br />

Verständigung [Fn. 130]) erst unmittelbar vor dem Ende der<br />

Legislaturperiode verabschiedet wurden.<br />

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes<br />

waren zwar 1950 ihrem Wortlaut nach bereits vorhanden.<br />

Sie sind aber vor allem infolge der sie konkretisierenden<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so verfeinert<br />

worden, dass sie für die Rechtsanwendung eine<br />

andere Dimension gewonnen und vielfach Rechtsänderungen<br />

bewirkt haben. Verfassungsrecht ist hierdurch in<br />

besonderem Maße Rechtsquelle und Handlungsanleitung<br />

für den Strafprozess geworden. 12<br />

Davon abgesehen – und vorübergehende besatzungsrechtliche<br />

Beschränkungen außer Acht gelassen – war das<br />

12 S. dazu ausführlich Rieß, StraFo 1995, 94 ff.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

467


Peter Rieß<br />

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Strafverfahren 1950 allein in StPO und GVG nebst einigen<br />

Nebengesetzen geregelt. Bereits 1953 wurde diese<br />

Grundlage durch die auch als innerstaatliches Gesetz geltende<br />

Europäische Menschenrechtskonvention erweitert,<br />

deren Verbürgungen auch in gewichtigem Umfang das<br />

Strafverfahren betreffen. Das ist freilich längere Zeit nicht<br />

sonderlich beachtet worden; erst neuerdings wird der Umfang<br />

deutlich, in dem dies auf Rechtsauslegung und<br />

Rechtsanwendung einwirkt. In sich intensivierendem Maße<br />

gewinnt auch das internationale Recht und vor allem<br />

das supranationale Europarecht als strafverfahrensrechtliche<br />

Rechtsquelle Bedeutung, nur als Beispiel mag Art. 54<br />

des SDÜ über den grenzüberschreitenden Strafklageverbrauch<br />

dienen. 13<br />

Schließlich sind Rechtsgebiete neu entstanden oder gesetzlich<br />

neu geregelt worden, was intensive Auswirkungen<br />

auf das Strafverfahren zur Folge gehabt hat. Beispiele<br />

sind das Datenschutzrecht oder die Zunahme gesetzlicher<br />

Anzeigepflichten beim Verdacht strafbarer Handlungen. 14<br />

Die Veränderungen betreffen aber vor allem die inhaltliche<br />

Ausgestaltung. Für einen allgemeinen Überblick lassen sich<br />

mindestens acht Bereiche bezeichnen, in denen sich die gesetzlichen<br />

Grundlagen des Verfahrens tiefgreifend und strukturell<br />

deutlich verändert haben. Das ist teilweise in einer<br />

kontinuierlichen und deshalb unauffälligen Entwicklung und<br />

nicht selten auch in Form einer Wellenbewegung verlaufen.<br />

Erstens ist die Subjektstellung des Beschuldigten, also die<br />

Summe seiner Einflussmöglichkeiten auf die Verfahrensgestaltung<br />

und die ihm geschuldete Gewährleistung des<br />

Anspruchs auf rechtliches Gehör und einer effektiven<br />

Verteidigung durch eine Vielzahl von Änderungen in vielen<br />

Abschnitten des Verfahrens deutlich erweitert worden;<br />

auf Einzelheiten, Grenzen und auch gegenläufige<br />

Entwicklungen wird noch einzugehen sein. 15<br />

Zweitens ist das Legalitätsprinzip, also ein weitgehender<br />

Verfolgungs- und Anklagezwang durch den kontinuierlichen<br />

Ausbau der in den §§ 153 ff. StPO enthaltenen<br />

Nichtverfolgungsermächtigungen auf ein solches von allenfalls<br />

mittlerer Reichweite reduziert worden, das mit einem<br />

gebundenen Opportunitätsprinzip vergleichbar erscheint.<br />

16 Die gegenüber der Ursprungsfassung von 1879<br />

bereits 1924 eingeleitete Entwicklung hat sich seit 1950<br />

deutlich beschleunigt und ist ausdifferenziert worden. Die<br />

Zahl der Ausnahmevorschriften hat sich von fünf auf<br />

dreizehn erhöht. Dies eröffnet – über den bloßen Verzicht<br />

13 S. dazu die ausführliche Darstellung bei Kühne (Fn. 2),<br />

Abschn. D m.w.N.; eine systematisierende Gesamtübersicht<br />

über das „europäische Strafrechtssystem“ soeben bei Sieber,<br />

ZStW 121 (2009), 1 ff.<br />

14 S. dazu Erb, in: Ders. u.a. (Fn. 2), Bd. 5, 26. Aufl. 2008,<br />

§ 158, Rn. 4 ff.<br />

15 Dazu näher unten unter VI. 1.<br />

16 S. näher Beulke, in: Erb. u.a. (Fn. 2), Bd. 5, 26. Aufl. 2008,<br />

§ 152 Rn. 10 f., 42 f., 46 sowie die Entstehungsgeschichte der<br />

einzelnen Vorschriften.<br />

auf die weitere Strafverfolgung hinaus – etwa durch<br />

§ 153a StPO der Anklagebehörde (und dem Beschuldigten)<br />

Gestaltungsmöglichkeiten einer informellen Sanktionierung<br />

außerhalb der Strafe; es spricht einiges dafür,<br />

dass diese gesetzliche Regelung den (zunächst) praeter<br />

legem erfolgten Siegeszug der Urteilsabsprache mit beeinflusst<br />

hat.<br />

Drittens ist die normative Verantwortung der Staatsanwaltschaft<br />

für die Gestaltung und den Ablauf des Ermittlungsverfahrens<br />

durch die Abschaffung der gerichtlichen<br />

Voruntersuchung und die Gewährung zusätzlicher Befugnisse<br />

verstärkt worden. Der immer noch als Verfahren zur<br />

Vorbereitung der öffentlichen Klage bezeichnete Verfahrensabschnitt<br />

hat als Ermittlungsverfahren große und<br />

selbständige Bedeutung erlangt. Vom Gesetzeswortlaut<br />

her ist er der Staatsanwaltschaft anvertraut. Ihre vorrangige<br />

Befugnis zur eigenen Sachverhaltsermittlung ist erweitert<br />

worden. Stärker an Bedeutung gewonnen hat freilich<br />

umgekehrt der faktische Zustand, dass die Polizei die<br />

praktische Ermittlungstätigkeit dominiert. Neuere legislatorische<br />

Entwicklungen – und rechtspolitische Tendenzen<br />

– verstärken dies in einer Art von Reflexwirkung. 17<br />

Das hängt viertens mit einer erheblichen Veränderung<br />

und auch Erweiterung des Arsenals von Zwangsbefugnissen<br />

– oder in einer neueren und zugleich die Perspektive<br />

erweiternden Terminologie von Grundrechtseingriffen –<br />

zusammen. Für den Betroffenen ist das ambivalent. Traditionelle<br />

Eingriffsmöglichkeiten, wie etwa die Untersuchungshaft,<br />

sind an deutlich engere Voraussetzungen und<br />

Begrenzungen geknüpft worden; dem gegenüber stehen<br />

zahlreiche und vielfältige neue Eingriffsbefugnisse; darauf<br />

wird noch näher einzugehen sein. 18<br />

Fünftens ist die ursprünglich randständige Position des<br />

Verletzten im traditionellen deutschen Strafprozessrecht<br />

durch eine Vielzahl von Befugnissen, Einwirkungsmöglichkeiten<br />

und ihm zu Gute kommenden Schutzvorschriften<br />

erheblich verbessert worden; zeugenschützende Regelungen<br />

sind hinzugekommen. Die Entwicklung dürfte<br />

noch andauern. 19<br />

Das durch die Strafrechtsreform und seitherige Entwicklungen<br />

ausdifferenzierte Sanktionensystem des StGB hat<br />

– sechstens – vor allem bei den Vorschriften über die<br />

Strafvollstreckung erhebliche prozessuale Veränderungen<br />

und Erweiterungen zur Folge gehabt. Auch sonst entspringen<br />

viele neue Vorschriften dem Übergang von einem<br />

vorwiegend tatvergeltenden zu einem stärker täterorientierten<br />

materiellen Strafrecht.<br />

Siebtens hat die Begründung eines Rechts auf informationelle<br />

Selbstbestimmung und die weitere Entwicklung im<br />

Datenschutzrecht zu einer großen Zahl neuer Regelungen<br />

geführt.<br />

In der im GVG geregelten Strafgerichtsverfassung fallen<br />

namentlich – achtens – der Wegfall des Schwurgerichts<br />

17 S. dazu insgesamt Rieß, in: Hassemer u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Klaus Volk zum 65. Geburtstag, 2009, S. 559 ff.<br />

18 Dazu näher unten unter VI. 3.<br />

19 S. näher unten unter VI. 4.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

468<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

als selbständiger Spruchkörper sowie der mit der Einführung<br />

einer Rechtsmittelmöglichkeit verbundene Übergang<br />

der erstinstanzlichen Zuständigkeit für Staatsschutz-<br />

Strafsachen vom Bundesgerichtshof auf die Oberlandesgerichte<br />

ins Gewicht. Hinzu kommt die Einrichtung von<br />

Spruchkörpern mit gesetzlich bestimmten Spezialzuständigkeiten<br />

mit der Konsequenz von detaillierten Regelungen<br />

in der StPO bei Zuständigkeitskonflikten sowie in<br />

neuerer Zeit eine Verringerung der Zahl der Berufsrichter<br />

bei den Kollegialgerichten.<br />

Die Vorschriften über das erstinstanzliche gerichtliche Verfahren,<br />

das Rechtsmittelsystem und die Wiederaufnahme sind<br />

bis vor kurzem – genauer, bis zur gesetzlichen Regelung der<br />

Urteilsabsprache 20 – in ihren normativen Grundstrukturen seit<br />

1950 weniger intensiv verändert worden. Bei Betrachtung der<br />

Einzelregelungen gilt dies freilich nicht. Dazu sind als Beispiele<br />

aus verschiedenen Zeiten zu nennen:<br />

im Zwischenverfahren die Umwandlung des tatkonkretierenden<br />

Eröffnungsbeschlusses in die bloße Anklagezulassung<br />

– was freilich mehr kosmetischen Charakter hatte –<br />

sowie die Herauslösung des beschleunigten Verfahrens<br />

aus diesem Zusammenhang und seine Ausgestaltung als<br />

selbständige besondere Verfahrensart mit speziellen Erleichterungen<br />

in der Verfahrensdurchführung,<br />

im erstinstanzlichen Hauptverfahren die zunehmende<br />

Ausweiterung der Unterbrechungsfristen (§ 229 StPO),<br />

die Neuregelung der Pflicht zur Verwendung präsenter<br />

Beweismittel (§ 245 StPO), deutliche Erweiterungen bei<br />

den Verlesungsmöglichkeiten in den §§ 249 Abs. 2, 251<br />

und 256 StPO, die Verwertung von Video-Vernehmungen<br />

nach § 255a StPO, die Einführung einer zwingenden,<br />

durch einen absoluten Revisionsgrund sanktionierten Frist<br />

für die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe in § 275<br />

Abs. 1 StPO und die Beseitigung des echten Abwesenheitsverfahrens,<br />

im Rechtsmittelverfahren die Schaffung der Annahmeberufung,<br />

die Rügepräklusion bei der Besetzungsrüge, die<br />

Neuregelung der Beschlussverwerfung der Revision in<br />

§ 349 StPO und die Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist<br />

in § 345 StPO sowie die Erweiterung der Sachentscheidungsmöglichkeiten<br />

des Revisionsgerichts in § 354<br />

StPO und schließlich<br />

im Wiederaufnahmeverfahren die Verteidigerbestellung<br />

zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens in den<br />

§§ 364a und 364b StPO und der neue Wiederaufnahmegrund<br />

der Verletzung der Menschenrechtskonvention in<br />

§ 359 Nr. 6 StPO.<br />

Insgesamt ist die Gesetzesentwicklung durch eine zunehmende<br />

Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Vorschriften<br />

gekennzeichnet. Die Zahl der Ausnahmen von solchen mit<br />

generellem Charakter hat zugenommen, bei diesen selbst sind<br />

Voraussetzungen und Folgen detaillierter ausgestaltet worden.<br />

Manche Prozessmaximen, die in ihnen Ausdruck finden,<br />

20 S. dazu unten bei Fn. 130.<br />

sind dadurch relativiert und durch stärker funktional orientierte<br />

Zusammenhänge in Frage gestellt worden. Es erscheint<br />

sehr zweifelhaft, ob etwa das Legalitätsprinzip, die Maximen<br />

der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, der Konzentrationsgrundsatz<br />

oder das Öffentlichkeitsprinzip, die für die Ursprungsfassung<br />

von 1879 von prägender Bedeutung waren<br />

und auch die Fassung von 1950 noch deutlich mit bestimmten,<br />

gegenwärtig unser Prozessmodell noch hinreichend zu<br />

erklären – und zu legitimieren – vermögen. 21 Dieser Verlust<br />

an Prägekraft ist schleichend verlaufen, weil der Gesetzgeber<br />

bei seinen zahlreichen Änderungen die jeweiligen Vorschriften<br />

meist nicht grundsätzlich hinterfragt hat.<br />

Die kontinuierliche und nicht immer koordinierte Gesetzesentwicklung<br />

ist der Klarheit des Rechts nicht förderlich<br />

gewesen. Sie hat verschiedene Ursachen. Teilweise handelt<br />

sich um neu auftretende Bedürfnisse der Praxis oder um die<br />

Schließung von Lücken, die durch die Entwicklung der<br />

Rechtsprechung deutlich werden. In anderen Fällen geht es<br />

darum, erkennbar gewordenen verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />

oder solchen, die sich aus den Verbürgungen der<br />

EMRK ergeben, zu entsprechen. Eine Rolle spielt auch das<br />

gelegentlich überbetonte Bedürfnis, für alle denkbaren Varianten<br />

des zu regelnden Lebenssachverhaltes eine als sachgerecht<br />

empfundene Lösung zu finden. Auch Kompromissentscheidungen<br />

bei der Gesetzesvorbereitung und in der parlamentarischen<br />

Beratung tragen hierzu bei. Ansätze für eine<br />

„symbolische Gesetzgebung“, die auf die öffentliche Meinung<br />

reagiert, kommen hinzu. Verstärkt worden ist diese<br />

Entwicklung dadurch, dass der deutsche Gesetzgeber für eine<br />

Gesamtreform, die all diese Detailregelungen unter größeren<br />

Zusammenhängen betrachtet und vereinfachend zusammenzufassen<br />

sich bemüht, wenig unternommen und noch weniger<br />

Erfolg gehabt hat – und wie es scheint auch weiterhin wenig<br />

zu unternehmen bereit ist.<br />

IV. Bemühungen um eine umfassende Reform<br />

Die Auflösung des 1950 nach der Wiederherstellung der<br />

Rechtseinheit zurückgebliebenen Reformstaus erwies sich als<br />

schwierig. Es dominierte zunächst die Vorstellung, eine<br />

grundlegende Erneuerung des Strafverfahrensrechts, über<br />

dessen Notwendigkeit wenig Zweifel bestand, im Wege einer<br />

einheitlichen Gesamtreform durchzuführen. Gesetzgeberische<br />

Aktivitäten beschränkten sich deshalb anfänglich auf das<br />

Notwendigste. 22<br />

Übereinstimmung bestand aber auch darin, dass einer<br />

großen Strafrechtsreform der Vorrang zukommen und die<br />

StPO-Reform dem nachfolgen müsse. Die mit der Bildung<br />

der Großen Strafrechtskommission 1954 eingeleitete Strafrechtsreform<br />

zog sich freilich in der Vorbereitung und namentlich<br />

in der Realisierung länger als erwartet hin. 23 Der<br />

21 Dazu auch Rieß, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Festschrift für Albin<br />

Eser zum 70. Geburtstag, 2005, S. 443 ff.<br />

22 S. näher Kühne (Fn. 2), Rn. 93 f.; der Schwerpunkt liegt auf<br />

dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz (3. StRÄndG)<br />

v. 4.8.1953 (BGBl. I. S. 735), dazu näher bei Fn. 40.<br />

23 S. dazu etwa Weigend, in: Laufhütte u.a. (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl., 2007, Einl.<br />

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Peter Rieß<br />

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dem Bundestag vorgelegte Regierungsentwurf eines neuen<br />

StGB, der Entwurf 1962, stieß wegen seiner als veraltet empfundenen<br />

kriminalpolitischen Grundhaltung auf verbreitete<br />

Kritik und blieb zunächst stecken. Erst nachdem ein Arbeitskreis<br />

von Strafrechtslehrern mit den sog. Alternativ-<br />

Entwürfen Gegenmodelle entwickelt hatte sowie nach der<br />

Bildung der (ersten) Großen Koalition und mit Hilfe der<br />

Einrichtung eines Sonderausschusses für die Strafrechtsreform<br />

wurden die Beratungen 1966 aktiviert. Die Strafrechtsreform<br />

fand 1970 bis 1975 dergestalt ihren Abschluss, dass<br />

nur der Allgemeine Teil des StGB durch eine vollständige<br />

Neufassung ersetzt wurde, während im Besonderen Teil nur<br />

einzelne Teilgebiete durch eine Reihe von Reformgesetzen<br />

erneuert wurden.<br />

Wegen dieser zeitlichen Verzögerung, begannen deshalb<br />

– ohne das Ziel einer späteren umfassenden Gesamtreform<br />

aufzugeben – 1959 die Vorarbeiten für eine Strafprozessnovelle<br />

„mittlerer Reichweite“. Sie sollte das aktuelle Reformbedürfnis<br />

so weitgehend befriedigen, wie dies möglich war,<br />

ohne die Grundstrukturen des Verfahrens zu thematisieren,<br />

und verwies komplexere Änderungswünsche in die Zukunft.<br />

Daraus entstand, nach teilweise kontroversen und sehr intensiven<br />

Beratungen im Parlament, das über die Vorschläge des<br />

Regierungsentwurfs in manchen Punkten hinausging, das<br />

verbreitet als „kleine Strafprozessreform“ bezeichnete, am<br />

1.4.1965 in Kraft getretene Strafprozessänderungsgesetz<br />

1964. 24 Es war die erste vom parlamentarischen Gesetzgeber<br />

verwirklichte größere Reform des Strafverfahrens in der<br />

Geschichte der StPO, also seit 1879. Sein Änderungspotential<br />

ist erheblich. Gekennzeichnet ist es durch das Ziel einer<br />

„rechtsstaatlichen Liberalisierung“ des Strafverfahrens, namentlich<br />

mit Blick auf die Position des Beschuldigten. Zu<br />

seinen Schwerpunkten gehören<br />

eine vollständige Reform des Rechts der Untersuchungshaft,<br />

die in ihrer Grundkonzeption bis heute maßstabbildend<br />

geblieben ist,<br />

Verbesserungen beim rechtlichen Gehör des Beschuldigten<br />

in einer Vielzahl von Auswirkungen und Verästelungen,<br />

die dessen verfassungsrechtliche Gewährleistung<br />

(Art. 101 Abs. 1 GG) umsetzten,<br />

eine Stärkung der Befugnisse der Verteidigung,<br />

erhebliche Veränderungen beim Verfahren über die Anklagezulassung<br />

im sog. Eröffnungsverfahren,<br />

erweiterte Möglichkeiten der Ablehnung und Ausschließung<br />

von Richtern und<br />

Veränderungen beim Verfahren über die Beschlussentscheidung<br />

in der Sache bei der Revision.<br />

Rn. 34 ff.; ferner die Bilanz von H. J. Hirsch, in: Ders.<br />

(Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 133 ff.<br />

24 Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des<br />

Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG 1964) v. 19.12.1964<br />

(BGBl. I S. 1067); Übersicht bei Kühne (Fn. 2), Rn. 95 ff.;<br />

zum <strong>Inhalt</strong>, zur Bedeutung und Wirkungsgeschichte m.w.N<br />

etwa Rieß, in: Gössel u.a. (Hrsg.), Festschrift für Theodor<br />

Kleinknecht zum 75. Geburtstag, 1985, S. 355 ff.<br />

Einige Einzelpunkte, die sich nicht bewährten, so etwa das<br />

am Ende des Ermittlungsverfahrens von der Staatsanwaltschaft<br />

zu gewährende Schlussgehör und die Erweiterung des<br />

<strong>Inhalt</strong>sprotokolls in der Hauptverhandlung, sind bereits 1975<br />

wieder rückgängig gemacht worden. In seiner Gesamtheit<br />

handelt es sich aber um eines der wichtigsten Reformgesetze<br />

der vergangenen 60 Jahre, das auf einer rechts- und kriminalpolitischen<br />

Grundhaltung beruht, die heute nicht mehr anzutreffen<br />

sein dürfte.<br />

Die Durchführung einer Gesamtreform war damit für den<br />

parlamentarischen Gesetzgeber nicht erledigt. Bei der Verabschiedung<br />

des Gesetzes forderte der Bundestag die Bundesregierung<br />

einstimmig auf, nach dem Vorbild der Großen<br />

Strafrechtskommission eine Große Strafverfahrensrechtskommission<br />

einzuberufen und Vorschläge zur Neugestaltung<br />

des Strafverfahrens alsbald vorzulegen. 25 Dazu ist es nach<br />

einigen zaghaften Vorbereitungsarbeiten im Bundesjustizministerium<br />

nicht gekommen; für die dem im Schrifttum etwa<br />

von Hanack 26 zugeschriebene Feigenblattfunktion spricht<br />

vieles. Einer der Gründe hierfür waren die Verzögerungen bei<br />

der Strafrechtsreform. Schon bei dieser hatte sich ferner die<br />

Undurchführbarkeit des Ursprungskonzepts gezeigt, das<br />

gesamte StGB durch eine Neukodifikation zu ersetzen. Für<br />

eine kommissionsgestützte Gesamtreform des Strafverfahrens<br />

war darüber hinaus die Materiallage weitaus ungünstiger als<br />

bei der des materiellen Strafrechts, und das Bedürfnis nach<br />

alsbaldigen größeren Veränderungen im Strafverfahren im<br />

unmittelbaren Anschluss an die Große Strafrechtsreform<br />

wurde als dringlich empfunden.<br />

Der Gesetzgeber entschloss sich deshalb zu einem Wechsel<br />

in der Reformmethode, nämlich zu einer Gesamtreform<br />

durch Teilgesetze. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die<br />

Fülle des Stoffes und die Vielzahl der zu entscheidenden<br />

Fragen eine Neukodifikation in einem Schritt unmöglich<br />

mache, ging die Absicht nunmehr dahin, die umfassende<br />

Überprüfung und Erneuerung des Strafverfahrensrechts durch<br />

eine Reihe aufeinander abgestimmter, schrittweise folgender<br />

Teilgesetze zu verwirklichen, die jeweils bestimmte Reformschwerpunkte<br />

im Auge haben sollten. In der Begründung des<br />

Ersten Reformgesetzes, dessen Regelungsschwerpunkt auf<br />

Veränderungen im Ermittlungsverfahren und auf einem<br />

Maßnahmenbündel zur Straffung und Beschleunigung des<br />

Strafverfahrens lag, sind als weitere Teilschritte die Rechtsmittelreform,<br />

die Neugestaltung des Hauptverfahrens und<br />

eine Reform des Wiederaufnahmerechts bezeichnet. 27 Das<br />

alles ist nicht realisiert worden. In das Gesetzgebungsverfahren<br />

eingebracht wurde im Herbst 1974 noch der Entwurf<br />

eines 2. Gesetzes zur Reform des Strafverfahrens mit einem<br />

umfangmäßig eher bescheidenen Regelungsinhalt, der überwiegend<br />

durch aktuelle Bedürfnisse bestimmt war. 28 Dieser<br />

25 S. näher Engelhard (Fn. 2), S. 47 mit Wortlaut des Beschlusses.<br />

26 Hanack, in: Lackner u.a. (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm<br />

Gallas zum 70. Geburtstag, 1973, S. 339 Fn. 2.<br />

27 Begründung zum Regierungsentwurf des 1. StVRG, BT-<br />

Drs. 7/551, S. 32 ff.<br />

28 BT-Drs. 7/2526.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Entwurf ging – verbunden mit Vorschriften, die der Terrorismusbekämpfung<br />

dienen sollten – verkürzt im Gesetz zur<br />

Ergänzung des 1 StVRG und gleichzeitig mit diesem in Kraft<br />

tretend auf. Zur Rechtsmittelreform hat eine gemeinsame<br />

Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums und der Landesjustizverwaltungen<br />

einen Diskussionsentwurf für ein Gesetz<br />

über die Rechtsmittel in Strafsachen erarbeitet und vorgelegt.<br />

29 Er ist nach verbreiteter Kritik, namentlich auf dem 52.<br />

DJT (1978), nicht weiter verfolgt worden. 30<br />

Das Anfang 1975 in Kraft getretene 1. Gesetz zur Reform<br />

des Strafverfahrensrechts und sein Ergänzungsgesetz sowie<br />

das zeitgleiche Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch,<br />

dessen verfahrensrechtliche Änderungen weit über Anpassungen<br />

an die Strafrechtsreform hinausgehen, haben zusammen<br />

das Strafverfahrensrecht mit insgesamt 170 sachlich<br />

geänderten, 71 neu eingeführten und 63 aufgehobenen Paragraphen<br />

der StPO und des GVG in einem Umfang verändert,<br />

der weder vorher noch danach wieder erreicht worden ist. 31<br />

Hervorzuheben sind aus der Vielzahl dieser Änderungen<br />

die Umwandlung des (seit 1924 reformierten) Schwurgerichts<br />

in eine Spezialstrafkammer des Landgerichts,<br />

die Einrichtung von Strafvollstreckungskammern, verbunden<br />

mit erheblichen Änderungen im Strafvollstreckungsrecht<br />

der StPO,<br />

die Schaffung des § 153a StPO,<br />

die Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung verbunden<br />

mit einer Erweiterung der (normativen) Kompetenzen<br />

der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren,<br />

Gesetzliche Regelung des Verteidigerausschlusses, Bestimmung<br />

der Höchstzahl von Verteidigern und Verbot<br />

der Mehrfachverteidigung,<br />

umfassende Neuregelung der Sicherungsbeschlagnahme<br />

(§§ 111b ff. StPO),<br />

eine Reihe von im Einzelnen eher unauffälligen, in ihrer<br />

Gesamtwirkung aber gewichtigen Veränderungen im erstinstanzlichen<br />

Verfahren und bei der Berufung,<br />

Beseitigung des Verfahrens gegen Abwesende, 32<br />

Verbesserung der Wiederaufnahmemöglichkeiten.<br />

29 Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in<br />

Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz), im Auftrage der Konferenz<br />

der Justizminister und -senatoren vorgelegt von der<br />

Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform“, 1975,<br />

ausführliche <strong>Inhalt</strong>sdarstellung bei Rieß, DRiZ 1976, 3.<br />

30 S. Verh. des 52. DJT, Bd. I C, Bd. 2 L; s. auch Rieß, ZRP<br />

1979, 193 ff.<br />

31<br />

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) v.<br />

2.3.1974 (BGBl. I S. 469), Art. 21, 22; Erstes Gesetz zur<br />

Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) v. 9.12.1974<br />

(BGBl. I S. 3393); Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes<br />

zur Reform des Strafverfahrensrechts [ErgG 1. StVRG] v.<br />

20.12.1974 (BGBl. I S. 3686); zum <strong>Inhalt</strong> näher Kühne<br />

(Fn. 2), Rn. 110 ff.<br />

32 S dazu. m.w.N Dünnebier, in Lüttger (Hrsg.), Festschrift<br />

für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, 1972, S. 669 ff.<br />

Diese „Strafverfahrensreform“ ist vorrangig durch eine insgesamt<br />

ausgewogene „Modernisierung“ bewirkt worden. Die<br />

traditionellen Grundstrukturen haben die drei Gesetze nicht in<br />

Frage gestellt – und nicht einmal explizit hinterfragt. In der<br />

Folgezeit sind sie insofern stilbildend gewesen, als bis Anfang<br />

1987 vergleichbare, breiter angelegte, gründlich vorbereitete<br />

und in der rechtspolitischen Öffentlichkeit ausführlich<br />

diskutierte Novellen gefolgt sind, die jeweils ein umfangreiches<br />

Bündel von spezifisch strafverfahrensrechtlichen Änderungen<br />

verwirklicht haben. Das StVÄG 1979 33 hat dabei<br />

neben der erheblichen Erweiterung der §§ 154 und 154a<br />

StPO vor allem Vereinfachungen im gerichtlichen Verfahren,<br />

die Besetzungsrügepräklusion und ein umfassendes System<br />

der Klärung von Zuständigkeitsfragen zum Gegenstand gehabt.<br />

Anfang 1987 hat das Opferschutzgesetz 34 den Ausbau<br />

der Position des Verletzten eingeleitet 35 und das StVÄG<br />

1987 36 , dem ein kontroverser, zäher und langwieriger Gesetzgebungsgang<br />

zugrunde lag und das auf Anstößen der<br />

Länder beruhte, hat zeitgleich zahlreiche, meist auf Vereinfachung<br />

gerichtete Änderungen namentlich für das erstinstanzliche<br />

Verfahren verwirklicht, das Recht der Verteidigung –<br />

eher behutsam – fortentwickelt, das Strafbefehlsverfahren mit<br />

dem Ziel erweiterter Anwendung neu gestaltet und das prozessuale<br />

Kostenrecht reformiert. Insgesamt hat der durch<br />

diese Gesetze zwischen 1975 und 1987 geschaffene Rechtszustand<br />

die strafprozessuale Gesetzeslage bis heute maßgebend<br />

bestimmt. Sie haben die Funktionsfähigkeit eines<br />

rechtsstaatlich orientieren Strafverfahrens erhalten und –<br />

wenn auch nicht ganz ohne Brüche und Widersprüche – ausgebaut.<br />

Eine Gesamtreform in der Form, einem einheitlichen<br />

Konzept folgend die einzelnen Teile des Strafverfahrens<br />

nacheinander zu reformieren, ist dadurch nicht realisiert worden.<br />

An diesem Leitbild gemessen ist das vor mehr als 30<br />

Jahren entwickelte Konzept einer Gesamtreform durch Teilgesetze<br />

gescheitert. Der Gesetzgeber hat bis heute schwierige<br />

strukturelle und systematische Fragen vor sich hergeschoben<br />

und auch neue Konzepte in überkommene dogmatische und<br />

systematische Zusammenhänge eingebettet, ohne deren Tragfähigkeit<br />

hierfür hinreichend abzuklären.<br />

Der damalige Bundesminister der Justiz, Engelhard, hat<br />

1986 im rechtspolitischen Raum den Gedanken einer kommissionsgestützen<br />

einheitlichen Gesamtreform wieder aufge-<br />

33 Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979) v.<br />

5.10.1978 (BGBl. I S. 1645); näher Kühne (Fn. 2), Rn. 120 ff.<br />

34 Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten<br />

im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) v. 18.12.1986 (BGBl. I<br />

S. 2496); näher Kühne (Fn. 2), Rn. 125.<br />

35 Zur weiteren Entwicklung s. unten VI. 4.<br />

36 Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987) v.<br />

27.1.1987 (BGBl. I S. 475); näher Kühne (Fn. 2), Rn. 127 ff.<br />

Der weitgespannte <strong>Inhalt</strong> (s. dazu etwa Rieß/Hilger, NStZ<br />

1987, 145 ff. 204 ff.) führt teilweise ältere Veränderungen<br />

fort und erweitert sie, teilweise werden sie aber auch einschränkend<br />

korrigiert.<br />

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471


Peter Rieß<br />

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griffen und im wissenschaftlichen Schrifttum vertieft. 37 Auch<br />

dem sind nach außen erkennbare Aktivitäten nicht gefolgt; 38<br />

sie sind in absehbarer Zeit wohl auch kaum zu erwarten. In<br />

der aktuellen rechtspolitischen Diskussion findet der Topos<br />

einer solchen Gesamtreform kaum Erwähnung. Auch die zum<br />

Abschluss der 16. Legislaturperiode fast zeitgleich eingebrachten,<br />

beratenen und verabschiedeten drei umfangreichen<br />

Gesetze, die insgesamt erhebliche Veränderungen im Strafverfahrensrecht<br />

verwirklichen, 39 beschränken sich auf ihre<br />

jeweilige Thematik, ohne den Aspekt einer Gesamtreform,<br />

der auch bei ihrer ministeriellen Vorbereitung keine Rolle<br />

gespielt haben dürfte, auch nur zu erwähnen. Die gegenwärtig<br />

dominanten Gesetzgebungstendenzen werden durch andere<br />

Umstände bestimmt, auf die nunmehr einzugehen ist.<br />

V. Einzelnovellen, ad-hoc-Gesetzgebung und Krisenintervention<br />

Auf Einzelnovellen hat die Gesetzgebung zu keinem Zeitpunkt<br />

gänzlich verzichtet, jedoch sind sie in den ersten 25<br />

Jahren selten und finden ihren Anlass meist in aktuellen<br />

rechtspolitischen Bedürfnissen oder aus solchen der Neuregelung<br />

angrenzender Rechtsgebiete. Beispiele hierfür sind 1953<br />

das 3. StrÄndG mit prozessualen Begleitregelungen zur Einführung<br />

der Strafaussetzung zur Bewährung und Erweiterungen<br />

beim beruflichen Zeugnisverweigerungsrecht, 40 1960 die<br />

Einführung der §§ 23 ff. EGGVG, 41 1968 die Neuordnung<br />

der verfahrensrechtlichen Stellung der Nebenbeteiligten anlässlich<br />

der Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts 42 und<br />

die gesetzliche Regelung der Fernmeldeüberwachung 43 sowie<br />

37 Engelhard (Fn. 2), S. 60 f.; Nachw. der Äußerungen im<br />

parlamentarischen Raum dort in Fn. 67.<br />

38 Ein Grund hierfür mag möglicherweise auch darin liegen,<br />

dass ab 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands mit ihren<br />

(auch) legislatorischen Anforderungen die Arbeitskraft aller<br />

Beteiligten längere Zeit erheblich in Anspruch nahm. Da sie<br />

grundsätzlich durch die Übertragung des Rechts der (alten)<br />

Bundesrepublik auf das Beitrittsgebiet erfolgte, bestand auch<br />

weder Anlass noch Möglichkeit, dies mit einer großen StPO-<br />

Reform zu verbinden. Auch einige bemerkenswerte und ideologiefreie<br />

einzelne Aspekte des Strafverfahrensrechts der<br />

DDR sind zu keinem Zeitpunkt für die weitere Gesetzesentwicklung<br />

aufgegriffen worden, was (neben allgemein politischen<br />

Gründen) auch auf die Dynamik des Prozesses der<br />

Wiedervereinigung zurückzuführen sein dürfte.<br />

39<br />

Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechtes<br />

(Fn. 84); Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren<br />

(Fn. 130) und 2. Opferrechtsreformgesetz (Fn. 98).<br />

40 Drittes Strafrechtsänderungsgesetz v. 4.8.1953 (BGBl. I<br />

S. 735), Art. 4.<br />

41 Eingefügt durch § 179 der VwGO v. 21.1.1960 als Übergangslösung;<br />

s. näher Böttcher, in: Rieß (Fn. 2), Bd. 7, 25.<br />

Aufl. 1998, Vor § 23 EGGVG Rn. 5 ff.<br />

42 Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten<br />

(EGOWiG) v. 24.5.1968 (BGBl. I. S. 503), Art. 2.<br />

43 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses<br />

(Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz = G 10) v.<br />

13.8.1968 (BGBl. I S. 949).<br />

1969 die Beseitigung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des<br />

BGH in Staatsschutz-Strafsachen. 44 Seit Ende 1974 treten –<br />

zunächst zusätzlich zu den Strafverfahrensänderungsgesetzen<br />

von 1979 und 1987 – Änderungen durch unterschiedlich<br />

motivierte Einzelgesetze in den Vordergrund. Seit etwa 20<br />

Jahren ist es die dominierende legislatorische Methode geworden.<br />

Einige Merkmale dieser Entwicklung sollen hier hervorgehoben<br />

und durch Beispiele erläutert werden:<br />

Aktuelle Krisen in der Durchführung von Strafverfahren –<br />

wie sie namentlich während der innerstaatlichen Terrorismusaktivitäten<br />

in den siebziger Jahren deutlich geworden<br />

sind 45 – veranlassen den Gesetzgeber zu alsbaldigen<br />

Reaktionen, um die Funktionsfähigkeit des Strafverfahrens<br />

zu erhalten. 46 Gesetzgebung erscheint hier als „Krisenintervention“<br />

und beschränkt sich weitgehend hierauf.<br />

Das gilt etwa für die aus aktuellem Anlass entstandenen<br />

Regelungen über die Verteidigerhöchstzahl (§ 137 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO) oder für das Verbot der Mehrfachverteidigung<br />

(§ 146 StPO), bei denen der Gesetzgeber mehrfach<br />

„nachbessern“ musste, 47 sowie die Möglichkeit, bei<br />

selbstverschuldeter Verhandlungsunfähigkeit in Abwesenheit<br />

des Angeklagten zu verhandeln (§ 231a StPO), 48<br />

oder für die Schaffung erweiterter Durchsuchungsmöglichkeiten.<br />

49 Nicht selten produzieren diese aktuellen Anlässe<br />

jedoch Dauerlösungen, die nach einiger Zeit nicht<br />

mehr kritisch hinterfragt werden.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

<br />

Solche ad-hoc-Gesetzgebung kann auch durch verfassungsgerichtliche<br />

Entscheidungen ausgelöst werden,<br />

wenn sie dahin gehen, dass eine für zulässig gehaltene<br />

Praxis einer gesetzlichen Grundlage entbehrt und zugleich<br />

das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Regelung<br />

anmahnt, wie es etwa 1972 bei der Eidesverweigerung<br />

aus Glaubens- und Gewissensgründen 50 oder 1973 hinsichtlich<br />

des jetzt in den §§ 138a ff. geregelten Verteidigerausschlusses<br />

geschehen ist. 51 Ähnlich kann es sein,<br />

44 Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges<br />

in Staatsschutz-Strafsachen v. 8.9.1969 (BGBl. I S. 1582).<br />

45 Zu den aktuellen legislatorischen Maßnahmen zur Bekämpfung<br />

des internationalen Terrorismus s. unten bei Fn. 76, 77.<br />

46 S. dazu auch unten unter VI. 2.<br />

47 Eingeführt 1975 durch das ErgG 1. StVRG (Fn. 31); zu den<br />

Gründen und zur weiteren Entwicklung Rieß, in: Arbeitsgemeinschaft<br />

Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins (Hrsg.),<br />

25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins,<br />

2009, S. 773 ff. (781 f.).<br />

48 Eingeführt 1975 durch Art. 1 Nr. 10 des ErgG 1. StVR<br />

(Fn. 31); zu den Gründen Rieß, JZ 1975, 265 ff. (268 f.).<br />

49 § 103 Ab. 1 Satz 2 StPO eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes<br />

zur Änderung der Strafprozessordnung [StPÄG 1978]<br />

v. 14.4.1978 (BGBl. I S. 497).<br />

50 BVerfGE 33, 23; was zur Einfügung des § 66d (jetzt § 65)<br />

StPO durch das ErgG 1. StVRG (Fn. 31) führte.<br />

51 BVerfGE 34, 392; die gesetzliche Regelung erfolgte 1975<br />

durch das ErgG 1. StVRG (Fn. 31); sie ist seither mehrfach<br />

(teilweise erweiternd) geändert worden; s. Rieß (Fn. 47), S. 782.<br />

472<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

wenn es um die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben,<br />

etwa bei Richtlinien und Rahmenbeschlüssen geht. Auch<br />

für verfassungswidrig erklärte Regelungen mit einer<br />

Übergangsfrist werden oft als Gesetzgebungsauftrag interpretiert.<br />

52<br />

Der rechtspolitische Druck zur möglichst raschen Lösung<br />

von Problemen kann, wenn das Problemfeld komplex und<br />

das Thema rechtspolitisch umstritten ist, zur Folge haben,<br />

dass eine Gesamtregelung nicht zeitgerecht zu verwirklichen<br />

ist. Die Folge ist eine Novellengesetzgebung in<br />

„Trippelschritten“, die sich über längere Zeit hinziehen<br />

kann. Für die durch die verfassungsrechtliche Entwicklung<br />

ausgelöste Notwendigkeit, für Grundrechtseingriffe<br />

und Datenverwendungen spezielle Ermächtigungsgrundlagen<br />

auch in der StPO zu schaffen, benötigte der Gesetzgeber<br />

zum Beispiel, obwohl seit 1989 ein Referentenentwurf<br />

des Bundesjustizministeriums vorlag, 53 insgesamt<br />

einen Zeitraum von 1986 bis 2000 und brauchte hierzu 5<br />

verschiedene Gesetze mit der Folge eines inkonsistenten<br />

und uneinheitlichen Regelungsgeflechts, dessen Harmonisierung<br />

erst mit dem TKÜG 54 Ende 2007 unternommen<br />

wurde.<br />

In der neueren Gesetzgebung stellt auch im Strafverfahrensrecht<br />

eine zeitliche Befristung von Regelungen keine<br />

ganz seltene Ausnahme mehr dar. Teilweise findet dies<br />

seinen Grund in der Erwartung, das Sachproblem werde<br />

ein vorübergehendes sein. So war es beim sog. Kronzeugengesetz<br />

von 1989 55 . Es war ursprünglich bis Ende 1992<br />

befristet und ist nach mehrfachen Verlängerungen Ende<br />

1999 ausgelaufen. Das war allerdings nur von begrenzter<br />

Dauer, weil der Gesetzgeber nach mehreren Anläufen soeben<br />

als Dauerlösung und in genereller Form die Belohnung<br />

der Aufklärungshilfe in einem neuen § 46b StGB als<br />

materiell-rechtlichen Strafmilderungsgrund verankert<br />

hat. 56 In anderen Fällen steckt dahinter die Absicht, einer<br />

52<br />

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v.<br />

3.3.2004 (BVerfGE 108, 279) beispielsweise zu dem erstmals<br />

durch das Gesetz v. 4. 5. 1998 (BGBl. I S. 845) geregelten<br />

sog. Großen Lauschangriff (jetzt § 100c StPO) setzte dem<br />

Gesetzgeber eine Frist bis zum 30.6.2005 für eine verfassungsgemäße<br />

Neuregelung. Dem kam er durch das Gesetz v.<br />

24.6.2005 (BGBl. I S. 1841) nach; die Bedürfnisfrage ist<br />

dabei nicht nochmals thematisiert worden, obwohl die dem<br />

Gesetzgeber dabei gezogenen Regelungsgrenzen hierfür<br />

hätten Veranlassung geben können.<br />

53 Teilabdruck StV 1989, 172; dazu etwa Hilgendorf-Schmidt,<br />

wistra 1989, 289 ff.; Wolter, StV 1889, 358 ff.<br />

54 Gesetz zur Neuregelung der Kommunikationsüberwachung<br />

und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur<br />

Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG [TKÜG] v. 21.12.2007<br />

(BGBl. 1 S. 3198).<br />

55 Als Art. 4 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches,<br />

der Strafprozessordnung und des Versammlungsgesetzes<br />

und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen<br />

Straftaten v. 9.6.1989 (BGBl. I S. 1059).<br />

56 43. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzumessung<br />

bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (43. StrÄndG)<br />

als alsbald notwendig angesehenen Regelung auf einem<br />

Teilgebiet eine umfassende Neuregelung folgen zu lassen,<br />

die sorgfältigerer Vorbereitung und Beratung bedarf. So<br />

war es bei den die Auskunft über Fernmeldeverbindungen<br />

betreffenden, 2001 eingefügten §§ 100g und 100h StPO,<br />

die zuletzt bis Ende 2007 befristet waren 57 und durch die<br />

neue Gesamtregelung durch das TKÜG ersetzt wurden.<br />

Dass solche Befristungen verlängert werden müssen, gehört<br />

schon fast zur absehbaren Entwicklung. Die Reduzierung<br />

der Berufsrichterbesetzung der Großen Strafkammer<br />

nach § 76 Abs. 2 GVG durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz<br />

von 1993 58 war zunächst bis zum 28.2.1998<br />

befristet; dieser Zeitpunkt ist seither sechs mal – soeben<br />

voraussichtlich letztmalig bis Ende 2011 59 – hinausgeschoben<br />

worden; es spricht vieles dafür, dass sie (ggf. in<br />

modifizierter Form) zum Dauerrecht werden wird. 60<br />

Zur gesetzlichen Bewältigung von komplexeren, mehrere<br />

Rechtsgebiete betreffenden Sachproblemen wählt der Gesetzgeber<br />

nicht selten einen kodifikationsübergreifenden<br />

Weg. Er bündelt die erforderlichen Änderungen für mehrere<br />

Rechtsgebiete in einem einheitlichen Gesetz und<br />

stimmt sie aufeinander ab. Das geht über den Charakter<br />

von Folge- und Anpassungsänderungen, die ihrerseits –<br />

wie etwa im Zusammenhang mit der Großen Strafrechtsreform<br />

– beträchtlich sein können, deshalb hinaus, weil<br />

das gesetzgeberische Ziel gleichwertige Schwerpunkte<br />

auf mehreren Rechtsgebieten erfordert. Im Strafprozessrecht<br />

begegnet das in zwei Ausprägungen: Mit dem Ziel<br />

der Verbrechensbekämpfung werden materiell-strafrechtliche,<br />

verfahrensrechtliche und teilweise auch öffentlichrechtliche<br />

Materien zusammengefasst, so etwa im OrgKG<br />

von 1992 61 und im Verbrechensbekämpfungsgesetz von<br />

1994 62 . Bei den Bemühungen um Justizentlastung werden<br />

Regelungen mit diesem Ziel in den verschiedenen Verfahrensordnungen<br />

zusammengefasst, so etwa in ausgeprägter<br />

Form durch das von den Ländern erarbeitete und auf ihr<br />

v. 29.7.2009 (BGBl. I. S. 2288); dazu krit. Frank/Titz, ZRP<br />

2009, 137 ff.; ferner (auch zur Entwicklung) König, NJW<br />

2009, 2481 ff.<br />

57 Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung v. 20.12.2001<br />

(BGBl. I S. 3879) als Nachfolgeregelungen des auslaufenden<br />

§ 12 FAG; dazu näher Schäfer, in: Rieß (Fn. 2), Bd. 2, 25.<br />

Aufl. 2003, § 100g, Entstehungsgeschichte.<br />

58 RpflEntG, s. näher Fn. 63.<br />

59 Durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung<br />

der Rechtspflege v. 7.12.2008 (BGBl. I S. 2348) entgegen<br />

einer schon frühzeitig erkennbaren Tendenz der Länder,<br />

die Befristung entfallen zu lassen.<br />

60 Das BMJ hat soeben ein Forschungsvorhaben zur Evaluierung<br />

der Regelung eingeleitet; s. Bundesanzeiger 2009,<br />

S. 325 v. 23.1.2009.<br />

61 Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels<br />

und anderer Formen der organisierten Kriminalität (OrgKG)<br />

v. 15.7.1992 (BGBl. I. S. 1302).<br />

62 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung<br />

und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz)<br />

v. 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186).<br />

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473


Peter Rieß<br />

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Drängen verabschiedete RpflEntlG 63 , das über Änderungen<br />

in der ZPO und der StPO hinaus auch solche der<br />

VwGO und des Sozialgerichtsgesetzes enthält und von<br />

einer parallel vorbereiteten und beschlossenen Vereinfachungsnovelle<br />

zur Finanzgerichtsordnung 64 flankiert war,<br />

und durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz 65 2004 mit<br />

Änderungen in der ZPO, der StPO und dem OWiG als<br />

Schwerpunkt.<br />

VI. Zu einigen inhaltlichen Tendenzen<br />

Die zahlreichen und erheblichen Änderungen unseres Strafverfahrens<br />

in den letzten 60 Jahren sind von unterschiedlichen<br />

rechtspolitischen Vorstellungen geleitet und haben verschiedene<br />

Schwerpunkte. Dabei zeichnen sich längerfristige<br />

inhaltliche Tendenzen von unterschiedlichem Gewicht ab, die<br />

sich teilweise überschneiden und deren Zuordnung nicht<br />

immer eindeutig möglich ist. Der jeweilige rechtspolitische<br />

„Zeitgeist“ und die „Bedürfnisse des Tages“ spielen eine<br />

erhebliche Rolle. Auf fünf Entwicklungslinien soll näher<br />

eingegangen werden.<br />

1. Ausbau rechtsstaatlicher Gewährleistungen im Strafverfahren<br />

Angesichts der vom Gesetzgeber der Bundesrepublik vorgefunden<br />

und zunächst restituierten Gesetzeslage dominierte in<br />

den ersten zwei Jahrzehnten bis etwa 1970 – etwas pathetisch<br />

ausgedrückt – das Ziel, das Strafverfahren nach den Wertvorstellungen<br />

des Grundgesetzes umzugestalten und die Grundentscheidungen<br />

der Verfassung auch in den einfachgesetzlichen<br />

Regelungen zu verwirklichen. Damit sollte die Wahrung<br />

der Menschenwürde betont und der Schutz des Einzelnen,<br />

namentlich des Beschuldigten ausgebaut werden. Auch bei<br />

der Rechtsstellung anderer Prozessbeteiligter, so etwa beim<br />

Ausbau der beruflichen Zeugnisverweigerungsrechte oder bei<br />

zeugenschützenden Vorschriften, wird diese Zielrichtung<br />

deutlich. Der viel zitierte Ausspruch des BGH in einer Entscheidung<br />

aus dem Jahre 1960, es sei kein Grundsatz der<br />

Strafprozessordnung, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht<br />

werde, 66 kennzeichnet diese Einstellung. Das Ganze<br />

vollzieht sich in einer Vielzahl von Einzelregelungen von<br />

unterschiedlicher Bedeutung, die teilweise heute zum gesicherten<br />

und von keiner Seite in Frage gestellten Bestand der<br />

StPO gehören. Dazu gehören vor allem folgende Punkte:<br />

63 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (RpflEntG) v.<br />

11.1.1993 (BGBl. I S. 50); zu Anlass und Entstehung s. BT-<br />

Drs. 12/1217, S. 13 f.; zu den strafverfahrensrechtlichen Änderungen<br />

Böttcher/Mayer, NStZ 1993, 153 ff.; Siegesmund/<br />

Wickern, wistra 1993, 81 ff., 136 ff., zum Gesamtinhalt Rieß,<br />

AnwaltBl. 1993, 51 ff.<br />

64 Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer<br />

Gesetze (FGO-ÄndG) v. 21.12.2992 (BGBl. I. S. 2109).<br />

65 Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz)<br />

v. 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198).<br />

66 BGHSt 14, 358 (365).<br />

Die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten, also seine<br />

Einflussmöglichkeiten auf den Ablauf des Strafverfahrens<br />

sind ausgebaut und erweitert worden. 67<br />

Sein Recht auf den Beistand eines Verteidigers ist – gemessen<br />

am Rechtszustand von 1950 – deutlich erweitert<br />

worden. Das betrifft etwa den Umfang der notwendigen<br />

Verteidigung und hierbei seinen Einfluss auf die Auswahl<br />

des zu bestellenden Verteidigers, das Akteneinsichtsrecht,<br />

die Garantie des unüberwachten Verkehrs mit dem Verteidiger<br />

sowie – als eine verhältnismäßig neue Entwicklung<br />

– eine gesteigerte Mitverantwortung für den Verfahrensablauf<br />

beim verteidigten Beschuldigten. 68<br />

Der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf<br />

rechtliches Gehör ist in einer Weise, die über das verfassungsrechtliche<br />

Minimum hinausgehen dürfte, durch<br />

zahlreiche Einzelvorschriften ausgebaut und umgesetzt<br />

worden; er wird durch Hinweis- und Belehrungspflichten<br />

ergänzt.<br />

Die Rechtsbehelfsmöglichkeiten und die ihrer Handhabung<br />

dienenden Regelungen wurden – auch was die Befugnisse<br />

dritter Personen angeht – erweitert.<br />

Die Unschuldsvermutung hat auch in der Gesetzgebung –<br />

wenn auch vorrangig in der Rechtsprechung – Beachtung<br />

gefunden, so etwa im Kostenrecht. 69<br />

Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt im Strafverfahrensänderungsgesetz<br />

1964 70 und hat einige Parallelen zur<br />

Entwicklung des materiellen Strafrechts in der Großen Strafrechtsreform.<br />

Seither hat sich diese Tendenz abgeflacht –<br />

auch dies mit einer gerade in neuerer Zeit zunehmend restriktiveren<br />

Entwicklung des materiellen Strafrechts vergleichbar<br />

– und es gibt korrigierende Änderungen. Insoweit mag man<br />

von einer Tendenzwende sprechen, wie es teilweise im<br />

Schrifttum geschehen ist. 71 In anderen Bereichen bleibt der<br />

Trend dagegen bis heute erhalten. 72 Anstöße für ihn finden<br />

67 S. dazu eingehender Rieß, in: Bundesministerium der Justiz<br />

(Hrsg.), Festschrift zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes,<br />

1977, S. 373 ff.<br />

68 Dazu ausführlicher Rieß (Fn. 47), S. 790 f.<br />

69 So etwa die Erweiterung der Kostenerstattung für den nicht<br />

verurteilten Angeklagten (§ 467 Abs. 3 StPO), vor allem durch<br />

das EGOWiG (Fn. 42), die (was damals rechtspolitisch umstritten<br />

war) die Differenzierung zwischen den Freisprüchen<br />

„erster Klasse“ (wegen erwiesener Unschuld) und „zweiter<br />

Klasse“ (mangels Beweises) beseitigte; näher Hilger, in: Rieß<br />

(Fn. 2), Bd. 6, 25. Aufl. 2000, § 467, Entstehungsgeschichte.<br />

70 S. näher oben bei Fn. 24.<br />

71 So etwa Ebert, JR 1978, 136.<br />

72 Als aktuelles Beispiel etwa die (erst in den parlamentarischen<br />

Beratungen des Bundestages und gegen den Widerstand<br />

des Bundesrates beschlossene) Erweiterung der notwendigen<br />

Verteidigung nach dem neuen § 140 Abs. 1 Nr. 4<br />

StPO auf den Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft<br />

durch das neue Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts<br />

(Fn. 84): s. Bericht des Rechtsausschusses,<br />

BT-Drs. 16/13097, zu § 140 StPO; für den zweiten Durchgang<br />

im Bundesrat hatte dessen Rechtsausschuss (BR-Drs.<br />

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474<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

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sich vielfach in verfassungsrechtlichen Erkenntnissen oder in<br />

der Rechtsprechungsentwicklung zur EMRK durch den<br />

EGHMR. Als übergreifender Begriff hat sich hieran anknüpfend<br />

in der neueren Dogmatik ebenso wie in der rechtspolitischen<br />

Diskussion der Maßstab der „Verfahrensfairness“ etabliert.<br />

Er dient auch als Widerlager und bremsender Faktor<br />

gegenüber restriktiven Bestrebungen in diesem Bereich –<br />

ganz unproblematisch ist seine Verwendung im deutschen<br />

Strafverfahrensrecht allerdings nicht.<br />

2. Verbesserte Verbrechensbekämpfung, insbesondere Terrorismusgesetzgebung<br />

Gegenläufig hierzu und dies teilweise korrigierend verläuft<br />

eine etwa 1974 einsetzende Entwicklungslinie, die zunächst<br />

durch den innerstaatlichen Terrorismus der RAF-Fraktion<br />

und verwandter Gruppierungen ausgelöst wurde 73 und bis<br />

etwa 1978 andauert. Sie findet als prominentes, wenn auch<br />

seither nicht wieder angewandtes Beispiel ihre Ausprägung<br />

im sog. Kontaktsperregesetz vom 30.9.1977 74 , ferner in der<br />

Möglichkeit der Hauptverhandlung in Abwesenheit des seine<br />

Verhandlungsunfähigkeit schuldhaft herbeiführenden Angeklagten<br />

sowie in der Einschränkung von Erklärungsrechten in<br />

der Hauptverhandlung, der Erweiterung der Ordnungsmittel<br />

bei Ungebühr und in der Überwachungsmöglichkeit des Verteidigerverkehrs<br />

in §§ 148 Abs. 2, 148a StPO, sowie – wenn<br />

auch hierdurch nicht allein bedingt – in den Regelungen über<br />

den Verteidigerausschluss, die Verteidigerhöchstzahl und das<br />

Verbot der Mehrfachverteidigung. 75 Der Bekämpfung des<br />

neuen internationalen Terrorismus dienende Aktivitäten haben<br />

bisher die innerstaatliche Strafprozessgesetzgebung –<br />

anders als den präventiven Bereich und das materielle Strafrecht<br />

– noch nicht besonders intensiv erreicht. Jedoch ergeben<br />

sich erhebliche mehr indirekte, das Eingriffsinstrumentarium<br />

erweiternde Auswirkungen aus damit motivierten präventiv<br />

orientierten Änderungen, etwa im BKAG 76 und durch<br />

materiell-strafrechtliche Erweiterungen, die zugleich die<br />

587/1/09) sich auch aus finanziellen Gründen hiergegen ausgesprochen;<br />

eine Anrufung des Vermittlungsausschusses, die<br />

das Zustandekommen des Gesetzes möglicherweise verhindert<br />

hätte, ist jedoch unterblieben.<br />

73 S. dazu die kurze Zusammenfassung der Fakten bei Löchner,<br />

in: Eyrich u.a. (Fn. 2), S. 303 ff. (306 ff.).<br />

74 §§ 31-38 EGGVG, eingeführt durch das Gesetz zur Änderung<br />

des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz<br />

v. 30.9.1977 (BGBl. I S. 1877); zu Anlass und Entstehungsgeschichte<br />

ausführlich Böttcher (Fn. 41), Vor § 31 EGGVG<br />

Rn. 1 ff.<br />

75 Darstellung der diesem Zweck dienenden verfahrensrechtlichen<br />

Regelungen von 1974-1978 bei H. J. Vogel, NJW<br />

1978, 1217 ff.; Gesamtübersicht für diesen Zeitraum bei<br />

Rieß, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Freiheit<br />

und Sicherheit – Die Demokratie wehrt sich gegen den<br />

Terrorismus, 1979, S. 69-91.<br />

76 Namentlich durch das Gesetz zur Abwehr von Gefahren<br />

des Internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt<br />

v. 25.12.2008 (BGBl. I S. 3063).<br />

strafprozessualen Eingriffsmöglichkeiten der StPO nutzen, so<br />

infolge der Einführung der §§ 89a und 89b StGB. 77<br />

Diese Entwicklungslinie setzt sich unter dem Topos der<br />

Bekämpfung der sog organisierten Kriminalität und anderer<br />

als besonders bedrohlich empfundener Verbrechensformen<br />

bis zur Gegenwart fort. Sie ist häufig mit dem gleichen Ziel<br />

dienenden materiell-strafrechtlichen Änderungen verbunden;<br />

vielfach gehen hierbei neu geschaffene oder verschärfte Tatbestände<br />

in Deliktskataloge ein, die die Zulässigkeit von<br />

Eingriffen regeln. 78 Im Strafverfahren sind die hierzu zu<br />

zählenden Vorschriften weit gespannt, teilweise überschneiden<br />

sie sich mit anderen Zielsetzungen. Sie umfassen etwa<br />

Maßnahmen zur Verhinderung von sog. „Prozesssabotage“,<br />

den Ausbau verdeckter Ermittlungen, Verbesserungen beim<br />

Zeugenschutz, Reduktionen im Strafvollstreckungsrecht bei<br />

der bedingten Entlassung sowie die prozessuale Umsetzung<br />

der Erweiterung der Sicherungsverwahrung.<br />

Dabei verschwimmen, soweit es sich um komplexe Kriminalitätsstrukturen<br />

handelt, die Grenzen zwischen Prävention<br />

und Repression, weil die einsetzbaren Ermittlungsmethoden<br />

sich annähern, was wiederum die eingriffsbegrenzende<br />

Funktion des strafprozessualen Anfangsverdachts in Frage<br />

stellt und das Bedürfnis nach der Schaffung von Verwertungsbegrenzungen<br />

verstärkt. 79<br />

3. Untersuchungshaft, andere Zwangsmaßnahmen und<br />

Grundrechtseingriffe<br />

Diese Entwicklungslinie überschneidet sich mit einer solchen,<br />

die – in einer nicht immer einheitlichen Entwicklung –<br />

die den Strafverfolgungsbehörden zur Sachverhaltsaufklärung<br />

und zur Sicherung des sog. staatlichen Strafanspruchs<br />

zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen und Eingriffsbefugnisse<br />

beschränkt, erweitert, präzisiert oder in ihren<br />

Voraussetzungen neu bestimmt. Es geht dabei um die drei<br />

Bereiche der Entziehung der Freiheit durch die Untersuchungshaft,<br />

der sonst in die allgemeine Handlungsfreiheit<br />

oder spezielle verfassungsrechtliche Gewährleistungen eingreifenden<br />

Zwangsmaßnahmen sowie um Maßnahmen, die<br />

eine vorläufige Sicherung der späteren Sanktionsverwirklichung<br />

namentlich bei anderen Maßnahmen als der Strafe<br />

dienen sollen. Hierbei haben sich die Schwerpunkte der novellierenden<br />

Gesetzgebung und ihre Akzente unterschiedlich<br />

entwickelt.<br />

a) Bei der Untersuchungshaft beruhte bereits die Fassung<br />

von 1950 auf einer einschränkenden Reform von Ende<br />

1926, 80 unterlag aber weiterhin wegen ihres weiten Anwendungsbereichs<br />

verbreiteter Kritik. Grundlegende Änderungen<br />

77 Art. 2 und 3 des Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung<br />

von schweren, staatsgefährdenden Gewalttaten v. 30.7.2009<br />

(BGBl. I. S. 2437).<br />

78 Besonders ausgeprägt im OrgGKG (Fn. 61) und im Verbrechensbekämpfungsgesetz<br />

(Fn.62).<br />

79 Vgl. dazu näher m.w.N. Rieß, in: Dannecker u.a. (Hrsg.),<br />

Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag, 2007, S. 955<br />

ff.; ferner Kühne (Fn. 2), Rn. 207.<br />

80 Gesetz zur Abänderung der Strafprozessordnung v. 17.12.1926<br />

(RGBl. I S. 529), sog. lex Höfle.<br />

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475


Peter Rieß<br />

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mit dem Ziel einer Reduktion verwirklichte das StPÄG<br />

1964. 81 Es fasste die traditionellen Haftgründe enger, stellte<br />

plakativ den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heraus, erweiterte<br />

die Möglichkeiten der Haftverschonung und begründete<br />

mit den §§ 121, 122 StPO die besondere Haftkontrolle durch<br />

die Oberlandesgerichte. Das ist seither zwar nicht ausgebaut<br />

worden, aber im Wesentlichen und in seinem konzeptionellen<br />

Zuschnitt bis heute erhalten geblieben, auch wenn einige<br />

Haftrechtsverschärfungen zu verzeichnen sind, so etwa durch<br />

den kontinuierlichen Ausbau des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr<br />

82 und die Schaffung der sog. Hauptverhandlungshaft<br />

in § 127b StPO. 83 An dieser Grundkonzeption hält<br />

auch das soeben verabschiedete Untersuchungshaftrechtsänderungsgesetz<br />

fest, 84 mit dem, teilweise internationalen Empfehlungen<br />

folgend, 85 namentlich beschuldigtenfreundliche<br />

Präzisierungen bei den mit der Untersuchungshaft verbundenen<br />

Beschränkungen verfolgt 86 und die Informationspflichten<br />

und Verteidigungsmöglichkeiten verbessert werden. 87<br />

b) Die Vorschriften über die sonstigen Zwangsmaßnahmen<br />

sind durch eine besonders rasante Entwicklung gekennzeichnet.<br />

Aus den im Abschnitt „Durchsuchung und Beschlagnahme“<br />

in der Fassung von 1950 enthaltenen 18 meist<br />

eher knappen und verständlichen Vorschriften ist ein kaum<br />

noch überschaubares Regelungsgeflecht von 61 Paragraphen<br />

unter einer ausufernden Abschnittsbezeichnung geworden.<br />

Weitere Regelungen gleicher Art finden sich an anderen<br />

Stellen, etwa in den §§ 81e-81h und 163d-163f StPO. Dem<br />

liegen unterschiedliche Motive zugrunde und die Bewertung<br />

fällt etwas ambivalent aus. Einmal geht es darum, neue technische<br />

Möglichkeiten der Ermittlung in das Strafverfahrensrecht<br />

zu integrieren und dabei die Anwendungsvoraussetzungen<br />

zu bestimmen. Beispiele sind etwa die die Fernmelde-<br />

81 Fn. 24.<br />

82 Dazu näher Hilger, in: Erb u.a. (Fn. 2), Bd. 4, 26. Aufl.<br />

2007, § 112a Entstehungsgeschichte und Rn. 11 f.<br />

83 Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung<br />

v. 17.7.1997 (BGBl. I S. 1822); zur verbreiteten<br />

Kritik s. m.w.N. Hilger (Fn. 82), § 127b Rn. 7; Wenske, NStZ<br />

2009, 63 ff.<br />

84 Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom<br />

29.7.2009 (BGBl. I S. 2274); zum Anlass und <strong>Inhalt</strong> s. die<br />

Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/11644 und den Bericht des<br />

Rechtsausschusses BT, BT-Drs. 16/13097. Aktueller Anlass<br />

war der mit der sog. Föderalismusreform vorgenommene<br />

Übergang der Gesetzgebungskompetenz für den Untersuchungshaftvollzug<br />

auf die Länder.<br />

85 S. näher BT-Drs. 16/11644, S. 13 f.<br />

86 Ersetzung der bisherigen Generalklausel des § 119 StPO<br />

durch die §§ 119, 119a StPO unter Beschränkung auf die den<br />

Haftzwecken dienenden Maßnahmen, während die die Ordnung<br />

der Untersuchungshaftanstalt betreffenden Beschränkungen<br />

unter die Länderkompetenz fallen.<br />

87 So etwa durch die neuen §§ 114a-114e StPO und die Verbesserungen<br />

beim Akteneinsichtsrecht in § 147 StPO sowie<br />

die Erweiterungen der notwendigen Verteidigung (zu diesen<br />

Fn. 72).<br />

überwachung gestattenden §§ 100a, 100b StPO seit 1968 88<br />

und die gesetzliche Regelung der DNA-Analyse in den<br />

§§ 81e ff. StPO seit 1997. 89 Ferner werden Maßnahmen gesetzlich<br />

geregelt und damit teilweise begrenzt, die auch vorher<br />

verbreitet – gestützt auf allgemeine Befugnisnormen – für<br />

zulässig gehalten und praktiziert wurden, wie etwa bei der<br />

sog. Rasterfahndung nach den §§ 98a ff. StPO 90 oder bei<br />

denen vor allem ein „verfeinertes“ Verfassungsverständnis<br />

das Bedürfnis für eine klarere gesetzliche Grundlage ausgelöst<br />

hat. Das dürfte für die zahlreichen, die Datenverwendung<br />

betreffenden neuen Regelungen ebenso vorrangig sein wie<br />

für die neuen Vorschriften über die Fahndung (§§ 131-131c<br />

StPO) 91 seit 2000. Daneben finden sich aber auch echte Erweiterungen<br />

des Eingriffsarsenals mit einem Schwerpunkt<br />

auf heimlichen und verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Für<br />

diesen Teilbereich hat sich der Gesetzgeber Ende 2007 mit<br />

dem TKÜG 92 um vereinheitlichende Angleichungen bemüht.<br />

Eine in sich konsistente Gesamtkonzeption des gesamten<br />

Regelungsbereichs ist aber weiterhin ein Desiderat.<br />

c) Dies gilt auch für die Vorschriften über vorläufige Sicherungsmaßnahmen<br />

bei Maßregeln. 93 Die Fassung von 1950<br />

gestattete insoweit lediglich in § 126a StPO die einstweilige<br />

Unterbringung. Bereits 1952 kam die vorläufige Entziehung<br />

der Fahrerlaubnis 94 und 1975 das vorläufige Berufsverbot 95<br />

hinzu. Aus der gleichen Zeit stammen die ausführlichen und<br />

nicht unkomplizierten Bestimmungen über die Sicherungsmaßnahmen<br />

bei Einziehung und Verfall in den §§ 111b bis<br />

111p StPO 96 . Sie haben zunächst keine große Beachtung<br />

gefunden. Erst in jüngerer Zeit und nach Erweiterung ihrer<br />

Anwendungsvoraussetzungen wird ihre rechtspolitische Brisanz<br />

zunehmend erkannt.<br />

4. Ausbau der Verletztenstellung und des Zeugenschutzes<br />

Der Position des Verletzten ist in der StPO über mehr als 100<br />

Jahre keine besondere Bedeutung zugebilligt worden. Das<br />

seit jeher vorhandene Privatklageverfahren diente der Justizentlastung,<br />

und mit dem Klageerzwingungsverfahren wurde<br />

sein Strafbedürfnis zur Sicherung des Legalitätsprinzips in-<br />

88 G 10 v. 13.8.1968 (Fn. 43), seither vielfach verändert.<br />

89 Strafverfahrensänderungsgesetz – DNA-Analyse („Genetischer<br />

Fingerabdruck“) – (StVÄG) v. 17.3.1997 (BGBl. I S. 534)<br />

und DNA-Identitätsfeststellungsgesetz v. 7.9.1998 (BGBl. I<br />

S. 2646) mit einigen späteren Änderungen.<br />

90 §§ 98a-98c StPO eingeführt durch das OrgKG (Fn. 61).<br />

91 Eingeführt durch Gesetz zur Änderung und Ergänzung des<br />

Strafverfahrensrechts – Strafverfahrensänderungsgesetz 1999<br />

(StVÄG 1999) v. 2.6.2000 (BGBl. I S. 1253).<br />

92 Fn. 54.<br />

93 Vgl. kritisch zur fehlenden einheitlichen Regelung durch<br />

den Gesetzgeber Gleß, in: Erb u.a. (Fn. 2), Bd. 4, 26. Aufl.<br />

2007, Vor § 132a Vorbemerkung.<br />

94 Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs<br />

v. 19.12.1952 (BGBl. I S. 832).<br />

95 Art. 21 Nr. 93 EGStGB (Fn. 31).<br />

96 S. zur Entstehungsgeschichte und zu den späteren Änderungen<br />

Schäfer, in: Rieß (Fn. 2), Bd. 2, 25. Aufl. 2004,<br />

§ 111b Entstehungsgeschichte.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

476<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

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strumentalisiert. Das 1943 nach österreichischem Vorbild<br />

eingeführte Adhäsionsverfahren fand in der Praxis keine<br />

Akzeptanz. Noch 1975 gab es legislatorische Bestrebungen,<br />

die Nebenklage zu beseitigen. Der Zeuge wurde als Beweismittel<br />

ohne besonderes Schutzbedürfnis angesehen.<br />

Das hat sich seit 1986 fast dramatisch verändert. Eine<br />

Verbesserung der Position des Verletzten – in der neueren<br />

Terminologie meist als „Opfer“ bezeichnet – und die Verstärkung<br />

des Schutzes von Zeugen ist in den letzten zwei<br />

Jahrzehnten zu einem Änderungsschwerpunkt geworden,<br />

dem sich der Gesetzgeber mit einer Vielzahl von Gesetzen<br />

angenommen hat. 97 Verbunden ist das mit der Integration des<br />

materiell-strafrechtlich orientierten Täter-Opfer-Ausgleichsgedankens<br />

auch in das Strafverfahren. Insgesamt hat sich die<br />

Stellung des Verletzten im Strafverfahren entscheidend verändert.<br />

Er ist – und zwar bereits in dieser Eigenschaft – zu<br />

einem selbständigen Prozesssubjekt geworden. Auch auf die<br />

Schutzbedürfnisse des Zeugen wird bereits seit 1975 zunehmend<br />

Rücksicht genommen. Die Entwicklung dauert an, wie<br />

das soeben verabschiedete 2. Opferrechtsreformgesetz 98 zeigt,<br />

das die bisherigen legislatorischen Ansätze fortführt, konsolidiert<br />

und teilweise ausbaut. 99<br />

97<br />

Beginnend mit dem Opferschutzgesetz v. 18.12.1986<br />

(BGBl. I S. 2496), ferner – von kleineren Änderungen abgesehen,<br />

die oft mit Verschärfungen im Sexualstrafrecht in<br />

Verbindung stehen – durch das Zeugenschutzgesetz v.<br />

30.4.1998 (BGBl. I S. 820), das Gesetz zur Verankerung des<br />

Täter-Opfer-Ausgleichs v. 20.12.1999 (BGBl. I S. 2491) und<br />

das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten<br />

im Strafverfahren (OpferrechtsreformG) v. 24.6.2004<br />

(BGBl. I S. 1354) sowie durch das 2. JustizmodernisierungsG<br />

v. 22.12.2006 (BGBl. I S. 3416) mit den die Erweiterung der<br />

erstinstanzlichen Zuständigkeit der Jugendkammer und die<br />

Zulässigkeit der Nebenklage betreffenden Änderungen in<br />

§ 41 Abs. 1 Nr. 4 und § 80 Abs. 3 JGG. Außerhalb der StPO<br />

und des JGG verfolgen die gleiche Tendenz etwa das Opferanspruchssicherungsgesetz<br />

v. 8.5.1998 (BGBl. I S. 905) sowie<br />

das Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter<br />

Zeugen v. 11.12.2001 (BGBl. I S. 3510), und sie liegt ferner<br />

dem Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der<br />

Vermögensabschöpfung bei Straftaten v. 24.10.2006 (BGBl. I<br />

S. 2350) mit zugrunde. S. auch die zusammenfassende Darstellung<br />

bei Rieß, in: Müller-Dietz u.a. (Hrsg.), Festschrift für<br />

Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 751 ff.; umfassend<br />

zur Rolle des Opfers Velten, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer<br />

Kommentar zur Strafprozessordnung und zum<br />

Gerichtsverfassungsgesetz, 29. Lfg., Stand: Dezember 2002,<br />

Vor §§ 374-406h StPO; krit. zur Gesamtentwicklung soeben<br />

etwa Bung, StV 2009, 430 ff.<br />

98 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen<br />

im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29.7.2009<br />

(BGBl. I S. 2280).<br />

99 Zu dem hier nicht im Einzelnen zu behandelnden <strong>Inhalt</strong><br />

und zur Zielsetzung (dazu etwa Schroth, NJW 2009, 2916 ff.)<br />

s. den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen (BT-Drs.<br />

16/12098) und (inhaltlich übereinstimmend) der Bundesregierung<br />

(BT-Drs. 16/12812 mit Stellungnahme des Bundesra-<br />

Aus der gegenwärtigen Gesetzgebungsperspektive erscheint<br />

eher der Verletzte als der Beschuldigte als die Zentralfigur<br />

des Strafverfahrens, wobei eingeräumt werden kann,<br />

dass hier ein erheblicher reformatorischer „Rückstau“ bestand<br />

und dies auch einer internationalen Tendenz entspricht.<br />

100 Dennoch können die strukturellen Auswirkungen<br />

auf unser hierfür nicht eingerichtetes Prozessmodell erheblich<br />

sein, Man mag darin Ansätze für eine „Reprivatisierung“ des<br />

Strafverfahrens sehen, bei dem geistesgeschichtliche Wurzeln<br />

deutlich werden, die vor der Entstehung des Inquisitionsprozesses<br />

liegen.<br />

5. Verfahrensbeschleunigung und Justizentlastung<br />

Seit dem 1. StVRG 101 von 1975 ziehen sich die – an sich zu<br />

unterscheidenden, aber in der rechtspolitischen Argumentation<br />

nicht immer unterschiedenen – Bemühungen um Verfahrensbeschleunigung<br />

und Justizentlastung wie ein roter Faden<br />

durch die Strafprozessgesetzgebung; die Tendenz dürfte sich<br />

– auch wenn in der soeben beendeten 16. Legislaturperiode<br />

eine gewisse Zurückhaltung erkennbar ist – fortsetzen. Während<br />

anfänglich der innerprozessual wichtige und legitime –<br />

weil auch verfassungsrechtlich und in der EMRK verankerte<br />

– Beschleunigungsgedanke 102 dominierte, tritt in neuerer Zeit<br />

das Entlastungsziel in den Vordergrund. Es geht um Einsparung<br />

von Personal und Kosten, was mit der angespannten<br />

Haushaltslage motiviert und gelegentlich (mindestens zum<br />

Teil) mit den etwas euphemistischen Vokabeln einer „Justizmodernisierung“<br />

oder „(Großen) Justizreform“ verbrämt wird.<br />

Unerwähnt bleibt dabei oft, dass die Belastung aller öffentlichen<br />

Haushalte, also Bund, Länder und Kommunen, durch<br />

die Justizausgaben insgesamt 2-3 % des Gesamtvolumens<br />

nicht übersteigt. 103 Bemerkenswert ist, dass spätere Änderungen<br />

nicht ganz selten auf frühere, seinerzeit gescheiterte<br />

Vorstöße zurückgreifen, und bemerkenswert ist weiter, dass<br />

der Gesetzgeber weitgehend an der durch die traditionellen<br />

Prozessmaximen geprägten Struktur des Verfahrens äußerlich<br />

festhält, sie aber in ihrer Bedeutung in Frage stellt oder aushöhlt.<br />

Dass die durch § 229 StPO in seiner gegenwärtigen<br />

Fassung ermöglichten Zeiträume für die Hauptverhandlungsunterbrechung<br />

noch mit der Konzentrationsmaxime gerechtfertigt<br />

werden können, die diese Bestimmung legitimiert,<br />

lässt sich nicht mehr vertreten, und der das Unmittelbarkeitsprinzip<br />

statuierende § 250 StPO hat durch die ständig erweiterten<br />

Ausnahmeregelungen in den §§ 251 und 256 StPO<br />

seine Überzeugungskraft so weitgehend verloren, dass im<br />

tes), den Bericht des Rechtsausschusses (BT-Drs. 16/13641)<br />

sowie die Plenarberatungen (230. Sitzung v. 2.7.2009, Plenarprot.<br />

16/230, S. 25804 ff.), in denen teilweise der Wunsch<br />

nach einem weiteren Ausbau deutlich wird.<br />

100 S. etwa Rahmenbeschluss der EU über die Stellung des Opfers<br />

im Strafverfahren v. 15. 3. 2001, EU-Amtsbl. v. 22.3.2001,<br />

L 82/1; zum <strong>Inhalt</strong> Velten (Fn. 97), Rn. 55.<br />

101 Fn. 30.<br />

102 Kritisch zu dessen Überbetonung und zu den Folgen etwa<br />

Tepperwien, NStZ 2009, 1 ff.<br />

103 Dazu m.w.N. Kühne (Fn. 2), Rn. 204 Fn. 761.<br />

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Peter Rieß<br />

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Schrifttum mit diskussionswürdigen Gründen seine Aufgabe<br />

empfohlen wird. 104<br />

Für die rechtspolitische Betonung des Einsparungsziels<br />

spielt die Gesetzgebungsmitwirkung der Länder eine wichtige<br />

Rolle. Die Anstöße können von ihnen ausgehen und durch<br />

das Initiativrecht des Bundesrates realisiert werden. Über die<br />

Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates oder bereits im Vorfeld<br />

sowie in gemeinsamen Arbeitsgruppen mit dem Bundesjustizministerium<br />

können sie Regelungen zu verhindern versuchen,<br />

denen sie Belastungswirkung zumessen. 105 Der mögliche<br />

Interessengegensatz liegt an der Kompetenzverteilung.<br />

Während der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das<br />

Straf- und Strafprozessrecht besitzt, liegt die sog. „Justizhoheit“,<br />

also namentlich die Zuständigkeit für die Personalwirtschaft<br />

und Sicherstellung einer funktionsfähigen Rechtspflege<br />

und die Kostenlast hierfür bei den Ländern.<br />

VII. Zu einigen Entwicklungstendenzen in Rechtsprechung<br />

und Wissenschaft<br />

Der Gesetzeswortlaut ist nur eine Quelle des praktizierten<br />

Strafprozessrechts. Seine Bedeutung wird durch die Prozessrechtswissenschaft<br />

beeinflusst und durch Rechtsprechungsentwicklungen<br />

in großem Umfang mit bestimmt. Auch bei<br />

unverändertem Gesetzeswortlaut kann sich deshalb der aktuelle<br />

Rechtszustand von dem von 1950 erheblich unterscheiden<br />

– und er tut es in vielen Punkten. 106 Das näher darzustellen<br />

würde einen eigenen Beitrag erfordern – deshalb sind an<br />

dieser Stelle nur einige beispielhafte und etwas zufällige<br />

Hinweise möglich:<br />

Dass aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

Gesetzgebungsaufträge abgeleitet worden sind, ist<br />

bereits dargelegt worden. 107 Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat aber auch mit dem methodischen Instrument der verfassungskonformen<br />

Auslegung dem Wortlaut einfachgesetzlicher<br />

Normen einen bestimmten <strong>Inhalt</strong> beigelegt, der allein<br />

noch mit dem Grundgesetz vereinbar sei, wenn es sich nicht<br />

sogar über diesen Wortlaut hinweggesetzt hat. Hierzu vier<br />

Beispiele:<br />

spruchs auf den gesetzlichen Richter in §§ 24 und 25<br />

GVG das scheinbare Wahlrecht der Staatsanwaltschaft<br />

dahingehend interpretiert, dass es das Zuständigkeitsmerkmal<br />

der besonderen Bedeutung in § 24 GVG als unbestimmten<br />

und gerichtlich überprüfbaren Rechtbegriff<br />

angesehen 108 und dem früheren Wortlaut des § 25 GVG<br />

das Merkmal der minderen Bedeutung hinzugefügt hat. 109<br />

Mit der ersten Auslegung hat sich der Gesetzgeber bis<br />

heute zufrieden gegeben, die zweite hat er erst 1993 – 25<br />

Jahre nach der Entscheidung – durch eine verfassungsrechtlich<br />

unbedenkliche Neufassung ersetzt. 110<br />

Die dem Wortlaut nach haftgrundlose Untersuchungshaft<br />

des § 112 Abs. 3 StPO, eingeführt durch das Strafprozessänderungsgesetz<br />

1964, hat es alsbald auf eine widerlegbare<br />

gesetzliche Vermutung des Vorliegens der speziellen<br />

Haftgründe reduziert, 111 was der Gesetzgeber, der<br />

den Katalog mehrfach erweitert hat, hingenommen hat,<br />

ohne sich zu einer Änderung des Wortlauts veranlasst zu<br />

sehen. 112<br />

Den im Gesetz bis heute defizitär geregelten Rechtsschutz<br />

bei im Zeitpunkt ihrer gerichtlichen Überprüfung erledigten<br />

Zwangsmaßnahmen hat es 1997 unter Aufgabe seiner<br />

eigenen früheren Rechtsprechung unter Verwendung des<br />

Topos der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes<br />

so erweitert, 113 dass – zusammen mit der Konkretisierung<br />

dieses Ansatzes in der fachgerichtlichen Rechtsprechung<br />

– das Bedürfnis nach einer 1981 geplanten gesetzlichen<br />

Neuregelung 114 weitgehend entfallen ist. 115<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat 1974 die gesetzlich<br />

ungeregelte Befugnis der Mitwirkung eines Rechtsanwalts<br />

als Zeugenbeistand, wenn auch mit gewissen Einschränkungen,<br />

grundsätzlich anerkannt; 116 die Rechtspraxis<br />

hat sich mit dieser Entscheidung arrangiert. 117 Der Gesetzgeber<br />

hat zunächst nur punktuell und vorwiegend am<br />

Gedanken des Verletztenschutzes orientiert, Einzelregelungen<br />

getroffen (etwa §§ 68b, 406f, 406g StPO). Erst mit<br />

dem 2. Opferrechtsreformgesetz hat er soeben – also nach<br />

Bei der Zuständigkeit des Schöffengerichts und vor allem<br />

des Einzelrichters in Strafsachen hat es wegen des An-<br />

104 S. etwa Frister, in: Weßlau/Wohlers (Hrsg.), Festschrift<br />

für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag, 2008, S. 211 ff.; Weigend,<br />

in: H. E. Müller u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich<br />

Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 657 ff.; abweichend<br />

(von einem anderen Ansatz her) Velten (Fn. 97), 60. Lfg.,<br />

Stand: Januar 2009, Vor § 250 Rn. 23 ff.<br />

105 Ob es sich dabei um Zustimmungs- oder lediglich um<br />

Einspruchsgesetze handelt, spielt in diesem Zusammenhang<br />

keine sehr große Rolle. Gegen den einhelligen und mit Länderinteressen<br />

motivierten Widerstand der Länder wird der<br />

Bundesgesetzgeber schon bei der Gesetzeseinbringung vielfach<br />

zurückstecken.<br />

106 S. dazu (auch zu den Grenzen) etwa Tepperwien, in:<br />

Schöch u.a. (Fn. 7), S. 583 ff.; s. auch (zur innerhalb des<br />

Gerichts uneinheitlichen) Haltung des BVerfG unten Fn. 119.<br />

107 S. etwa oben bei Fn. 50-52.<br />

108 BVerfGE 9, 223 v. 19.3.1959.<br />

109 BVerfGE 22, 254 v. 19.7.1967.<br />

110 Art. 3 Nr. 5 RPflEntlG (Fn. 63).<br />

111 BVerfGE 19, 342 v. 15.12.1965.<br />

112 Auch das soeben beschlossene Untersuchungshaftänderungsgesetz<br />

(Fn. 84) sieht insoweit von einer Änderung ab.<br />

113 BVerfGE 96, 27; 96, 44; 103, 142) entgegen der früheren<br />

Auffassung BVerfGE 49, 423; näher m.w.N. Schäfer (Fn. 96),<br />

§ 105 Rn. 85 ff.<br />

114 Zu deren <strong>Inhalt</strong> Rieß, ZRP 1981, 101 ff.<br />

115 Aktuelle Übersicht (mit krit. Würdigung gegenläufiger<br />

Entwicklungen) bei Meyer/Rettenmaier, NJW 2009, 1238 ff.;<br />

ferner Löffelmann, StV 2009, 379 ff.<br />

116 BVerfGE 38, 105 v. 8.11.1974.<br />

117 S. näher Ignor/Bertheau, in: Erb u.a. (Fn. 2), Bd. 2, 26.<br />

Aufl. 2008, Vor § 48 Rn. 20 ff.<br />

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478<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

35 Jahren – eine generalisierende Regelung beschlossen.<br />

118<br />

Auch die sog. fachgerichtliche Rechtsprechung des BGH und<br />

der Oberlandesgerichte hat viele verfassungsrechtliche Impulse<br />

aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

in einer kontinuierlichen Entwicklung – auch einzelfallbezogen<br />

– aufgenommen. So wird man etwa den heutzutage verbreiteten<br />

Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip als<br />

Maßstab für Eingriffsbegrenzungen in der früheren Rechtsprechung<br />

kaum einmal finden, und Abwägungen, die das<br />

Fairnessprinzip als Maßstab verwenden, hätten in den 50er<br />

Jahren einen exotischen Charakter gehabt.<br />

Drei weitere Beispiele betreffen Fallgestaltungen, in denen<br />

unabhängig hiervon allein die Rechtsprechung bei unverändertem<br />

Gesetzeswortlaut die Rechtslage deutlich verändert<br />

hat:<br />

In einem Bruch mit einer weit zurückreichenden Rechtsprechung<br />

hat der Große Senat vor knapp zwei Jahren die<br />

absolute Beweiskraft des Protokolls durch die Anerkennung<br />

einer Protokollberichtigung auch für den Fall eingeschränkt,<br />

dass damit einer bereits erhobenen Revisionsrüge<br />

der Boden entzogen wird, und damit das sog. Verbot<br />

der Rügeverkümmerung aufgegeben. 119<br />

Ohne gesetzliche Grundlage hat der BGH 120 nach einigem<br />

Schwanken aus der unterlassenen Belehrung über das<br />

Schweigerecht im Grundsatz ein Verwertungsverbot hergeleitet,<br />

damit verbunden aber mit der sog. Widerspruchslösung<br />

richterrechtlich eine im Gesetz nicht vorgesehene<br />

spezielle Anwendungs- und Rügevoraussetzung geschaffen<br />

und inzwischen weiterentwickelt.<br />

In einer kontinuierlichen, im Einzelnen unauffälligen,<br />

aber in ihrer Summe fast revolutionären Entwicklung hat<br />

namentlich der BGH den Prüfungsumfang bei den tatrichterlichen<br />

Feststellungen in einer Weise erweitert, die sich<br />

mit dem revisionsrechtlichen Zentralbegriff der Gesetzesverletzung<br />

in § 337 StPO nur mühsam vereinbaren lässt<br />

und verbreitet als „erweiterte Revision“ oder als Feststellungsrüge<br />

bezeichnet wird. 121 Daraus ergeben sich von<br />

der Revisionsrechtsprechung entwickelte Anforderungen<br />

an den <strong>Inhalt</strong> der schriftlichen Urteilsbegründung, die<br />

über den Gesetzeswortlaut des § 267 StPO weit hinausgehen.<br />

118 Neufassung des § 68b Abs. 1 StPO in Art. 1 Nr. 8 des 2.<br />

OpferrechtsreformG (Fn. 98) mit einer verhältnismäßig restriktiven<br />

Regelung.<br />

119 BGHSt 51, 298 ff. v. 27.4.2007. Das BVerfG hat diesen<br />

Rechtssprechungswandel mit knapper Mehrheit als noch im<br />

Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung gebilligt; s.<br />

BVerfG, Beschl. v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07 = NJW 2009,<br />

1469 m. Kommentar Rüthers, S. 1461 f.; JR 2009, 245 m.<br />

Anm. Fahl.<br />

120 BGHSt 38, 214 v. 24.2.1992.<br />

121 S. etwa Hanack, in: Rieß (Fn. 2), Bd. 5, 25. Aufl. 1998,<br />

Vor § 333 Rn. 4; § 337 Rn.124 ff.; zu den Gründen hierfür<br />

Frisch, in: Weßlau/Wohlers (Fn. 104), S. 353.<br />

Entwicklungstendenzen in Rechtsprechung oder Wissenschaft<br />

können auch dadurch auf die Gesetzgebung einwirken,<br />

dass der Gesetzgeber die dort erreichten Ergebnisse aufgreift<br />

und übernimmt oder verwirft. Hierzu zwei gegenläufige Beispiele:<br />

Im ersten Fall hat er, dem Schrifttum folgend, die Rechtsprechung<br />

korrigiert. Der Umfang der materiellen Rechtskraft<br />

des Strafbefehls war lange Zeit zwischen einer ziemlich<br />

einhelligen Rechtsprechung und dem Schrifttum umstritten,<br />

weil § 410 StPO in seiner früheren Fassung ihm<br />

lediglich die „Wirkung“ eines rechtskräftigen Urteils verlieh<br />

und daraus geschlossen wurde, dass eine erneute<br />

Strafverfolgung schon bei neuen rechtlichen Gesichtspunkten<br />

zulässig sei, die eine erhöhte Strafbarkeit begründeten.<br />

Dem widersprach fast einhellig das neuere<br />

Schrifttum, das eine weitergehende Rechtskraftwirkung<br />

vertrat. Mit der Wortlautänderung in § 410, der zufolge<br />

der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil „gleichsteht“<br />

und der Schaffung einer spezifischen Wiederaufnahmemöglichkeit<br />

in § 373a StPO folgte der Gesetzgeber<br />

1987 122 der Auffassung der Wissenschaft. 123<br />

Im zweiten Beispiel hat er 1975 mit der Einführung des<br />

§ 81c Abs. 3 StPO die Ausübung des Untersuchungsverweigerungsrechtes<br />

bei einwilligungsunfähigen Personen<br />

sachlich übereinstimmend mit einer Entscheidung des<br />

Großen Senats des BGH geregelt, die dieser bereits 1958<br />

getroffen hatte. 124<br />

Ein aktuelles Beispiel für eine „legislatorische Sanktionierung“<br />

für eine in der Rechtspraxis sich über Jahrzehnte praeter<br />

(oder contra) legem entwickelnde und erst allmählich in<br />

der höchstrichterlichen Rechtsprechung legitimierte Verfahrensweise<br />

stellt schließlich die soeben beschlossene gesetzliche<br />

Regelung der Verständigung im Strafverfahren dar. 125<br />

VIII. Offene Entwicklungslinien und Defizite<br />

Für die Zukunft lassen sich einige offene Entwicklungslinien<br />

erkennen und Defizite bezeichnen. Hervorzuheben ist:<br />

Für die künftige Gesetzgebungstätigkeit wird verstärkt zu<br />

berücksichtigen sein, dass auch im Straf- und Strafprozessrecht<br />

die Musik nicht mehr nur beim nationalen Gesetzgeber,<br />

für Deutschland also in Berlin, sondern auch und in zunehmendem<br />

Maße bei der Europäischen Union in Brüssel spielen<br />

wird, und zwar unabhängig von der in der Strafrechtswissenschaft<br />

lebhaft umstrittenen Frage, ob ein einheitliches Europäisches<br />

Straf- und Strafprozessrecht wünschenswert sei und<br />

unbeschadet des Umstandes, dass das Bundesverfassungsgericht<br />

in seiner neuen grundlegenden Entscheidung zum Vertrag<br />

von Lissabon auch (und insbesondere) für das Straf- und<br />

122 Art. 1 Nr. 27, 33 des StVÄG 1987 (Fn. 36)<br />

123 S. dazu m.w.N. Gössel, in: Erb u.a. (Fn. 2), Bd. 8, 26. Aufl.<br />

2009, § 410 Rn. 19 ff.<br />

124 BGHSt 12, 235; die Begründung zur Gesetzesänderung<br />

durch das 1. StVRG (Fn. 31) weist (BT-Drucks. 7/551 S. 63)<br />

auf die Übernahme der Rspr. ausdrücklich hin.<br />

125 S. dazu näher unten bei Rn. 130.<br />

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Peter Rieß<br />

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Strafverfahrensrecht die Notwendigkeit eines bestimmenden<br />

Einflusses des deutschen Gesetzgebers als verfassungsrechtlich<br />

unverzichtbar bezeichnet hat. 126 Wenn sich der innerstaatliche<br />

Gesetzgeber nicht überwiegend auf die bloße Umsetzung<br />

von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen beschränken<br />

will, wird sich schon bei deren Entstehung die Aufgabe<br />

stellen, aus der Perspektive des nationalen Rechts und unter<br />

Berücksichtigung seiner Wertentscheidungen ihren <strong>Inhalt</strong> zu<br />

beeinflussen. 127 Das erfordert die Herausarbeitung derjenigen<br />

spezifischen Elemente unseres Strafverfahrens, die ihre Bewährungsprobe<br />

bestanden haben und den Verzicht auf solche,<br />

die sich im europäischen Vergleich als „exotisch“ darstellen.<br />

Auch für das Phänomen der „Urteilsabsprache“ muss –<br />

trotz der aktuellen legislatorischen Entscheidung – die weitere,<br />

namentlich die Struktur des Strafverfahrens und die sie<br />

tragenden Prinzipien insgesamt ins Blickfeld nehmende Entwicklung<br />

gegenwärtig als offen bezeichnet werden. Die jedenfalls<br />

partielle Vereinbarung über den Urteilsinhalt und die<br />

Sanktionshöhe hat sich im Laufe von Jahrzehnten zu einer<br />

verbreiteten, mindestens teilweise an der Grenze des Missbrauchs<br />

liegenden Praxis der Verfahrensabwicklung namentlich<br />

bei komplexeren Verfahren entwickelt, dessen Beurteilung<br />

außerordentlich kontrovers ist. 128 Der Bundesgerichtshof<br />

hat es in einer Entscheidung des Großen Senats in Strafsachen<br />

– nicht ohne Resignation und Skrupel – unter gewissen<br />

Bedingungen mit der geltenden Gesetzeslage noch für vereinbar<br />

erklärt; er hat aber zugleich mit großem Nachdruck ein<br />

Tätigwerden des Gesetzgebers angemahnt. 129 Diesem Drängen<br />

ist dieser mit dem soeben verabschiedeten Gesetz nachgekommen,<br />

130 und zwar in Anlehnung an die Vorgaben des<br />

126 Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon v. 30.6.2009<br />

– 2 BvE 2/08 (u. a.) = NJW 2009, 2267 ff., Rn. 244 ff., insbes.<br />

253, Volltext abrufbar im Internet unter www.bverfg.de/<br />

entscheidungen; dazu auch Zöller, <strong>ZIS</strong> 2009, 340 ff. sowie<br />

die Aufsatzreihe von Schünemann, Ambos/Rackow, Heger,<br />

Braum und Folz in <strong>ZIS</strong> 2009, 393 ff. (Ausgabe 8-9).<br />

127 Dazu etwa Kühne (Fn. 2), Rn. 200, 211.<br />

128 Ein näherer Nachweis der Debatte ist hier nicht möglich;<br />

ausführl. Darstellung der Entwicklung m.N. bei Meyer-<br />

Goßner (Fn. 10), Einl. Rn. 119 ff.; ferner aus neuerer Zeit<br />

(mit weit. Nachw. des Meinungsstandes und der Entwicklung)<br />

Kempf, StV 2009, 269 ff.; Dippel, Urteilsabsprache, in:<br />

Schöch u.a. (Fn. 7), S. 105 ff.; zur Situation im amerikanischen<br />

Recht und zum Vergleich Ransiek, <strong>ZIS</strong> 2008, 116 ff.<br />

Kritisch zum (auch bei einer Anhörung im Rechtsausschuss<br />

des Bundestages umstrittenen) aktuellen Gesetzgebungsvorhaben<br />

etwa Fischer, StraFo 2009, 177 ff.; Schünemann, ZRP<br />

2009, 104 ff.<br />

129 BGHSt 50, 40 (63 f.) v. 3.3.2005; dem vorausgegangen<br />

eine Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats BGHSt 43,<br />

195 v. 28.8.1997 sowie ausführliche Stellungnahmen aller<br />

Strafsenate im Anfrageverfahren; s. die Nachw. BGHSt 50, 44 f.<br />

130 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren<br />

v. 29.7.2009 (BGBl. I. S. 2353); dazu Gesetzentwurf der<br />

Bundesregierung (BT-Drs. 16/12310, wortgleich Entwurf der<br />

CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16/11736), Bericht des<br />

Rechtsausschusses (BT-Drs. 16/13095) sowie die Plenarbera-<br />

Bundesgerichtshofs in einer eher konservativen Weise, die<br />

sich bemüht, der Vereinbarung Grenzen zu setzen und sie in<br />

die Struktur des an Amtsaufklärung und materieller Wahrheitsfindung<br />

orientierten Prozessmodells zu integrieren. 131<br />

Ob das gelingen kann, ist zweifelhaft, kann hier nicht näher<br />

behandelt und muss abgewartet werden. Eine rechtsdogmatische<br />

und rechtspolitische Diskussion darüber, welche strukturellen<br />

Grundsatzfragen – und weitere Auswirkungen – damit<br />

verbunden sind, hat im Gesetzgebungsverfahren jedenfalls<br />

nicht stattgefunden; sie ist auch in der Prozessrechtswissenschaft<br />

bisher nur im Ansatz entwickelt worden. 132<br />

Insgesamt steht der Gesetzgeber – auch in anderen, hier<br />

nicht näher zu erwähnenden Bereichen – vor schwierigen und<br />

komplexen Aufgaben. Ob es sich ihnen widmen wird – und<br />

kann – ist unsicher. Wenn er es tun will, ist die Materialbasis<br />

für ihn und die ihm zuarbeitende Ministerialbürokratie nicht<br />

optimal. Dies liegt auch daran, dass es – anders als in vielen<br />

anderen Rechtsgebieten, 133 und trotz mancherlei Aufforderungen<br />

hierzu – bisher nicht dazu gekommen ist, externen<br />

tungen v. 29.1.2009 (Plenarprot. 16/202, S. 21844 ff.); s auch<br />

den teilw. abweichenden, im Gesetzgebungsverfahren abgelehnten<br />

Entwurf des Bundesrates, BT-Drs. 16/4197. Vgl.<br />

dazu ausführlich Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 ff.; Schlothauer/Weider,<br />

StV 2009, 600 ff. sowie die erste (knappe)<br />

Kommentierung bei Meyer-Goßner (Fn. 10) im Ergänzungsheft,<br />

die die zahlreichen, mit der Regelung verbundenen<br />

Unklarheiten und Auslegungsfragen erkennen lassen.<br />

131<br />

So etwa durch die (verbale) Aufrechterhaltung des<br />

Amtsaufklärungsgrundsatzes, die Beibehaltung der Hauptverhandlung<br />

und das Verbot der Schuldspruchvereinbarung;<br />

als neuartige Regelungen dagegen das Verwertungsverbot für<br />

ein absprachegemäß abgelegtes Geständnis bei Wegfall der<br />

Bindung (§ 257c Abs. 4 S. 3 StPO) sowie das generelle Verbot<br />

eines Rechtsmittelverzichts nach einer Vereinbarung<br />

(§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO).<br />

132 S. dazu etwa (nur beispielhaft) Weßlau, ZStW 116 (2004),<br />

150 ff.; dies. in: Jung u.a (Hrsg,), Festschrift für Egon Müller,<br />

2008, S. 779 ff.; Jahn, ZStW 118 (2006), 427 ff.; Meyer,<br />

ZStW 119 (2007), 633 ff.; Ignor, in Beulke/Müller (Hrsg.),<br />

Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer,<br />

2006; S. 321 ff.; Matt/Vogel, ebd.,<br />

S. 391 ff.; Lüderssen, in: Weßlau/Wohlers (Fn. 104), S. 531<br />

ff.; Arzt, Salomonische Wahrheit heute, in: Hassemer u.a.<br />

(Fn. 17), S. 19 ff. (29 f.).<br />

133 Über die Beratungen der Großen Strafrechtskommission<br />

von 1954-1959 hinaus ist im materiellen Strafrecht etwa auf<br />

die Kommissionen zur Reform des Wirtschaftsstrafrechts<br />

(1971-1976) und zur Reform des Sanktionenrechts (1998-<br />

2000) hinzuweisen, in anderen Rechtsgebieten als Beispiele<br />

auf die Beratungen der Insolvenzrechtskommission (1978-<br />

1985), auf denen die Insolvenzrechtsreform von 5.10.1994<br />

(BGBl. I S. 2866) beruht, oder auf die (wenn auch nur teilweise<br />

umgesetzten) Tätigkeiten der in der ersten Hälfte der<br />

70er Jahre tätigen verschiedenen Kommissionen des Rechtspflegerechts<br />

sowie auf die von 1984-1990 tätige Kommission<br />

zur Überarbeitung des Schuldrechts, die die Reform dieses<br />

Teils des BGB wesentlich mit beeinflusst hat.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

480<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Sachverstand (und externe Interessen) in der Form einer<br />

Kommission heranzuziehen, zu bündeln und die Ergebnisse<br />

einer breiteren rechtspolitische Diskussion zugänglich zu<br />

machen. Die nicht ganz seltenen Arbeitsgruppen der Ministerialbürokratie<br />

des Bundes und der Länder bilden hierfür keinen<br />

ausreichenden Ersatz. Auch ein Rückgriff auf ältere<br />

Ergebnisse ist nicht möglich. Eine die Reform der gesamten<br />

StPO thematisierende Kommission ist zuletzt 1903 bis 1905<br />

tätig gewesen. Die Tätigkeit der amtlichen Strafprozesskommission<br />

von 1933-1936 ist überwiegend nur von rechtsgeschichtlichem<br />

Interesse. 134 Angesichts des mit der Einsetzung<br />

solcher Kommissionen notwendig verbundenen Zeitbedarfs<br />

und der Hektik gegenwärtiger Gesetzgebung ist es auch wenig<br />

erfolgversprechend, diesem Defizit derzeit abhelfen zu<br />

wollen. Für eine längerfristig angelegte und kommissionsgestützte<br />

umfassende und tiefgreifende Gesamtreform gibt es<br />

kaum Realisierungschancen. Sie wäre darüber hinaus nach<br />

meiner Auffassung in der gegenwärtigen rechtspolitischen<br />

Lage nicht unbedingt wünschenswert. Denn es dürfte derzeit<br />

an einem ausreichend tragfähigen gesellschaftlichen Konsens<br />

über die Grundwerte eines künftigen Prozessmodells fehlen,<br />

und die Gefahr ist nicht ganz fern liegend, dass ein neu entwickeltes<br />

Strafverfahrensrecht auf Errungenschaften verzichten<br />

würde, für die trotz aller Schwächen und Erosionserscheinungen<br />

das überkommene Strafverfahrensrecht Gewähr<br />

bietet. 135<br />

Für die Fortführung der dennoch erforderlichen rechtspolitischen<br />

und wissenschaftlichen Diskussion erscheint allerdings<br />

die Lage heute günstiger als noch vor etwa 30 Jahren.<br />

Für Teilbereiche gibt es Gesetzentwürfe, die von verschiedenen<br />

Seiten erarbeitet und vorgelegt worden sind. Vom Bundesministerium<br />

der Justiz sind rechtsvergleichende und andere<br />

Gutachten und rechtstatsächliche Untersuchungen in Auftrag<br />

gegeben und erstattet worden. 136 Im rechtswissenschaftlichen<br />

Schrifttum ist ein breiter Fundus von auch rechtspolitisch<br />

ausgerichteten und teilweise umfassende Perspektiven<br />

134 Vollständige Wiedergabe ihrer Protokolle bei Schubert,<br />

in: Ders. u.a. (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und<br />

Strafprozessrechts, III. Abteilung, Bd. 2, Teile 1-3, 1991-1993.<br />

135 S. näher Rieß in: Ders. (Fn. 2), Einl. Abschn. E Rn. 187<br />

ff.; ebenso (auch mit Blick auf die insgesamt ungewisse Entwicklung<br />

der europarechtlichen Bezüge sowie mit Hinweisen<br />

auf Einzelprobleme) Kühne (Fn. 2), Rn. F 194 ff.<br />

136 So etwa Gutachten über Zeugnisverweigerungsrechte bei<br />

(verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen vorgelegt vom Arbeitskreis<br />

Strafprozessrecht und Polizeirecht (Wolter/Schenke<br />

[Hrsg.]), 2002 und vom Max-Planck-Institut für ausländisches<br />

und internationales Strafrecht zu den Themen<br />

„Rechtsmittel im Strafecht. Eine international vergleichende<br />

Untersuchung zur Rechtswirklichkeit und Effizienz von<br />

Rechtsmitteln“, Hrsg. Becker/Kinzig, 2 Bände, 2000; Perron<br />

(Hrsg.), Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des<br />

Auslandes, 1995; ferner Dölling/Feltes, in: Bundesministerium<br />

der Justiz (Hrsg.), Die Dauer von Strafverfahren vor den<br />

Landgerichten, Reihe: Rechtstatsachenforschung, 2000.<br />

entwickelnden Arbeiten vorhanden. 137 Der Deutsche Juristentag<br />

hat nach 1950 zwar eine einheitliche Gesamtreform bisher<br />

nicht zum Gegenstand seiner Beratungen gemacht, sich<br />

aber wiederholt mit größeren Teilbereichen befasst. 138<br />

Ein Blick über die Grenzen auf unsere österreichischen<br />

und Schweizer Nachbarn, die ein vergleichbares Strafverfahrensrecht<br />

praktizieren, macht deutlich, dass dort auch heute<br />

umfassende Reformen eine Chance haben. In Österreich ist es<br />

nach einer beharrlichen, mehrere Jahrzehnte umfassenden<br />

Reformdiskussion gelungen, das gesamte Ermittlungsverfahren<br />

umfassend zu erneuern; 139 die Reform des Hauptverfahrens<br />

und der Rechtsmittel soll sich anschließen. 140 Die<br />

Schweiz hat soeben erstmals in einem bemerkenswert kurzen<br />

Zeitraum von weniger als zehn Jahren anstelle der bisherigen<br />

26 kantonalen Strafprozessordnungen eine einheitliche gesamtschweizerische<br />

Strafprozessordnung von einer beachtlichen<br />

systematischen Geschlossenheit und sprachlichen Einfachheit<br />

verabschiedet, die Anfang 2011 in Kraft treten<br />

137 S. die Nachw. bei Engelhard (Fn. 2) S. 54 ff. Ergänzend<br />

aus neuerer Zeit etwa die Alternativentwürfe des Arbeitskreises<br />

deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer<br />

über Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit<br />

(AE-ZVR, 1996) und zur Reform des Ermittlungsverfahrens<br />

(AE-EV, 2001); den Entwurf des Strafrechtsausschusses<br />

der Bundesrechtsanwaltskammer zur Reform<br />

der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Thesen mit<br />

Begründung (Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer,<br />

Bd. 13, 2004); sowie die von der Großen Strafrechtskommission<br />

des Deutschen Richterbundes erstatteten (nur<br />

teilweise und in Kurzfassung im Fachschrifttum veröffentlichten)<br />

Gutachten zu den Themen „Reform der Rechtsmittel“,<br />

1999 (Kurzfassung bei Kintzi, DRiZ 2000, 187 ff.);<br />

„Einsatz von Vertrauenspersonen bei der Strafverfolgung“<br />

(Kurzfassung bei Kintzi, DRiZ 2003, 136 ff.); „Recht der<br />

Nebenklage“, 2002; „Wiederaufnahme“, 2002; „Tätigkeit des<br />

Ermittlungsrichters im Strafverfahren“, 2003, und „Verhältnis<br />

von Staatsanwaltschaft, Polizei und Gericht im Ermittlungsverfahren“,<br />

2008 (im Volltext abrufbar unter<br />

www./bmj.bund.de/Service/Fachinformationen/Studien,<br />

Untersuchungen und Fachbücher).<br />

138 46. DJT (1966, Essen) und 57. DJT (2008, Erfurt) zu den<br />

Beweisverboten; 50. DJT (1974, Hamburg) zur Behandlung<br />

von Großverfahren; 52. DJT (1978, Wiesbaden) und 63. DJT<br />

(2000, Leipzig) zur Rechtsmittelreform; 54. DJT (1982,<br />

Nürnberg ) zur Öffentlichkeit; 55 DJT (1984, Hamburg) zur<br />

Stellung des Verletzten; 58. DJT (1990, München) zu den<br />

Absprachen; 60. DJT (1994, Münster) zur Verfahrensbeschleunigung;<br />

62. DJT (1998, Bremen) zum Zeugenschutz<br />

und 65. DJT (2004, Bonn) zur Reform des Ermittlungsverfahrens.<br />

139 Strafprozessreformgesetz 2004 – österr. BGBl. I Nr. 19/2004;<br />

zum <strong>Inhalt</strong> etwa Böttcher, in: Widmaier u.a. (Fn. 5), S. 229<br />

ff.; Moos, in: Müller-Dietz u.a. (Fn. 97), S. 581 ff.; Schmoller,<br />

GA 2009, 505 ff.<br />

140 S. etwa Schick, in: Moos u.a. (Hrsg.), Festschrift für Roland<br />

Miklau zum 65. Geburtstag, 2006, S. 451.<br />

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481


Peter Rieß<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

wird. 141 Vergleichbar mit der Entstehung unserer Reichsstrafprozessordnung<br />

vor 130 Jahren hat sie damit Rechtseinheit<br />

im Strafverfahren herbeigeführt.<br />

IX. Ausblick<br />

Es dürfte dem deutschen Gesetzgeber in den fast 60 Jahren<br />

der Strafprozessgesetzgebung seit 1950 auch ohne eine umfassende<br />

Gesamtreform gelungen sein, den historisch bedingten<br />

Rückstau aufzulösen, die StPO in Übereinstimmung mit<br />

den gewandelten verfassungsrechtlichen Anforderungen zu<br />

bringen, aktuellen krisenhaften Zuspitzungen zu begegnen,<br />

die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege weiterhin zu<br />

gewährleisten und insgesamt einen Standard zu bewahren,<br />

der sich auch einem internationalen Vergleich stellen kann.<br />

Das ist insgesamt eine beachtliche Leistung. Dennoch ist<br />

die Lage nicht günstig. Eine Krise des deutschen Strafprozesses<br />

zu diagnostizieren, mag überspitzt erscheinen, liegt aber<br />

nicht völlig fern. 142 Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass er<br />

das Produkt einer wissenschaftlichen und kodifikatorischen<br />

Spätzeit darstellt und zu einem aufs höchste ausdifferenzierten,<br />

komplizierten und kaum noch verständlichen Rechtssystem<br />

geworden ist, dessen Akzeptanz in der Bevölkerung<br />

schwindet, bei dem die Leistungsfähigkeit des ihm zugrunde<br />

liegenden Prozessmodells fragwürdig ist 143 und das den Gesetzgeber,<br />

aus welchen Gründen auch immer, in einer sich<br />

beschleunigenden Entwicklung zu einer Vielzahl von punktuellen,<br />

in sich nicht konsistenten und mit dem Gesamtsystem<br />

nicht immer verträglichen Einzeleingriffen motiviert.<br />

Soweit es um kurz- bis mittelfristig umsetzbare Empfehlungen<br />

an den Gesetzgeber geht, zeichnet sich ein Patentrezept,<br />

wie diesen Schwächen abgeholfen werden könnte, nicht<br />

ab, und die Erwartungen an ihn sollten nicht zu hoch geschraubt<br />

werden. Dass es ihm gelingen könnte, größere Teilbereiche<br />

des Strafverfahrens unter Berücksichtigung der<br />

Gesamtentwicklung und des wissenschaftlichen Diskussionsstandes<br />

zu erneuern, erscheint zweifelhaft. 144 Die soeben<br />

beendete 16. Legislaturperiode zeigt allerdings – wie man<br />

auch immer das Ergebnis bewerten will – die Bereitschaft<br />

und Fähigkeit des Gesetzgebers, komplexe und schwierige<br />

Vorhaben anzugehen, wie etwa das Problem der Urteilsabsprachen,<br />

besonders unübersichtlich gewordene und widersprüchliche<br />

Detailregelungen, etwa im TKÜG, auf ein klareres<br />

Konzept zurückzuführen, oder – ohne Infragestellung der<br />

vorgegebenen Grundlagen – mit dem 2. Opferrechtsreformgesetz<br />

und dem Untersuchungshaftreformgesetz Teilbereiche<br />

jedenfalls in Ansätzen neu zu ordnen. Sie zeigt auch, dass die<br />

„Justizentlastung nach der Rasenmähermethode“ nicht unverzichtbarer<br />

Bestandteil jeder Legislaturperiode sein muss.<br />

Auch dadurch dürfte sich aber der Gesamtzustand des<br />

deutschen Strafverfahrensrechts mit seinen ihm anhaftenden<br />

Gebrechen (mindestens) im nächsten Jahrzehnt nicht tiefgreifend<br />

ändern. Die Rechtspraxis wird damit zurechtkommen<br />

müssen und dies wohl auch tun, und die Prozessrechtswissenschaft<br />

könnte und sollte die Gelegenheit nutzen, den Dialog<br />

über ein zukunftsfähiges Strafprozessmodell des 21. Jahrhunderts<br />

fortzuführen und zu intensivieren.<br />

141 S. etwa Riklin, GA 2007, 495 ff.<br />

142 S. auch Schünemann, Wetterzeichen vom Untergang der<br />

deutsche Rechtskultur, 2005, der seine Grundsatzkritik an der<br />

Entwicklung der Urteilsabsprache (s. oben Fn. 128 f.) in<br />

seiner neuesten, pointierten „Streitschrift“ im Untertitel als<br />

einen Abgesang auf die Gesetzesbindung und den Beruf<br />

unserer Zeit zur Gesetzgebung bezeichnet.<br />

143 Dazu näher Rieß (Fn. 21); Schünemann, in: v. Gamm u.a.<br />

(Fn. 2) S. 461 ff.; ders., ZStW 114 (2002), 1 ff.<br />

144 So ist der 2004 vom Bundesjustizministerium und den<br />

(damaligen) Koalitionsparteien vorgelegte Diskussionsentwurf<br />

eines Strafverfahrensreformgesetzes (Teilabdruck StV<br />

2004, 228), der Reformen des Ermittlungsverfahrens in den<br />

Mittelpunkt stellte, nicht weiterverfolgt worden.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

482<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Anhang<br />

Änderungsgesetze von nicht nur geringfügiger selbständiger<br />

Bedeutung für das Strafverfahren seit 1950:<br />

1. Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf<br />

dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege,<br />

des Strafverfahrens und des Kostenrechts [VereinhG]<br />

v. 12.9.1950 (BGBl. S. 455)<br />

2. Drittes Strafrechtsänderungsgesetz v. 4.8.1953 (BGBl. I<br />

S. 735)<br />

3. Viertes Strafrechtsänderungsgesetz v. 11.6.1957 (BGBl. I<br />

S. 597)<br />

4. Zweites Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs v.<br />

26.11.1964 (BGBl. I S. 921)<br />

5. Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des<br />

Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) v. 19.12.1964 (BGBl. I<br />

S. 1067)<br />

6. Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten<br />

(EGOWiG) v. 24.5.1968 (BGBl. I S. 503)<br />

7. Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses<br />

(Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz = G 10)<br />

v. 13.8.1968 (BGBl. I S. 949)<br />

8. Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten<br />

Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen v. 8.9.1969 (BGBl. I<br />

S. 1582)<br />

9. Gesetz zur Änderung der Bezeichnung der Richter und<br />

ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassung der Gerichte<br />

v. 26.5.1972 (BGBl. I S. 841)<br />

10. Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB)<br />

v. 2.3.1974 (BGBl. I S. 469)<br />

11. Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts<br />

(1. StVRG) v. 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393)<br />

12. Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform<br />

des Strafverfahrensrechts [ErgG 1. StVRG] v. 20.12.1974<br />

(BGBl. I S. 3686)<br />

13. Gesetz über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter<br />

von Presse und Rundfunk v. 25.7.1975 (BGBl. I<br />

S. 1973)<br />

14. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der<br />

Strafprozessordung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der<br />

Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes<br />

[StGBÄndG] v. 18.8.1976 (BGBl. I S. 2181)<br />

15. Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung [StPÄG<br />

1978] v. 14.4.1978 (BGBl. I S. 497)<br />

16. Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979)<br />

v. 5.10.1978 (BGBl. I S. 1645)<br />

17. Dreiundzwanzigstes Strafrechtsänderungsgesetz<br />

v. 13.4.1986 (BGBl. I S. 393)<br />

18. Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten<br />

im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) v. 18.12.1986<br />

(BGBl. I S. 2496)<br />

19. Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987)<br />

v. 27.1.1987 (BGBl. I S. 475)<br />

20. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der<br />

Strafprozessordnung und des Versammlungsgesetzes und zur<br />

Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen<br />

Straftaten v. 9.6.1989 (BGBl. I S. 1059)<br />

21. Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels<br />

und anderer Formen der Organisierten Kriminalität<br />

(OrgKG) v. 15.7.1992 (BGBl. I. S. 1302)<br />

22. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (RpflEntG)<br />

v. 11.1.1993 (BGBl. I S. 50)<br />

23. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der<br />

Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz)<br />

v. 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186)<br />

24. Strafverfahrensänderungsgesetz – DNA-Analyse („Genetischer<br />

Fingerabdruck“) – (StVÄG) v. 17.3.1997 (BGBl. I<br />

S. 534) und DNA-Identitätsfeststellungsgesetz v. 7.9.1998<br />

(BGBl. I S. 2646)<br />

25. Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und der<br />

Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Gesetz zum<br />

Schutz von Zeugen bei der Vernehmung und zur Verbesserung<br />

des Opferschutzes, Zeugenschutzgesetz – ZSchG)<br />

v. 30.4.1998 (BGBl. I S. 820)<br />

26. Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten<br />

Kriminalität v. 4.5.1998 (BGBl. I S. 845)<br />

27. Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung<br />

des Täter-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes<br />

über Fernmeldeanlagen v. 20.12.1999 (BGBl. I S. 2491)<br />

28. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts<br />

– Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG<br />

1999) v. 2.6.2000 (BGBl. I S. 1253)<br />

29. Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung<br />

v. 20.12.2001 (BGBl. I S. 3879)<br />

30. Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Straftaten<br />

gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung<br />

anderer Vorschriften v. 27.12.2003 (BGBl. I S. 3007)<br />

31. Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzen<br />

im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG)<br />

v. 24.6.2004 (BGBl. I S. 1354)<br />

32. Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz)<br />

v. 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198)<br />

33. Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 30. März 2004 v. 24.6.2005 (BGBl. I<br />

S. 1841)<br />

34. Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-<br />

Analyse v. 12.8.2005 (BGBl. I S. 2360)<br />

35. Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der<br />

Vermögensabschöpfung bei Straftaten v. 24.10.2006 (BGBl. I<br />

S. 2350)<br />

36. Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz)<br />

v. 22.12.2006 (BGBl. I S. 3416)<br />

37. Gesetz zur Neuregelung der Kommunikationsüberwachung<br />

und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie<br />

zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG [TKÜG]<br />

v. 21.12.2007 (BGBl. I S. 3198)<br />

38. Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts<br />

v. 29.7.2009 (BGBl. I S2274)<br />

39. Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und<br />

Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz)<br />

v. 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280)<br />

40. Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren<br />

v. 29.7.2009 (BGBl. I S. 2353)<br />

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483


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren*<br />

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München<br />

I. Überblick<br />

1. Als Mitherausgeber der <strong>ZIS</strong> möchte ich dem Initiator, der<br />

Seele und dem atlasgleichen Alter Ego dieser Zeitschrift,<br />

Thomas Rotsch, meine respektvollen Glückwünsche dazu<br />

aussprechen, dass er diese Ausgabe dem Inkrafttreten der<br />

Reichsstrafprozessordnung vor 130 Jahren gewidmet hat und<br />

für den Überblicksaufsatz über ihre Entwicklung in der Bundesrepublik<br />

deren unbestritten ersten Sachkenner, Peter Rieß,<br />

gewinnen konnte. Indem Rieß nicht nur von seinem unerschöpflichen<br />

Fundus als jahrzehntelanger (zunächst) zuständiger<br />

Referent, später Abteilungsleiter im Bundesministerium<br />

der Justiz zehren, sondern auch gewissermaßen die Quersumme<br />

aus seinen sich mit so gut wie allen Themen des<br />

Strafverfahrensrechts befassenden Abhandlungen ziehen<br />

kann, hat er einen Überblick über die einschlägige Gesetzgebung<br />

der letzten 50 Jahre vorgelegt und mit den wichtigsten<br />

Beispielen richterlicher Rechtsfortbildung komplettiert, wie<br />

man ihn in dieser Verbindung von thematischem Durchblick<br />

und exemplarischer Detailanreicherung sonst nirgendwo<br />

findet. Für einen ehemaligen Spitzenbeamten des Bundesjustizministeriums<br />

besonders bemerkenswert ist, dass Rieß auch<br />

mit (freilich stets nobel formulierter und häufig in Andeutungen<br />

verpackter) Kritik nicht geizt, aus der man manchmal<br />

herauszuhören vermeint, dass die wichtigste Aufgabe des<br />

Abteilungsleiters zum Verfahrensrecht im Justizministerium<br />

nicht selten darin bestehen mochte, in der Gesetzgebung<br />

Schlimmeres zu verhüten. Nichtsdestotrotz fällt sein Gesamturteil<br />

über die Entwicklung des Strafverfahrensrechts, die bis<br />

zum Ende der letzten Legislaturperiode verfolgt wird, positiv<br />

aus: Es dürfte dem bundesrepublikanischen Strafverfahrensgesetzgeber<br />

gelungen sein, die StPO unter Auflösung des<br />

historisch bedingten Rückstaus in Übereinstimmung mit den<br />

verfassungsrechtlichen Anforderungen zu bringen, aktuellen<br />

krisenhaften Zuspitzungen zu begegnen, die Funktionsfähigkeit<br />

der Strafrechtspflege weiterhin zu gewährleisten und<br />

einen dem internationalen Vergleich standhaltenden Standard<br />

zu bewahren (auch wenn die Diagnose einer Krise nicht völlig<br />

fern liege und es zweifelhaft erscheine, ob der Gesetzgeber<br />

zukünftig größere Teilbereiche zu erneuern vermöge,<br />

wenngleich die soeben beendete Legislaturperiode Bereitschaft<br />

und Fähigkeit des Gesetzgebers zeige, komplexe und<br />

schwierige Vorhaben anzugehen). 1<br />

2. Diesem (freilich schon von Rieß selbst einschränkend<br />

formulierten) positiven Gesamturteil muss für die Zeit nach<br />

1965 und vor allem für die jüngsten Legislaturperioden widersprochen<br />

werden. Denn der Gesetzgeber hat in der unablässigen<br />

Novellengesetzgebung, deren exorbitante Zahl und<br />

wichtigste Stationen im Beitrag von Rieß nachzulesen sind,<br />

* Im Anschluss an den Beitrag von Rieß, in dieser Ausgabe<br />

S. 466; mein Text bezieht sich auf eine Entwurfsfassung vom<br />

6.7.2009, die mir Peter Rieß dankenswerter Weise zur Verfügung<br />

gestellt hat, betrifft die publizierte Endfassung also nur<br />

cum grano salis.<br />

1 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 482.<br />

die von der Reichsstrafprozessordnung geschaffene Verfahrensstruktur<br />

vollständig zerbröselt, was dadurch um nichts<br />

besser, sondern nur noch schlimmer gemacht wird, dass man<br />

diesen unbestreitbaren und auch im Beitrag von Rieß wiederholt<br />

anklingenden Befund höheren Ortes (etwa in Gestalt der<br />

von ihrer Ministerialbürokratie beratenen Bundesjustizministerin<br />

der letzten Legislaturperioden 2 ) nicht einmal wahrgenommen<br />

hat. Anders als Rieß sehe ich auch den deutschen<br />

Strafprozess, wie er von der RStPO konzipiert worden war,<br />

nicht als „das Produkt einer wissenschaftlichen und kodifikatorischen<br />

Spätzeit, (das) zu einem aufs Höchste ausdifferenzierten,<br />

komplizierten und kaum noch verständlichen Rechtssystem<br />

geworden ist, dessen Akzeptanz in der Bevölkerung<br />

schwindet (und) bei dem die Leistungsfähigkeit des ihm<br />

zugrunde liegenden Prozessmodells fragwürdig ist“ 3 , sondern<br />

als die insgesamt gelungene Integration aller wissenschaftlichen<br />

und demokratisch-rechtsstaatlichen Reformimpulse des<br />

19. Jahrhunderts in dem den Inquisitionsprozess des gemeinen<br />

Rechts endgültig überwindenden Modell der „materiellen<br />

Wahrheitsfindung in öffentlicher, unmittelbarer-mündlicher<br />

und konzentrierter Hauptverhandlung vor einem tunlichst<br />

unbefangenen inquisitorischen Gericht unter Mitwirkung und<br />

Kontrolle durch eine mit Waffengleichheit ausgestattete<br />

Staatsanwaltschaft und Verteidigung“. Dabei waren die Rechte<br />

des Beschuldigten und seiner Verteidigung allerdings nur<br />

teilweise im Detail ausgearbeitet und im Übrigen nur umrisshaft<br />

angesprochen; ihre Präzisierung und Erweiterung ist<br />

zweifellos die bedeutendste Leistung der anschließenden 130<br />

Jahre gewesen und auch in diesem Jahr noch fortgesetzt worden.<br />

4 Keine spezifische Schwäche der RStPO, aber die jeder<br />

Kodifikation anhaftende und bis heute den zentralen Grund<br />

für die Novellengesetzgebung ausmachende Basis ihrer Vulnerabilität<br />

bestand in ihrer zwangsläufigen Orientierung an<br />

der Kriminalität des 19. Jahrhunderts, weshalb die unerhörte<br />

quantitative Zunahme des abweichenden Verhaltens, der<br />

organisierten Kriminalität und der (teilweise durch Änderungen<br />

im materiellen Strafrecht ausgelösten) Monsterprozesse<br />

Anpassungsprobleme stellten, die der Gesetzgeber der RStPO<br />

noch gar nicht bedacht und geregelt haben konnte. Die dritte<br />

Veränderungsspur, allerjüngster Provenienz, aber infolge ihrer<br />

Verfolgung durch einflussreiche Interessengruppen zunehmend<br />

häufiger begangen, zielt auf die Aufpfropfung eines<br />

2 Zur irrigen Auffassung von Brigitte Zypries, das Verständigungsgesetz<br />

lasse die Grundprinzipien des Verfahrens unberührt<br />

(BT-Plenarprotokoll 16/202 S. 21845), siehe die Richtigstellung<br />

bei Schünemann, ZRP 2009, 106.<br />

3 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 482.<br />

4 In Gestalt der (im RegE der U-Haftnovelle noch nicht enthaltenen,<br />

aber vom Rechtsausschuss eingefügten) Erweiterung<br />

der notwendigen Verteidigung auf den ersten Tag der<br />

Inhaftierung – eine unbeschadet dessen verdienstliche Leistung,<br />

dass womöglich die davon erwartete Abkürzung der<br />

Verfahrensdauer das letztlich ausschlaggebende Argument<br />

gespielt hat.<br />

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484<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

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vom Verletzten geführten Parteiverfahrens auf den staatlichen<br />

Strafprozess.<br />

3. Während die erstgenannte Entwicklung (Stärkung der<br />

Subjektstellung des Beschuldigten) lange Zeit in Gesetzgebung<br />

und Rechtsprechung erfolgreich war, dominiert in<br />

jüngster Zeit bei beiden, vor allem aber bei der Rechtsprechung,<br />

eine dezidierte „roll back-Strategie“. Die zweitgenannte<br />

Entwicklung (Anpassung an die Veränderung der<br />

Kriminalitätsformen) ist vom Gesetzgeber von Anfang bis<br />

Ende unter Dominanz der staatlichen Strafverfolgungsinteressen<br />

und völlig unzulänglicher Ausbalancierung durch<br />

Gegenrechte des Beschuldigten und der Verteidigung verfolgt<br />

worden, in der letzten Phase sogar ohne Rücksicht auf<br />

jegliche Verfahrensstruktur unter Verwandlung des deutschen<br />

Strafprozesses in ein molluskenhaftes Gebilde. Ähnliches gilt<br />

für die dritte Reformspur (Ausbau der Rechtsstellung des<br />

Verletzten), weshalb – unter Berücksichtigung des zunehmend<br />

flacheren Diskussionsniveaus in Regierung und Parlament –<br />

die Gesamtentwicklung geradezu als ein Paradigma des Niederganges<br />

der deutschen Rechtskultur begriffen werden<br />

muss. 5 Das möchte ich nunmehr in exemplarischer Form etwas<br />

näher ausführen.<br />

II. Der Ausbau der Beschuldigtenrechte und deren empfindliche<br />

Kupierung in der neueren Rechtsprechung<br />

1. Der Ausbau der Beschuldigtenrechte seit 1879 ist in dem<br />

Beitrag von Rieß mit Recht als eine besondere Leistung gewürdigt<br />

und mit vielen Beispielen belegt worden, so dass ich<br />

mich auf zwei ergänzende Bemerkungen beschränken kann.<br />

Die Entwicklung des erst später vom Gesetzgeber übernommenen<br />

Beweisantragsrechts in der Rechtsprechung des Reichsgerichts<br />

6 ist nicht nur in dogmatischer Hinsicht herausragend,<br />

sondern bietet auch in seinen Auswirkungen den bei weitem<br />

gewichtigsten Beitrag der Rechtsprechung zu einer echten<br />

5 Von dem Titel meiner Streitschrift über „Wetterzeichen<br />

vom Untergang der deutschen Rechtskultur“, 2005, habe ich<br />

deshalb nichts zurückzunehmen, denn der Niedergang ist ein<br />

Wetterzeichen vom Untergang, und wenn man die an den<br />

Grundsatzfragen vollständig vorbeilaufende Bundestagsdebatte<br />

zum Verständigungsgesetz liest (dazu Schünemann, ZRP 2009,<br />

104) oder die an zahllosen Stellen die Forderungen von Opferschutzverbänden<br />

ohne Rücksicht auf die daraus folgende<br />

und rechtsstaatlich nicht hinnehmbare Schwächung der Beschuldigtenrechte<br />

schlicht übernehmenden, gleich lautenden<br />

Gesetzesentwürfe von Bundesregierung und Regierungsfraktionen<br />

des 2. Opferrechtsreformgesetzes (BT-Drs. 16/12098<br />

und 12812), so lässt sich der auch im Beitrag von Rieß notierte<br />

Befund nicht leugnen, dass die Novellengesetzgebung<br />

inzwischen weithin ohne Kontakt mit den durch ihren <strong>Inhalt</strong><br />

aufgeworfenen Grundsatzfragen agiert.<br />

6 Dazu Engels, Die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2<br />

StPO, 1979, S. 24 ff.; Wißgott, Das Beweisantragsrecht im<br />

Strafverfahren, 1998, S. 81 ff.; Schatz, Das Beweisantragsrecht<br />

in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik,<br />

1999, S. 83 ff.<br />

Verfahrensbalance 7 in der Hauptverhandlung. Durch die<br />

Trias eines effizienten Beweisantragsrechts, des ursprünglich<br />

uneingeschränkten Rechts auf Vernehmung der von der Verteidigung<br />

geladenen und gestellten Zeugen und der richterlichen<br />

Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO war für die<br />

Hauptverhandlung ungeachtet der inquisitorischen Stellung<br />

des Gerichts ein „Eckstein der Verfahrensbalance“ geschaffen<br />

worden, der in seiner Genialität durchaus mit dem staatsrechtlichen<br />

Gewaltenteilungsgrundsatz verglichen werden<br />

kann. 8 Eine ähnlich großartige Leistung hat das BVerfG<br />

erbracht, indem es die den Gesetzgeber immer wieder überwältigende<br />

Versuchung, im Zuge des Erlasses von Gesetzen<br />

zur „Bekämpfung“ der organisierten Kriminalität oder des<br />

Terrorismus 9 in polizeistaatliche Methoden zurückzufallen,<br />

entschieden zurückgewiesen hat. Weil diese Judikatur und<br />

ihre Auswirkungen eine eigene Monographie, mindestens<br />

aber eine umfangreiche Abhandlung erfordern würden, 10<br />

kann ich darauf hier nicht näher eingehen und möchte mich<br />

deshalb auf den Zusatz beschränken, dass die vom BVerfG<br />

faute de mieux dekretierten Heilmittel (Verwertungs- oder<br />

gar Verwendungsverbote oder die Beschränkung der Anordnungskompetenz<br />

auf Richter, meistens den Ermittlungsrichter)<br />

zur Herstellung einer Verfahrensbalance nur eingeschränkt<br />

tauglich sind. Denn die Kontrolle durch den Ermittlungsrichter<br />

bringt die Sachbehandlung nicht aus dem durch<br />

Inquisitionsprinzip und innerbehördliche Kontakte bestimmten<br />

Umfeld heraus und hat sich deshalb als wenig wirkungsvoll<br />

erwiesen, 11 während Verwertungsverbote in ihrer psychologischen<br />

Wirkung schwer kontrollierbar sowie durch<br />

Surrogatermittlungen leicht ausmanövrierbar sind und schließlich<br />

Verwendungsverbote 12 in einem auf die Ermittlung der<br />

materiellen Wahrheit gerichteten Prozess im Grunde über das<br />

Ziel hinausschießen. Das vom BVerfG bei der Domestizierung<br />

der Zwangsmittel des Überwachungsstaates verwendete,<br />

quasi punktuelle Instrumentarium wird deshalb zukünftig<br />

bereits hier, erst recht aber bei der anschließend zu betrachtenden<br />

Auflösung der Hauptverhandlungsstruktur zu einer<br />

institutsumfassenden Perspektive erweitert werden müssen,<br />

7 Ich verstehe unter diesem Begriff das regulative Prinzip zur<br />

Sicherstellung des Rechts der Verteidigung, die Ermittlung<br />

der materiellen Wahrheit und der für den Beschuldigten sprechenden<br />

Gesichtspunkte auch gegen einen Missbrauch der<br />

inquisitorischen Stellung des Gerichts (namentlich des Vorsitzenden)<br />

durchzusetzen.<br />

8 Dazu näher Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26.<br />

Aufl. 2009, § 45 Rn. 6, 41.<br />

9 Ob darin nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in der<br />

Sache die von Günther Jakobs entwickelte Konzeption des<br />

Feindstrafrechts zu spüren ist, kann hier nicht weiter untersucht<br />

werden, würde das Ganze aber nicht besser machen, im<br />

Gegenteil.<br />

10 Die ausführliche Darstellung von Niemöller/Schuppert, AöR<br />

107 (1982), 387 liegt schon lange zurück.<br />

11 Dazu näher Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 9 Rn. 26, § 29<br />

Rn. 25.<br />

12 Zu dieser Unterscheidung näher Roxin/Schünemann (Fn. 8),<br />

§ 24 Rn. 21 f. und 63 f.<br />

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Bernd Schünemann<br />

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wenn das BVerfG seine von ihm ersichtlich ernst genommene<br />

Aufgabe zur Wahrung des Rechtsstaatsprinzips im Strafverfahren<br />

effektiv erfüllen will.<br />

2. Das im Beitrag von Rieß gezeichnete Bild der kontinuierlichen<br />

Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten<br />

bleibt freilich unvollständig, wenn man die neuere Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichtshofes außer Acht lässt, die<br />

häufig ohne Anhalt im Gesetz, teilweise unter Aufgabe einer<br />

anders lautenden ständigen, Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert<br />

alten Rechtsprechung die Rechtsposition des Beschuldigten<br />

geschwächt oder mit Hilfe von Fußangeln, denen der<br />

Beschuldigte schon gar nicht und selbst sein Verteidiger nur<br />

manchmal auszuweichen vermag, praktisch teils mehr, teils<br />

weniger entwertet hat. Zwar wäre es übertrieben, von einer<br />

exklusiven Tendenz des BGH in diese Richtung zu sprechen,<br />

denn es finden sich immer wieder auch Urteile, die dem Beschuldigten<br />

in der Vergangenheit verweigerte Rechte nunmehr<br />

zuerkennen. 13 Per Saldo überwiegt aber deutlich die<br />

Einschränkung und Entwertung, die sich in dreifacher Intensität<br />

vollziehen kann: entweder, indem ein die Verfahrensbalance<br />

verletzendes Fehlverhalten der Strafverfolgungsorgane<br />

nur mit wenig effektiven Rechtsfolgen belegt wird („Abschwächung“);<br />

oder, indem die Rechte des Beschuldigten<br />

zwar nicht beseitigt, aber mit so gravierenden und komplizierten<br />

Obliegenheiten verknüpft werden, dass ihre Ausübung<br />

in zahlreichen Fällen scheitern muss („Aushöhlung“); oder<br />

schließlich, indem ein in der früheren Rechtsprechung anerkanntes<br />

Recht beseitigt wird („Abschaffung“).<br />

a) Das Patentrezept des BGH für die Abschwächung von<br />

Kautelen heißt „Strafzumessungslösung“. Sie wird bei so<br />

unterschiedlichen Konstellationen wie überlanger Verfahrensdauer,<br />

unzulässiger Tatprovokation oder (hier freilich<br />

innerhalb des BGH umstritten) fehlender Benachrichtigung<br />

des für einen ausländischen Beschuldigten zuständigen Konsulats<br />

angewendet. 14 Eine die einzelnen Anwendungsfälle<br />

analysierende Kritik kann hier naturgemäß nicht ausgeführt,<br />

doch kann das Gesamturteil gewagt werden, dass die Strafzumessungslösung<br />

in der Rechtsprechung stark überstrapaziert<br />

wird. Warum die unterlassene Benachrichtigung eines<br />

Konsulats in einem sei es an der Tatschuld, sei es an Präventionsbedürfnissen<br />

orientierten Strafrecht zu einer Strafmilderung<br />

führen soll, ist nicht recht nachvollziehbar. Und bei der<br />

unzulässigen Tatprovokation verbrämt die Strafzumessungslösung<br />

nur die Rechtsstaatswidrigkeit des ganzen Instituts,<br />

bei dem der Staat Straftaten hervorruft, um sie zu bestrafen,<br />

und damit geradezu „idealtypisch“ die rechtsstaatlich unerträgliche<br />

These des Feindstrafrechts realisiert, selbst mit einem<br />

nur vermuteten Feind dürfe der Staat alles machen, was ihm<br />

zweckmäßig erscheine.<br />

13 Nachweise bei Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 3 Rn. 16 f.<br />

14 Nachweise zur Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer<br />

bei Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 16 Rn. 9 ff., zur<br />

Tatprovokation § 37 Rn. 7, zur Nichtanrufung eines Konsulats<br />

§ 24 Rn. 35. In diesen Zusammenhang gehört prinzipiell auch<br />

die Rechtsprechung des BGH zur Abschwächung von Beweisverboten,<br />

vgl. die Kategorienbildung bei Roxin/Schünemann<br />

(Fn. 8), § 24 Rn. 30.<br />

b) Der bemerkenswerte Erfindungsreichtum des BGH bei<br />

der Aushöhlung von Verfahrensrechten ist bereits im Beitrag<br />

von Rieß angesprochen worden, nämlich unter der nicht unzutreffenden,<br />

aber etwas verharmlosenden Qualifikation als<br />

Begründung einer „Mitverantwortung der Verteidigung für<br />

das Verfahren“ 15 . Ich nenne exemplarisch die sog. Widerspruchslösung,<br />

wonach eine bis heute nicht intensional definierte<br />

oder extensional umrissene Zahl von Verfahrensfehlern<br />

folgenlos bleiben soll, wenn die Verteidigung der Verwertung<br />

des fehlerhaften Beweismittels in der Hauptverhandlung<br />

nicht ausdrücklich und unter Angabe von Gründen widersprochen<br />

hat. 16 Als nächstes die Einschränkung des Beweisantragsrechts<br />

durch die Forderung einer sog. Konnexität,<br />

deren Begriff mir bis heute nicht recht verständlich geworden<br />

ist und die unter anderem als Vehikel zur Begründung der<br />

vom Gesetz gerade nicht geforderten Obliegenheit dient, dass<br />

der Antragsteller eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür<br />

substantiiert, dass die von ihm begehrte Beweiserhebung<br />

auch das von ihm benannte Ergebnis haben wird. 17 Als letztes<br />

Beispiel möchte ich die Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2<br />

StPO anführen, wonach eine zulässig erhobene Verfahrensrüge<br />

auch sämtliche sog. Negativtatsachen vortragen muss,<br />

also dass es nicht etwa irgendwelche Vorkommnisse gegeben<br />

habe, durch die der an sich vorgekommene und gerügte Verfahrensfehler<br />

wieder geheilt wurde. 18 Die Rechtsprechung zur<br />

Widerspruchslösung setzt damit die alte Judikatur zur Verwirkung<br />

von Verfahrensrügen bei Nichtanrufung des Gerichts<br />

gem. § 238 Abs. 2 StPO fort und ist folglich den gleichen<br />

Einwänden ausgesetzt; außerdem verteilt sie damit die<br />

Verantwortung für Verfahrensfehler krass anders, als es der<br />

Strafprozessordnung entspricht: Selbstverständlich trägt das<br />

erkennende Gericht die Verantwortung dafür, Verfahrensfehler<br />

zu vermeiden und sein Urteil nicht auf unverwertbare<br />

Beweise zu gründen; und nach ihm ist der Staatsanwalt als<br />

„Wächter des Gesetzes“ damit beauftragt. 19 Wenn der Verteidiger<br />

in fairer Weise einbezogen werden sollte, stünde es<br />

dem Vorsitzenden ja frei, ihn nach seinem Einverständnis zu<br />

befragen, so wie dies seit alters her etwa in der Formel „Der<br />

Zeuge wurde in allseitigem Einverständnis entlassen“ prakti-<br />

15 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 474.<br />

16 Nachweise zur Rechtsprechung zur Widerspruchslösung<br />

bei Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 11 Rn. 11, § 24 Rn. 34 ff.,<br />

43; § 44 Rn. 18.<br />

17 Dazu die Nachweise bei Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 45<br />

Rn. 10.<br />

18 Nachweise bei Roxin/Schünemann (Fn. 8), Strafverfahrensrecht,<br />

§ 55 Rn. 47.<br />

19 Zwar ist durch die Forschungen von Collin („Wächter des<br />

Gesetzes“ oder „Organ der Staatsregierung“, 2000) mittlerweile<br />

aufgeklärt worden, dass dieses berühmte Zitat aus dem<br />

Promemoria von Savigny durchaus keinen so dezidiert rechtsstaatlichen<br />

Hintergrund hatte, wie es wirkt, denn die Einführung<br />

der Staatsanwaltschaft sollte dem preußischen König<br />

vor allem einen Einfluss auf die Rechtsprechung der als unzuverlässig<br />

eingeschätzten Gerichte sichern. An der heutigen<br />

Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft als auf Recht und Gesetz<br />

verpflichtete Justizbehörde ändert das aber nichts.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

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ziert wurde. Durch die Rechtsprechung zur Widerspruchslösung<br />

wird das Gericht dagegen geradezu motiviert, auf die<br />

Unachtsamkeit der Verteidigung zu spekulieren, was in einem<br />

fairen Strafverfahren nicht rechtens sein kann. Die Forderung<br />

der Konnexität läuft darauf hinaus, über die gesetzlichen<br />

Voraussetzungen eines zulässigen und begründeten<br />

Beweisantrages hinaus dessen weitere Plausibilisierung quasi<br />

nach dem Muster einer Miniatur-Aufklärungsrüge zu verlangen,<br />

was allenfalls dem Gesetzgeber zustünde. Auch die<br />

Forderung des Vortrags von Negativtatsachen bei der Verfahrensrüge<br />

ist mit dem Gesetzeswortlaut nicht zu vereinbaren,<br />

weil § 344 Abs. 2 StPO nun eben nur den Vortrag der den<br />

Mangel begründenden, nicht aber der Nichtexistenz etwaiger<br />

den Mangel heilender Tatsachen verlangt und weil der spezifische<br />

Aufbau des Revisionsverfahrens mit einer hier ausnahmsweise<br />

vom Gesetz anerkannten Gegenpartei (§ 347<br />

StPO) direkt darauf verweist, dass etwa zu Unrecht in der<br />

Revisionsbegründung übergangene Tatsachen vom Revisionsgegner<br />

vorzutragen sind – von den jeder Praktikabilität<br />

des Revisionsverfahrens Hohn sprechenden Konsequenz der<br />

BGH-Judikatur ganz abgesehen, dass der Revisionsführer<br />

gezwungen wird, eine im vorhinein gar nicht exakt kalkulierbare<br />

Anzahl von Negativtatsachen vorzutragen und damit die<br />

Revisionsbegründung unsinnig aufzublähen.<br />

Die über die einzelne Konstellation hinausweisende Bedeutung<br />

dieser Aushöhlungs-Judikatur liegt darin, dass sie<br />

die gesetzlichen Möglichkeiten zur Kontrolle des Tatrichters<br />

enorm abgeschwächt hat, obwohl allein hierin angesichts der<br />

inquisitorischen Struktur der Hauptverhandlung und der starken<br />

Vorbeeinflussung der berufsrichterlichen Mitglieder des<br />

erkennenden Gerichts durch die Kenntnis der Ermittlungsakten<br />

und den vorangegangenen Eröffnungsbeschluss nicht nur<br />

eine faire Ausbalancierung, sondern auch eine hinreichende<br />

Garantie für die Wahrheitsfindung gefunden werden kann.<br />

Wie es der mir vielfältig bezeugten Berufserfahrung der Verteidiger<br />

entspricht und in einer Reihe von mir durchgeführter<br />

Experimente eindrucksvoll bestätigt wurde, 20 wird beim<br />

Richter durch die Lektüre der Ermittlungsakten und die Fassung<br />

des Eröffnungsbeschlusses der in der Sozialpsychologie<br />

sog. Inertia- oder Urteilsperseveranz-Effekt ausgelöst, kraft<br />

dessen die in der Hauptverhandlung erhobenen Informationen<br />

systematisch in Richtung auf den Akteninhalt verzerrt verarbeitet<br />

werden. Und dieser Akteninhalt ist wiederum in doppelter<br />

Weise zu Lasten des Beschuldigten verzerrt (in der<br />

Sprache der Informationstheorie weist er einen „bias“ auf),<br />

weil er meistens vollständig, zumindest aber zum allergrößten<br />

Teil von den Strafverfolgungsbehörden beschickt und<br />

gestaltet worden ist und weil die polizeilichen Vernehmungsprotokolle,<br />

die (von Wirtschaftsstraftaten abgesehen) den<br />

zentralen oder sogar alleinigen Aktenbestandteil bilden, nach<br />

gesicherter empirischer Erkenntnis nicht wie eine Fotografie<br />

das wirkliche Erinnerungsbild des Zeugen wiedergeben,<br />

sondern ein Interaktionsprodukt des Zeugen und des Ermittlungsbeamten<br />

darstellen und deshalb inhaltlich stark von den<br />

Ermittlungshypothesen des Vernehmungsbeamten beeinflusst<br />

20 Dazu näher Schünemann, StV 2000, 159 ff.<br />

werden. 21 Eine Hauptverhandlung, in der die Verteidigung<br />

nicht durch eine sachgemäße Wahrnehmung ihrer Rechte<br />

diesen nach der deutschen Verfahrensstruktur unvermeidbaren<br />

Urteilsperseveranz-Effekt zu kompensieren vermag, kann<br />

deshalb per definitionem nicht den Anspruch erheben, die<br />

materielle Wahrheit zu finden, und verfehlt deshalb das fundamentale<br />

Ziel jedes rechtsstaatlichen Strafverfahrens. 22 Es<br />

mag verständlich sein, dass die vielfach überlasteten Richter<br />

der Strafsenate des Bundesgerichtshofes bei der Entwicklung<br />

der Aushöhlungs-Rechtsprechung für eine Beschäftigung mit<br />

solchen Fragen keine Zeit hatten, aber das gilt nicht für das<br />

Bundesjustizministerium bei der Vorbereitung der Novellengesetzgebung,<br />

durch die der Urteilsperseveranz-Effekt nämlich<br />

ganz wesentlich verstärkt worden ist: Während die<br />

Schöpfer der Reichsstrafprozessordnung in genialer Antizipation<br />

dieses damals noch nicht wissenschaftlich erforschten<br />

Effekts angeordnet hatten, dass das Gericht der Hauptverhandlung<br />

nicht mit dem Eröffnungsgericht identisch sein und<br />

insbesondere der Berichterstatter des Zwischenverfahrens<br />

nicht an der Hauptverhandlung mitwirken dürfe, 23 hat die im<br />

Beitrag von Rieß dargestellte, aus den (vorgeschützten)<br />

Engpässen der Wiedervereinigung geborene, dann aber permanent<br />

verlängerte Reduzierung der berufsrichterlichen Strafkammerbesetzung<br />

auf zwei in der Großen Strafkammer und<br />

einen in der Berufungsstrafkammer in der Hauptverhandlung<br />

keinen vom Inertia-Effekt freien Richter mehr übrig gelassen.<br />

c) Als Beispiel für die Abschaffung von Rechten durch die<br />

neuere Rechtsprechung des BGH ist bereits im Beitrag von<br />

Rieß die Entscheidung des Großen Senats zur Aufhebung des<br />

in § 274 StPO eigentlich deutlich ausgesprochenen und seit<br />

RGSt 2, 76 auch in der Rechtsprechung anerkannten sog.<br />

Verbots der Rügeverkümmerung 24 angeführt worden. Dass<br />

diese Entscheidung unrichtig, vielleicht sogar verfassungswidrig<br />

25 ist, entspricht der h.L. und ist auch von mir schon<br />

21 Dazu Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen<br />

der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung auf der Grundlage<br />

empirischer Untersuchungen, 1984; Gundlach, Die Vernehmung<br />

des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, 1984;<br />

Banscherus, Polizeiliche Vernehmung. Formen, Verhalten,<br />

Protokollierung, 1977. Zur psychologischen Überforderung<br />

der Polizei, wenn sie bei dem Versuch, den Hauptverdächtigen<br />

zu überführen, gleichermaßen die Entlastungsgesichtspunkte<br />

zur Geltung bringen soll, siehe Schünemann, Kriminalistik<br />

1999, 74 (148 f.).<br />

22 Näher Schünemann, in: Weßlau u.a. (Hrsg.), Festschrift für<br />

Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag, 2008, S. 555; ders., in:<br />

Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins<br />

(Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat – 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft<br />

Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins,<br />

S. 827.<br />

23 Vgl. dazu wie auch zur Reduzierung dieser Garantie durch<br />

die Emmingersche Notverordnung Schünemann, ZStW 114<br />

(2002), 1 (10) Fn. 39.<br />

24 BGHSt 51, 298.<br />

25 Anders mit knapper Mehrheit das BVerfG in NJW 2009,<br />

1469.<br />

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Bernd Schünemann<br />

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anderweitig begründet worden. 26 An dieser Stelle will ich nur<br />

auf das doppelte Missverhältnis hinweisen, welches sich daraus<br />

ergibt, dass die absolute Beweiskraft des Protokolls in<br />

den meisten Fällen ja gegen den Revisionsführer ausschlägt<br />

und dass der BGH, wie bereits erwähnt, an die Ausführung<br />

der Verfahrensrüge rigideste Anforderungen stellt und keine<br />

Nachbesserungen zulässt, während er sie dem Richter gewährt.<br />

III. Die Degradierung des Beschuldigten zum Verfahrensobjekt<br />

durch die Vergeheimdienstlichung des Ermittlungsverfahrens<br />

und den dramatischen Ausbau der<br />

Grundrechtseingriffe<br />

1. Die enormen, geradezu auf mehrere Quantensprünge hinauslaufenden<br />

Veränderungen des Ermittlungsverfahrens<br />

gegenüber der Reichsstrafprozessordnung sind im Beitrag<br />

von Rieß in äußerst instruktiver Verdichtung beschrieben<br />

worden. Sie lassen sich in drei verschiedene Rubriken einordnen,<br />

in die Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens,<br />

in dessen Vergeheimdienstlichung und in die kontinuierliche<br />

Vermehrung der Grundrechtseingriffe, namentlich (und sich<br />

insoweit mit der zweiten Rubrik überschneidend) durch die<br />

Ausnutzung elektronischer Ausforschungs- und Überwachungsmethoden.<br />

2. Die Verpolizeilichung hat sich vor allem in der Verfahrenswirklichkeit<br />

vollzogen und scheint auf den ersten Blick<br />

die am wenigsten gravierende, mehr technische Veränderung<br />

zu sein, 27 weshalb die Eigenleistung des Gesetzgebers auf<br />

diesem Gebiet vor allem in der (offenbar feminolinguistischen<br />

Erwägungen zu verdankenden) Umbenennung von<br />

„Hilfsbeamten“ in „Ermittlungspersonen“ besteht. Aber so<br />

einfach liegen die Dinge nicht, denn die Verpolizeilichung<br />

des Ermittlungsverfahrens bedeutet wegen der weitgehenden<br />

Verschmelzung von operativ-präventiver und repressiver<br />

polizeilicher Tätigkeit eine (weitere) Schwächung der Verteidigung<br />

im Ermittlungsverfahren, die sich durch den Zuwachs<br />

der den Inertia-Effekt auslösenden polizeilichen Vernehmungsprotokolle<br />

bis in die gerichtliche Phase hinaus auswirkt.<br />

Zwar hat der Gesetzgeber versucht, den Beweistransfer<br />

aus anderen polizeilichen Verfahren nach dem Prinzip des<br />

hypothetischen Ersatzeingriffs rechtsstaatlich einzugrenzen. 28<br />

Aber das ändert nichts daran, dass die Polizei das Monopol<br />

der Selektion besitzt, deren Ausübung selbst bei strengster<br />

Objektivität des Ermittlungsbeamten den Beschuldigten von<br />

solchen Informationen ausschließt, deren entlastende Bedeutung<br />

möglicherweise nur er selbst erkennen kann. Ferner<br />

sprechen gute Gründe dafür, dass der durch ohne Mitwirkung<br />

der Verteidigung aufgenommene Vernehmungsprotokolle<br />

ausgelöste „bias“ bei Polizeiprotokollen relativ stärker als bei<br />

staatsanwaltschaftlichen Protokollen ist, weil die Polizei in<br />

der von ihr beherrschten Phase des Ermittlungsverfahrens zur<br />

26 In GA 2008, 314, 319 f.; Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 51<br />

Rn. 11.<br />

27 Dazu im einzelnen Schünemann, Kriminalistik 1999, 74, 146.<br />

28 Siehe die §§ 161 Abs. 2 S. 1, 477 Abs. 2 S. 2 und zu den<br />

verbleibenden Problemen Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 24<br />

Rn. 18, 27 und § 39 Rn. 23.<br />

Bildung von Tatablaufs- und Detailhypothesen schon deshalb<br />

gezwungen ist, weil allein auf diesem Wege ein optimaler<br />

Ressourceneinsatz ermöglicht wird. Die zunehmende Beherrschung<br />

des Ermittlungsverfahrens durch die Polizei hätte<br />

deshalb den Gesetzgeber veranlassen müssen, zum Ausgleich<br />

auch die Kontrollposition der Verteidigung im Ermittlungsverfahren<br />

zu verstärken. Derartige Überlegungen sind unter<br />

der Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin tatsächlich angestellt<br />

worden, 29 unter ihrer Nachfolgerin aber leider in der<br />

Versenkung verschwunden.<br />

3. Die Vergeheimdienstlichung des Ermittlungsverfahrens<br />

mit dem Lockspitzel, dem großen Lauschangriff und der<br />

Online-Durchsuchung von Computern als Speerspitzen 30 hat<br />

nicht nur zu einer gewissermaßen ordinären Steigerung der<br />

Ohnmacht des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren geführt,<br />

sondern bedeutet auch in manchen Einzelmaßnahmen<br />

und erst recht in der Gesamtheit seine erneute Degradierung<br />

zum bloßen Objekt des Strafverfahrens, was bekanntlich den<br />

fundamentalen Vorwurf gegen den alten Inquisitionsprozess<br />

ausgemacht hat. Natürlich kann die Prozesssubjektstellung<br />

des Beschuldigten nicht bedeuten, dass seine Persönlichkeitssphäre<br />

mit der Konsequenz der Erfolglosigkeit zahlreicher<br />

Ermittlungsverfahren sakrosankt ist. Aber durch die in der<br />

Rechtsprechung von BVerfG und BGH verwendete Formel<br />

vom „unantastbaren Kernbereich der Person“ 31 ist im Prinzip<br />

ein Bereich anerkannt, in dem eine unerträgliche Degradierung<br />

des Beschuldigten zum bloßen Verfahrensobjekt vorliegt.<br />

Und man kann durchaus noch einen Schritt weitergehen<br />

und in systematischer Hinsicht die gesamte Benutzung des<br />

Beschuldigten als eines bloßen Augenscheinsobjekts als eine<br />

Degradierung zum Objekt qualifizieren, die dann und nur<br />

dann (von den erwähnten Ausnahmefällen abgesehen) als<br />

passageres Phänomen rechtsstaatlich hinnehmbar ist, wenn<br />

innerhalb der Maßnahme die Subjektstellung des Beschuldigten<br />

durch Ersatzmaßnahmen aufrecht erhalten und der Beschuldigte<br />

auf diese Weise nicht „nur“ als Objekt betrachtet<br />

und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt wird.<br />

Der Gesetzgeber und auch das BVerfG haben dagegen einen<br />

Schutz des Beschuldigten bisher nur in zweifacher Weise in<br />

Erwägung gezogen, nämlich durch eine quasi materiellrechtliche<br />

Beschränkung der Anordnungsvoraussetzungen und<br />

durch einen Richtervorbehalt für die Anordnung der Maßnahme.<br />

Aber von der bereits erwähnten Unzulänglichkeit der<br />

ermittlungsrichterlichen Kontrolle ganz abgesehen, trägt der<br />

29 Es kam sogar zu von der Bundesregierung beschlossenen<br />

„Eckpunkten“, siehe dazu Schünemann, ZStW 114 (2002) 1,<br />

(38 ff.); ders., StraFo 2004, 293 (294).<br />

30 Wobei die Online-Durchsuchung von Computern noch<br />

nicht in die StPO aufgenommen worden ist, so dass die Ergebnisse<br />

einer nach § 20k BKAG durchgeführten Online-<br />

Durchsuchung wegen § 161 Abs. 2 StPO im Strafverfahren<br />

nicht direkt verwertet, sondern nur nach dem Spurenansatz zu<br />

weiteren Ermittlungen führen können (s. BVerfG NJW 2005,<br />

2766; Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 117; Roxin/Schünemann<br />

[Fn. 8], § 39 Rn. 23).<br />

31 Vgl. BVerfGE 109, 279; 113, 348; BGHSt 50, 206 (Selbstgesprächsfall).<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

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Richtervorbehalt nicht zur Wiederherstellung der Subjektstellung<br />

des Beschuldigten bei. Es muss deshalb nach adäquaten<br />

Aushilfsmaßnahmen gesucht werden, die in einer Kompensation<br />

der gerade durch die geheimdienstlichen Maßnahmen<br />

erzeugten Unmündigkeit des ausspionierten Beschuldigten<br />

bestehen müssen. Eine derartige quasi organische Kompensation<br />

ist besonders dann unverzichtbar, wenn es später zu einer<br />

Aburteilung ohne echte Hauptverhandlung und damit ohne<br />

die nur in ihr besonders ausgeprägte Respektierung der Subjektstellung<br />

des Beschuldigten kommt. Ich werde deshalb auf<br />

die geeigneten Abhilfemaßnahmen zurückkommen, nachdem<br />

ich die Zurückdrängung, Aushöhlung und weitgehende praktische<br />

Abschaffung der Hauptverhandlung durch die Entwicklung<br />

der letzten Jahrzehnte behandelt habe. Um die vom<br />

Gesetzgeber verabsäumten Kompensationen für die Vergeheimdienstlichung<br />

des Ermittlungsverfahrens und die Eskalation<br />

der Grundrechtseingriffe im Zusammenhang darzustellen,<br />

werde ich dann auch auf den zweiten, selbständigen<br />

Komplex von Versäumnissen eingehen, die sich der Gesetzgeber<br />

bei dem einseitig die Strafverfolgung begünstigenden<br />

Umbau des Ermittlungsverfahrens hat zu Schulden kommen<br />

lassen: nämlich den Einsatz der modernen Kontrolltechnologien,<br />

die den Verfolgungsbehörden regelmäßig pünktlich<br />

nach ihrer technischen Verfügbarkeit auch rechtlich zur Verfügung<br />

gestellt wurden (mit der gegenwärtig noch existierenden<br />

Ausnahme der Online-Durchsuchung von Computern),<br />

auch zur Vermeidung unnötiger Belastungen des Beschuldigten.<br />

Ohne diesen zweiten Schritt, der bis heute mit allerlei<br />

Finten vermieden wurde, muss der Umbau des Ermittlungsverfahrens<br />

schlicht als reine Missachtung des fair trial qualifiziert<br />

werden.<br />

IV. Die gesetzlichen Maßnahmen zur Entwertung, Aushöhlung<br />

und weitgehenden Abschaffung der Hauptverhandlung<br />

nach dem Konzept der RStPO<br />

1. a) Wie schon eingangs erwähnt, bestand das zentrale<br />

Strukturprinzip der Reichsstrafprozessordnung als Ergebnis<br />

der übrigens auch in rechtsvergleichender Hinsicht maßstabbildenden<br />

strafprozesswissenschaftlichen Diskussion des 19.<br />

Jahrhunderts und auf der Basis des Verfahrensziels der materiellen<br />

Wahrheitsfindung in der Ausgestaltung der öffentlichmündlich-unmittelbaren<br />

Hauptverhandlung vor einem inquisitorisch<br />

tätigen Gericht unter waffengleicher Mitwirkung<br />

und Kontrolle durch Verteidigung und Staatsanwaltschaft.<br />

Dass diese quasi dialektische Überwindung und Verbindung<br />

des alten Inquisitionsverfahrens und des angloamerikanischen<br />

Parteiprozesses eine geniale Intuition bedeutete, zeigen die<br />

modernen Erkenntnisse der Informationspsychologie. Denn<br />

sowohl das inquisitorische als auch das adversatorische Modell<br />

der Wahrheitsfindung beschreiben notwendige, aber für<br />

sich allein nicht hinreichende Bedingungen dafür, dass man<br />

den am Ende der Verhandlung vom Richter für feststehend<br />

erklärten Sachverhalt als materielle Wahrheit bezeichnen<br />

darf: Außerhalb der mit den exakten Methoden der empirischen<br />

Naturwissenschaften gewonnenen Erkenntnis, die aber<br />

als Voraussetzung eines Strafurteils nur in seltenen Fällen<br />

ausreicht und zumeist nur Teilaspekte des für die Subsumtion<br />

benötigten historischen Sachverhalts abdeckt, kann man nur<br />

unter der Voraussetzung von der Ermittlung der materiellen<br />

Wahrheit in einem pragmatisch-gesellschaftlichen Sinn sprechen,<br />

dass alle verfügbaren Erkenntnismittel ausgeschöpft<br />

worden sind 32 und dass die über das Ergebnis entscheidende<br />

Instanz nicht aufgrund eines zuvor begründeten „Bias“ einer<br />

tendenziell einseitigen Informationsverarbeitung erliegt. 33<br />

Indem nun die RStPO einerseits durch die inquisitorische<br />

Stellung des Richters und die ihn treffende Aufklärungspflicht<br />

und andererseits durch die Mitwirkungsrechte von<br />

Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem/Verteidigung eine<br />

optimale Garantie dafür zu schaffen versuchte, dass alle relevanten<br />

Gesichtspunkte zur Sprache kämen und alle eventuell<br />

relevanten Beweismittel erhoben würden, wurde die erstgenannte<br />

Bedingung der Wahrheitsfindung optimal verwirklicht;<br />

und indem gegen den Inertia-Effekt bereits auf der<br />

Ebene der Gerichtsbesetzung eine gewisse Vorsorge getroffen<br />

und durch die Waffengleichheit in der Hauptverhandlung<br />

eine Kompensation gesucht wurde, war jedenfalls im Ansatz<br />

eine Kompromisslösung entwickelt worden, die die Ermittlung<br />

der materiellen Wahrheit so weitgehend wie möglich<br />

sicherstellte. Manipulationen zugunsten oder zuungunsten<br />

des Angeklagten sollte durch das Öffentlichkeitsprinzip vorgebeugt<br />

werden; und die Prinzipien der Mündlichkeit und<br />

Unmittelbarkeit sollten dagegen schützen, dass wichtige<br />

Entscheidungsparameter außerhalb der Hauptverhandlung und<br />

damit außerhalb der Einwirkungs- und Kontrollkompetenz<br />

der Verfahrensbeteiligten blieben. Schließlich sollte die Konzentrationsmaxime<br />

sicherstellen, dass das Urteil wirklich auf<br />

dem unmittelbaren Eindruck der Hauptverhandlung beruhte<br />

und nicht (wegen der anderenfalls notwendig insuffizienten<br />

Gedächtnisleistung des Gerichts) letztlich doch auf die Ermittlungsakten<br />

oder auf apokryphe, den Prozessbeteiligten<br />

nicht zur Kontrolle zugängliche interne Notizen der Richter<br />

gestützt würde.<br />

b) Freilich stieß dieses Modell insoweit an die Grenzen<br />

seiner Realisierbarkeit, wie die sog. Monsterprozesse (heute<br />

im Justizjargon „Umfangsverfahren“), die im Prinzip auch<br />

dem 19. Jahrhundert (in Gestalt der sog. Polenprozesse oder<br />

komplizierter Konkursstrafverfahren) und erst recht den 20er<br />

Jahren des 20. Jahrhunderts nicht völlig fremd gewesen waren,<br />

jedenfalls im Wirtschaftsstrafrecht den Alltag der Strafjustiz<br />

zu prägen begannen. Es war also eine Reaktion auf die<br />

Veränderung des materiellen Strafrechts und die gesellschaftlichen<br />

Veränderungen im Bereich des abweichenden Verhaltens,<br />

die den Gesetzgeber in der im Beitrag von Rieß dargestellten<br />

„reaktiven Politik“ nach und nach zu Eingriffen in<br />

32 Auf eine ausführliche Rechtfertigung dieses sozialen Begriffs<br />

der materiellen Wahrheit muss an dieser Stelle ebenso<br />

verzichtet werden wie auf eine Präzisierung seines Verhältnisses<br />

zur sog. Konsensustheorie der Wahrheit von Habermas;<br />

zu der Unfähigkeit des amerikanischen Modells, dieses<br />

Erfordernis zu erfüllen, siehe Schünemann (Fn. 22), DAV,<br />

S. 555.<br />

33 Hier liegt die Stärke des amerikanischen Strafverfahrens<br />

(siehe Fn. 32) gegenüber dem deutschen Modell, das von<br />

seiner Struktur zunächst einmal den Inertia-Effekt einkalkulieren<br />

und nach dessen Kompensation suchen muss.<br />

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Bernd Schünemann<br />

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das Hauptverhandlungsmodell der RStPO bewogen hat, wobei<br />

man abermals eine Trias von Abschwächung, Aushöhlung<br />

und Abschaffung der tragenden Prinzipien unterscheiden<br />

kann.<br />

2. Die Abschwächungen beim Unmittelbarkeits- und damit<br />

eng verbundenen Mündlichkeitsprinzip sind im Beitrag<br />

von Rieß dargestellt und dahin gewürdigt worden, „dass der<br />

Gesetzgeber weitgehend an der durch die traditionellen Prozessmaximen<br />

geprägten Struktur des Verfahrens äußerlich<br />

festhält, sie aber in ihrer Bedeutung in Frage stellt oder aushöhlt.“<br />

34 Schon diese Abschwächung, erst recht aber die „im<br />

Schrifttum mit diskussionswürdigen Gründen [empfohlene]<br />

Aufgabe“ 35 , stellt aber natürlich gebieterisch die Frage, was<br />

denn gleichzeitig als Kompensation für die damit verbundene<br />

Abschwächung der Wahrheitsfindungsgarantien und der<br />

Rechtsstellung der Verteidigung (die ja nur in der Hauptverhandlung<br />

Waffengleichheit besitzt) angeboten werden kann.<br />

Der Gesetzgeber hat dieses Problem teilweise erkannt wie<br />

etwa bei der Ersetzung einer Zeugenvernehmung durch die<br />

Vorführung der Videoaufzeichnung einer früheren richterlichen<br />

Vernehmung, die nur zulässig ist, wenn sowohl der<br />

Angeklagte als auch sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an<br />

der Vernehmung mitzuwirken (§ 255a Abs. 2 S. 1 StPO a.E.).<br />

Von einer systematischen Kompensation ist die Novellengesetzgebung<br />

aber weit entfernt, und in der durch das 1. JuMoG<br />

eingeführten Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO sind<br />

nunmehr auch Protokolle und schriftliche Erklärungen der<br />

Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen für<br />

verlesbar erklärt worden – eine Regelung, die das Reichsgericht<br />

bereits in einer seiner frühesten Entscheidungen verworfen<br />

hatte (RGSt 2, 301), die die Gefahr der suggestiven Beeinflussung<br />

der Schöffen durch die Verlesung von Ermittlungsberichten<br />

der Strafverfolgungsbehörden ignoriert und<br />

eine klare Verletzung des in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierten<br />

sog. Konfrontationsrechts darstellt. 36<br />

3. Bei der Konzentrationsmaxime ist das Stadium der Abschwächung<br />

weit überschritten und zumindest das Stadium<br />

der Aushöhlung erreicht. Auch Rieß spricht davon, dass es<br />

sich „[nicht mehr vertreten lässt,] dass die durch § 229 StPO<br />

in seiner gegenwärtigen Fassung ermöglichten Zeiträume für<br />

die Hauptverhandlungsunterbrechung noch mit der Konzentrationsmaxime<br />

gerechtfertigt werden könne, die diese Bestimmung<br />

legitimiert“ 37 . Ich pflichte dieser Feststellung vollständig<br />

bei und meine, dass man nach einer sorgfältigen Lektüre<br />

des § 229 StPO um folgende Bewertung nicht herum<br />

kommt: „In ihrer Gesamtheit steht die Unterbrechensregelung<br />

des § 229 StPO deshalb angesichts der begrenzten Reproduktionsfähigkeit<br />

des menschlichen Gedächtnisses und der fehlenden<br />

Dokumentation der Beweisaufnahme in einem unauflösbaren<br />

Widerspruch zu § 261 StPO, der die Gründung des<br />

Urteils auf den Inbegriff der Verhandlung fordert, und verletzt<br />

damit das Rechtsstaatsprinzip der Art. 20, 28 GG sowohl<br />

in Gestalt des fair trial als auch in Gestalt des Gebots<br />

34 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 477.<br />

35 So Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 477 f. m.w.N.<br />

36 Siehe Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 46 Rn. 24.<br />

37 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 477.<br />

der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, weil durch<br />

innerlich widersprüchliche Regelungen keine einzige Rechtspflegefunktion<br />

erreicht werden kann“. 38<br />

4. Das extreme Stadium der Abschaffung der Hauptverhandlung<br />

im Sinne der RStPO als Entscheidungszentrum des<br />

Strafverfahrens ist schließlich durch die Urteilsabsprachen<br />

erreicht worden, die Jahrzehnte lang contra legem praktiziert<br />

und am Ende der letzten Legislaturperiode durch das Verständigungsgesetz<br />

vordergründig legalisiert worden sind.<br />

Obwohl insoweit im Beitrag von Rieß zu der Entwicklung<br />

der Strafverfahrenswirklichkeit und der Gesetzgebung in<br />

Gestalt des Verständigungsgesetzes durchaus reservierte und<br />

(moderat) kritische Töne anklingen, scheiden sich bei der<br />

verfahrensstrukturellen und rechtspolitischen Beurteilung<br />

unsere Geister in fast allen Punkten.<br />

a) Die Etablierung der Urteilsabsprachen sollte nicht als<br />

ein Punkt unter vielen anderen aufgeführt, sondern als ein<br />

Praradigmawechsel begriffen werden, für den eigentlich<br />

selbst der Titel meiner hiesigen Stellungnahme noch zu blass<br />

ausgefallen ist: Wenn man die sich manchmal bis zur Unerträglichkeit<br />

steigernden Euphemismen des hierzu namentlich<br />

in der Justiz und bei der Begründung und Verabschiedung<br />

des Verständigungsgesetzes entwickelten Jargons (der Titel<br />

des Gesetzes ist selbst ein Teil davon) beiseite schiebt, so<br />

muss man einräumen, dass dadurch das Fundament der Strafprozessordnung,<br />

die materielle Wahrheitsfindung, durch die<br />

Unterwerfung des Angeklagten im Umfange des abgesprochenen<br />

Geständnisses ersetzt und ihm dieses Ergebnis durch<br />

eine Strafmilderungszusage abgekauft wird. Während ein<br />

solches Ergebnis in dem (ähnlich dem deutschen Zivilprozess)<br />

auf dem Verfügungsgrundsatz beruhenden amerikanischen<br />

Strafprozess in adäquater Weise über das „guilty plea“<br />

konstruiert werden kann, bei dem es sich um eine Verfügung<br />

über den Prozessgegenstand handelt, die vorher in den „plea<br />

negotiations“ zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung<br />

ausgehandelt worden ist, musste sich die die Absprachen<br />

contra legem etablierende Justizpraxis der Aushilfskonstruktion<br />

eines Geständnisses (also materiell eines Beweismittels)<br />

bedienen und die Zusage des Gerichts als eine hypothetische<br />

Antizipation des im Fall eines Geständnisses angemessenen<br />

Strafmaßes konstruieren, womit aber weder eine Bindung des<br />

Gerichts noch das prozessuale Schicksal des Geständnisses<br />

nach einer gescheiterten Absprache angemessen begründet<br />

bzw. geregelt werden konnte. 39 Der Gesetzgeber ist zunächst<br />

äußerlich im Rahmen dieser Konstruktion verblieben, hat<br />

aber durch die in § 257c Abs. 3 S. 3 StPO der Staatsanwaltschaft<br />

ausdrücklich zuerkannte Vetoposition sowie durch die<br />

Anordnung eines Verwertungsverbots für das Geständnis im<br />

Fall einer gescheiterten Absprache implizit anerkannt, dass es<br />

nicht um Wahrheitsfindung, sondern um die sog. Verhandlungsgerechtigkeit<br />

geht. Wenn es in der Begründung zum<br />

Entwurf des Verständigungsgesetzes heißt, es gölten weiter-<br />

38 Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 44 Rn. 9.<br />

39 Zur näheren Begründung vgl. nur Schünemann, in: Hanack<br />

u.a. (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag,<br />

2002, S. 525; ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen<br />

Rechtskultur, 2005.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

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hin die Grundsätze des Strafverfahrens, namentlich dass eine<br />

Verständigung unter der Überzeugung des Gerichts vom<br />

festgestellten Sachverhalt stattfinden müsse, 40 so muss man<br />

freilich an das Bibelwort denken, dass denen zu vergeben sei,<br />

die nicht wissen, was sie tun. Nämlich in Gestalt der Unkenntnis<br />

jener epochalen Überwindung des gemeinrechtlichen<br />

Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Strafprozess<br />

und dessen endgültige Ausprägung in der RStPO von<br />

1877, für die die von den großen Prozessualisten des 19.<br />

Jahrhunderts (Feuerbach, Mittermaier, Zachariä und Schwarze)<br />

im einzelnen ausgearbeitete und durchgesetzte Konzeption<br />

entscheidend war, dass das Grundgebrechen des Inquisitionsverfahrens<br />

in der Urteilsfindung aufgrund eines schriftlichen<br />

Verfahrens durch Beurteilung der nicht vom Richter<br />

selbst erhobenen, sondern ihm nur in den Akten unterbreiteten<br />

Beweise bestand. Die Überzeugungsbildung allein aufgrund<br />

des Inbegriffs der mündlichen und die Beweise unmittelbar<br />

enthaltenden Hauptverhandlung vor den Ohren und<br />

Augen des erkennenden Gerichts (§ 261 StPO) und unter den<br />

kritischen Augen der Öffentlichkeit (§ 169 GVG) macht<br />

deshalb die entscheidende Struktur des von der StPO geprägten<br />

Strafverfahrens aus, und nur unter dieser Voraussetzung<br />

darf von der Ermittlung der materiellen Wahrheit durch Erfüllung<br />

der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2<br />

StPO) gesprochen werden. Das hat nicht begriffen, wer an<br />

der Ermittlung der materiellen Wahrheit und der Geltung der<br />

richterlichen Aufklärungspflicht festzuhalten vermeint, aber<br />

gleichzeitig die Urteilsabsprachen einführt, durch die dem<br />

Richter die Befugnis verliehen wird, aufgrund des von ihm<br />

aus den Ermittlungsakten herausgelesenen Tatbildes (!) dem<br />

Angeklagten gegen Geständnisablegung einen vorgeblich<br />

gemilderten Strafrahmen anzubieten und dessen Unterwerfung<br />

aufgrund seiner Übermacht auch faktisch zu erzwingen.<br />

Auch der Öffentlichkeitsgrundsatz wird nur scheinbar gewahrt,<br />

weil die eigentlichen Entscheidungen in den Abspracheverhandlungen<br />

getroffen werden und die Öffentlichkeit<br />

also nur das Ergebnis zeremoniell vorgeführt bekommt.<br />

b) Der Große Strafsenat hatte es in seinem Beschluss vom<br />

3.3.2005 (BGHSt 50, 40) immerhin erkannt und eingeräumt,<br />

dass es sich bei der Etablierung der Absprachen um eine<br />

„richterliche Rechtsfortbildung“ handelte, die also per definitionem<br />

contra legem erfolgte und nicht etwa mit der geltenden<br />

Gesetzeslage noch vereinbar war. 41 Nicht überzeugend<br />

und übrigens auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des<br />

BVerfG nicht zu vereinbaren war lediglich seine aus einer<br />

Art von Resignation geborene Beurteilung, dass es sich bei<br />

dieser Aufkündigung des richterlichen Gesetzesgehorsams<br />

(noch dazu in eigener Sache!) um eine verfassungsrechtlich<br />

zulässige Rechtsfortbildung gehandelt habe. Unbeschadet<br />

dessen muss man dem Großen Strafsenat und vorher dem<br />

4. Strafsenat in seiner Entscheidung BGHSt 43, 195 zugute<br />

halten, dass sie in dem durch das unveränderte Paragraphengerüst<br />

der StPO vorgegebenen engen Rahmen die darin allenfalls<br />

möglichen Kautelen aufzurichten versucht haben. Der<br />

Gesetzgeber war dagegen nicht ans Gesetz, sondern nur an<br />

40 BT-Drs. 16/11736 vom 27.1.2009 unter A. II. a), 2. Absatz.<br />

41 So aber Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 480.<br />

die Verfassung gebunden und hätte infolgedessen, wenn er<br />

denn schon die Absprachen legalisieren wollte, nach einer<br />

dem Rechtsstaatsprinzip genügenden Kompensation für die<br />

Schleifung der in der Verfahrensstruktur der RStPO verankerten<br />

Garantien suchen müssen. Dass weder der Bundesregierung<br />

noch dem Parlament diese Notwendigkeit auch nur<br />

bewusst geworden ist, kann man wahrlich nicht anders als<br />

einen Niedergang der deutschen Rechtskultur qualifizieren,<br />

aber damit sind wir schon wieder bei dem zitierten Bibelwort<br />

gelandet.<br />

c) Wenn der Gesetzgeber wirklich am Prinzip der materiellen<br />

Wahrheit hätte festhalten wollen, hätte er sich bewusst<br />

machen müssen, dass der Effekt der Urteilsabsprache in der<br />

vollständigen Ersetzung des (wie oben dargelegt, wissenschaftstheoretisch<br />

überzeugenden) Konzepts der RStPO<br />

(„Wahrheitsfindung in der mit allen Kautelen ausgestatten<br />

Hauptverhandlung“) durch das neue Konzept „Wahrheitsfindung<br />

aufgrund des vom Angeklagten anerkannten Ergebnisses<br />

des Ermittlungsverfahrens“ besteht. Weil dieses Anerkenntnis<br />

(früher, als die staatliche Rechtspolitik noch nicht<br />

von einem euphemistischen Jargon beherrscht war, im Steuerstrafverfahren<br />

offen und ehrlich als „Unterwerfung“ bezeichnet)<br />

durch ein Strafmilderungsversprechen erkauft wird,<br />

das die Androhung einer anderenfalls schwereren Strafe zur<br />

Kehrseite hat, 42 kann ihm nur dann irgendein legitimatorischer<br />

Wert zugeschrieben werden, wenn gleichzeitig die<br />

Position des Angeklagten und seiner Verteidigung im Ermittlungsverfahren<br />

derart verstärkt wird, dass sie dessen Ergebnisse<br />

kontradiktorisch überprüfen und damit jene Grundbedingung<br />

einer objektiven Aufklärung des historischen Sachverhalts<br />

realisieren könnte, die ich bereits skizziert habe.<br />

d) Der Gesetzgeber hat sich über alle diese bei Einführung<br />

von Urteilsabsprachen unabweisbaren Fragen keine<br />

Gedanken gemacht, und auch das im US-amerikanischen<br />

Prozess wie in den Verfahrensreformen von Drittweltländern<br />

sorgfältig beachtete Problem, wie man nach gescheiterten<br />

Abspracheversuchen eine Entscheidung durch ein unbefan-<br />

42 Die in der Praxis ohnehin informell unterlaufene, vom Gesetzgeber<br />

im § 257c Abs. 3 S. 1 StPO übernommene Idee des<br />

4. Strafsenats in BGHSt 43, 195, die „Verständigung“ dürfe<br />

keine Punktstrafe, sondern nur eine Strafobergrenze zum<br />

Gegenstand haben (der Gesetzgeber hat im Interesse der<br />

Staatsanwaltschaft auch eine Untergrenze hinzugefügt), ändert<br />

an der Natur des Austauschgeschäfts nichts, sondern ist<br />

als Verbrämung der Absprachewirklichkeit eher dem Kapitel<br />

„Euphemismen“ zuzuordnen. Denn die implizite Drohung<br />

mit einer sonst höheren Strafe bleibt ja davon völlig unberührt;<br />

und indem sich das Gericht weiterhin einen Spielraum<br />

offen hält, obwohl der Angeklagte durch den Zwang zur<br />

Vorleistung seines Geständnisses ohnehin schon benachteiligt<br />

wird (das jetzt im Gesetz vorgesehene Verwertungsverbot<br />

kann an den psychologischen Nachwirkungen eines zunächst<br />

abgelegten Geständnisses bei der späteren Beweiswürdigung<br />

mit Sicherheit nichts ändern), werden durch das Obergrenzenmodell<br />

nicht nur die Fundamente des deutschen Strafverfahrens,<br />

sondern auch die Regeln der Verhandlungsgerechtigkeit<br />

gründlich missachtet.<br />

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Bernd Schünemann<br />

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genes Gericht garantieren kann, hat ihn nicht gekümmert.<br />

Dass allein in Deutschland ein Modell verwirklicht worden<br />

ist, in dem das erkennende Gericht selbst zum Handelspartner<br />

wird (während in den USA die plea negotiations zwischen<br />

der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft stattfinden und<br />

im Falle ihres Scheiterns die unbefangene Jury über die Anklage<br />

entscheiden wird und während in anderen in jüngster<br />

Zeit reformierten Strafverfahrensordnungen der Abspracheteil<br />

in ein Zwischenverfahren verwiesen wird, das von der<br />

Hauptverhandlung von der Gerichtsbesetzung her deutlich<br />

geschieden ist 43 ), kann sich dem von Rieß am Ende seines<br />

Beitrags angesprochenen „internationalen Vergleich“ nur mit<br />

dem Ergebnis stellen, in den Worten Fischers als eine<br />

„Schande der Justiz“ beurteilt zu werden. 44 Und wenn es im<br />

Beitrag von Rieß am Ende heißt, die soeben beendete Legislaturperiode<br />

habe „die Bereitschaft und Fähigkeit des Gesetzgebers“<br />

gezeigt, „komplexe und schwierige Vorhaben anzugehen<br />

wie etwa das Problem der Urteilsabsprachen“, so<br />

müsste man deshalb hinzufügen, dass er dies in einer derart<br />

oberflächlichen und dilettantischen, die wirklichen Probleme<br />

nicht einmal erkennenden Weise getan hat, dass man an dem<br />

Beruf unserer Zeit zur Strafprozessgesetzgebung schier verzweifeln<br />

muss. Anders als Rieß sehe ich auch nicht die Entschuldigung,<br />

dass eine „rechtsdogmatische und rechtspolitische<br />

Diskussion darüber, welche strukturellen Grundsatzfragen<br />

– und weitere Auswirkungen – damit [scil. mit der Integrierung<br />

der Absprachen in das klassische Prozessmodell]<br />

verbunden sind, auch in der Prozessrechtswissenschaft bisher<br />

nur im Ansatz entwickelt worden“ sei. 45 Dabei denke ich<br />

weniger an die von Rieß selbst zitierten Apologeten eines in<br />

einem für den Strafprozess illusionären Konsensdenkens<br />

entwickelten und sich ähnlich wie das Verständigungsgesetz<br />

auf die Choreographie der Hauptverhandlung beschränkenden<br />

Absprachenkonzepts, sondern umgekehrt an die von<br />

Kritikern der heutigen Absprachepraxis entwickelten Überlegungen,<br />

welche substantiellen Beschränkungen der Aushandlungsmöglichkeiten<br />

aufgerichtet und welche substantiellen<br />

Änderungen im Ermittlungsverfahren vorgenommen werden<br />

müssten, um die Ersetzung des Hauptverhandlungsmodells<br />

der RStPO durch ein (alternatives) Absprachenmodell legitimierbar<br />

zu machen. 46 Am Ende dieses Beitrages werde ich<br />

43 Nachw. bei Schünemann (Fn. 22), DAV, S. 555 Fn. 8 f.,<br />

34-37.<br />

44 StraFo 2009, 188.<br />

45 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 480.<br />

46 Vgl. nur Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren –<br />

Leitidee für eine Gesamtreform, 2002; Hauer, Geständnis<br />

und Absprache, 2007, S. 340 ff.; meine eigenen Überlegungen<br />

setzen nicht erst mit der Rieß-Festschrift (Fn. 39) ein<br />

oder ZStW 114 (2002), 1 (55 ff.); 119 (2007), 945; StraFo<br />

2003, 344; 2004, 293; 2005, 177; in: Triffterer (Hrsg.), Gedächtnisschrift<br />

für Theo Vogler, 2004, S. 81; ZRP 2006, 63;<br />

2009, 104; AnwBl. 2006, 439 (gemeinsam mit J. Hauer),<br />

sondern bereits auf dem Symposium des baden-württembergischen<br />

Justizministeriums 1986 in Triberg und mit meinem<br />

Gutachten zum 58. DJT 1990, so dass man schwerlich<br />

mit Rieß davon sprechen kann, die einschlägigen Fragen<br />

auf die sich daraus ergebenden und seit Jahren in der Wissenschaft<br />

erhobenen Forderungen zurückkommen.<br />

V. Die kumulierte Einführung eines Parteiverfahrens<br />

durch die Opferrechtsverbesserungsgesetze<br />

Wenn man die kritikwürdigen Defizite der Strafverfahrensgesetzgebung<br />

der letzten ein bis zwei Jahrzehnte aufzählen will,<br />

fühlt man sich ein wenig wie Beckmesser im 1. Akt der<br />

„Meistersinger“, freilich mit dem Unterschied, dass hinter<br />

den vielfachen Verletzungen der Grundsätze des fair trial<br />

keine verkappte Genialität, sondern zum nicht geringen Teil<br />

politischer Opportunismus und erfolgreiche Arbeit von Interessengruppen<br />

steht. Ich möchte deshalb meine kritische<br />

Durchsicht mit wenigen Bemerkungen zu den Opferrechtsverbesserungsgesetzen<br />

schließen, die im Beitrag von Rieß<br />

konzentriert angesprochen worden sind, wobei man sich<br />

darüber klar sein muss, dass auch die Zeugenschutzgesetze<br />

zum großen Teil in diesen Zusammenhang gehören. Zunächst<br />

ist deutlich herauszustellen, dass die Position des Zeugen wie<br />

auch diejenige des Verletzten (die neueren Gesetze benutzen<br />

bedauerlicherweise durchweg den emotional aufgeladenen<br />

und implizit die Unschuldsvermutung verneinenden Ausdruck<br />

„Opfer“) in der RStPO völlig unzulänglich ausgestaltet<br />

war, so dass etliche vom Gesetzgeber eingeführte Verbesserungen<br />

des Zeugenschutzes und der Verletztenstellung anzuerkennen<br />

und gutzuheißen sind; auf eine detaillierte Analyse<br />

hierzu muss ich an dieser Stelle verzichten. 47 Inzwischen hat<br />

der Gesetzgeber aber das Augenmaß verloren und in weitem<br />

Umfange kumulativ zum Offizialprozess zwischen Staat und<br />

Angeklagtem einen vom Verletzten betriebenen Parteiprozess<br />

attachiert, wodurch der Angeklagte zumeist in eine hoffnungslose<br />

Position gerät, weil der oder die Verletzte durch<br />

Akteneinsichts- und Mitwirkungsrechte gegen Angriffe auf<br />

die Glaubwürdigkeit immunisiert wird und deshalb die gerade<br />

hier aus nachvollziehbaren Gründen nachdrücklich honorierte<br />

„Verständigung“ für den Angeklagten den letzten Ausweg<br />

bildet. Dass mit der permanenten Verbesserung des<br />

„Opferschutzes“ besonders elegant politische Akzeptanz<br />

erreicht werden kann, macht die Lektüre der Website des<br />

Bundesjustizministeriums und der Gesetzesbegründung des<br />

2. Opferrechtsreformgesetzes deutlich, wobei letztere immer<br />

wieder den direkten Einfluss der Opferschutzverbände erkennen<br />

lässt. 48 Ich freue mich, dass meine Einschätzung in dieseien<br />

von der Prozessrechtswissenschaft nur im Ansatz thematisiert<br />

worden.<br />

47 Zu meinem Standpunkt i.e.S. Schünemann, in: Michalke u.a.<br />

(Hrsg.), Festschrift für Rainer Hamm zum 65. Geburtstag,<br />

2008, S. 687 ff.; ders., in: Ders./Dubber (Hrsg.), Die Stellung<br />

des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 1.<br />

48 Wobei die Begründung immer wieder die verfehlte Gleichstellung<br />

von Verletztem und Beschuldigtem als Ziel hervorhebt,<br />

etwa zur Begründung für die Heraufsetzung der Schutzaltersgrenze<br />

auf 18 Jahre in den Regelungen der §§ 172<br />

GVG, 58a Abs. 1, 241a Abs. 1, 247 S. 2, 255 Abs. 2 StPO<br />

oder für die Ausdehnung der wählbaren Zeugenbeistände etc.<br />

auf Rechtslehrer in § 138 Abs. 3 StPO, worin zugleich ein<br />

Beispiel für einen erfolgreichen Lobbyismus liegen dürfte,<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

492<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sem Punkt weitgehend mit derjenigen von Rieß konform<br />

geht, der in seiner nobel formulierten, aber erkennbaren Kritik<br />

darauf hinweist, aus der gegenwärtigen Gesetzgebungsperspektive<br />

erscheine eher der Verletzte als der Beschuldigte<br />

als die Zentralfigur des Strafverfahrens, wobei die strukturellen<br />

Auswirkungen auf das hierfür nicht eingerichtete Prozessmodell<br />

erheblich sein könnten. 49 Die weitere Formulierung,<br />

man möge darin Ansätze für eine „Reprivatisierung“<br />

des Strafverfahrens sehen, drückt nach meinem Verständnis<br />

ebenfalls die gebotene Skepsis aus, denn insoweit die Opfermitwirkung<br />

nicht zu einer Diversion führt (die der Gesetzgeber<br />

löblicherweise ebenfalls zum Gegenstand seiner Regelung<br />

gemacht, aber nach meinem Dafürhalten längst noch<br />

nicht ausgereizt hat), steht ja am Ende immer noch die staatliche<br />

Kriminalstrafe.<br />

VI. Eckpunkte einer durchgreifenden Strafprozessreform<br />

Abschließend möchte ich die acht „essentials“ skizzieren, mit<br />

denen der deutsche Strafprozess wieder ins Lot gebracht und<br />

international wieder ernsthaft konkurrenzfähig gemacht werden,<br />

vielleicht sogar wieder eine Vorbildfunktion erlangen<br />

könnte 50 .<br />

1. Wenn das Endergebnis des Prozesses ohne echte<br />

Hauptverhandlung direkt aus dem Ermittlungsverfahren abgeleitet<br />

wird, dann muss schon dieser Verfahrensabschnitt<br />

genügende Garantien enthalten, um als ein Instrument zur<br />

Findung der materiellen Wahrheit qualifiziert werden zu<br />

können. Das heutige Ermittlungsverfahren ist im Grunde<br />

identisch mit dem alten Inquisitionsprozess und leidet damit<br />

an allen seinen Einseitigkeiten und Gebrechen, die vor 200<br />

Jahren zur Reform des Strafverfahrens in Europa geführt<br />

haben. Man muss also die Kontrollmechanismen und Ausbalancierungen,<br />

die damals durch die Erfindung der öffentlichen<br />

und mündlichen Hauptverhandlung geschaffen wurden,<br />

schon in das Ermittlungsverfahren einbauen. Insoweit bieten<br />

sich vier Prinzipien an, um schon im Ermittlungsverfahren<br />

eine wenigstens einigermaßen hinreichende Balance zwischen<br />

den Verfolgungsinteressen und der Kontrollierbarkeit<br />

durch die Verteidigung herzustellen.<br />

a) Als erstes muss für alle heimlichen Ermittlungsverfahren<br />

eine neue und zusätzliche Institution geschaffen werden,<br />

die nicht mit StA oder Strafjustiz identisch ist, sondern<br />

ausschließlich die Aufgabe eines Schutzes der Verteidigungsinteressen<br />

verfolgt, also eine „Proto-“, oder<br />

„Voraus-Verteidigung“. Sie wäre vom Staat zu finanzieren,<br />

würde anders als der Verteidiger selbst zur Verschwiegenheit<br />

gegenüber dem Beschuldigten verpflichtet<br />

sein, aber dessen Interessen bei allen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen<br />

und in diesem Sinn eine Kontrollaufgabe<br />

wahrnehmen. Für alle Einzelheiten muss auf die für<br />

die transnationalen Ermittlungsverfahren vorgeschlagene<br />

weil dadurch den Professoren eine weitere Möglichkeit zur<br />

Nebentätigkeit eröffnet wird.<br />

49 Rieß, <strong>ZIS</strong> 2009, 477.<br />

50 Näher Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 69.<br />

Einrichtung eines „Eurodefensor“ verwiesen werden. 51<br />

Der Protoverteidiger hätte zugleich die Aufgabe, die partielle<br />

Reduzierung des Beschuldigten auf ein bloßes Verfahrensobjekt<br />

zu kompensieren.<br />

b) Zum zweiten müssen sämtliche Zeugenvernehmungen<br />

von Anfang an per Video aufgezeichnet werden, weil nur<br />

auf diese Weise der Verteidiger später, wenn er volle Akteneinsicht<br />

bekommt, die Verlässlichkeit einer Zeugenaussage<br />

beurteilen kann, indem in der Aussage eines Belastungszeugen<br />

dessen wirkliches Wissen von den von der<br />

Polizei hineingetragenen Vermutungen unterschieden und<br />

dadurch zuverlässig beurteilt werden kann, ob die Ermittlungen<br />

zur Auffindung der materiellen Wahrheit geführt<br />

haben und deshalb als Basis für die Abschlussentscheidung<br />

akzeptiert werden können.<br />

c) Drittens muss der Verteidiger ein gesichertes Recht zur<br />

eigenen Zeugenvernehmung bekommen. Derartige eigene<br />

Beweiserhebungen des Verteidigers sind zwar auch heute<br />

zulässig, es fehlt aber jede Pflicht des Zeugen, zur Vernehmung<br />

vor dem Verteidiger zu erscheinen. Nur durch<br />

ein gesichertes Vernehmungsrecht kann aber eine Waffengleichheit<br />

im Ermittlungsverfahren erreicht und dadurch<br />

eine als Basis der Abschlussentscheidung unverzichtbare<br />

Balance zwischen Verfolgungs- und Verteidigungsrechten<br />

hergestellt werden. Selbstverständlich<br />

müsste auch die Vernehmung durch den Verteidiger vollständig<br />

per Video aufgezeichnet werden, um etwaige Versuche<br />

des Verteidigers zur Zeugenbeeinflussung zu dokumentieren.<br />

d) Viertens ist es, nachdem der Gesetzgeber in den letzten<br />

Jahren und Jahrzehnten nicht müde geworden ist, die moderne<br />

Observations- und Kommunikationstechnik für die<br />

polizeiliche Überwachung wie für die Strafverfolgung<br />

fruchtbar zu machen, höchste Zeit, sie zur Herstellung der<br />

Verfahrensbalance auch zu Gunsten des Beschuldigten zu<br />

nutzen, namentlich indem die Untersuchungshaft weitestgehend<br />

durch die elektronische Fußfessel als mildere<br />

Maßnahme ersetzt wird. 52<br />

2. Nur wenn diese vierfache Reform des Ermittlungsverfahrens<br />

durchgeführt würde, ließe sich davon sprechen, dass die<br />

Verteidigung an dessen Ende zuverlässig beurteilen kann, ob<br />

dessen Ergebnisse die von der Staatsanwaltschaft erhobene<br />

Anklage tragen und ob es deshalb zur Abkürzung des Verfahrens<br />

sinnvoll ist, das von der Staatsanwaltschaft oder von<br />

einem Richter vorgeschlagene Ergebnis ohne Hauptverhandlung<br />

zu akzeptieren. Damit das betreffende Angebot der<br />

Justiz nicht zu einem praktisch die Entschlussfreiheit des<br />

51 Dazu die Gesetzesvorschläge in: Schünemann (Hrsg.), Ein<br />

Gesamtkonzept für die Europäische Strafrechtspflege, 2006,<br />

S. 49-56.<br />

52 Vgl. dazu Jolin/Rogers, MschrKrim 90, 201; Krahl NStZ<br />

97, 457 sowie die Stellungnahme von Roxin bei Julius in<br />

ZStW 111 (1999), 889 (906).<br />

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493


Bernd Schünemann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Angeklagten zerstörenden strukturellen Druck führt, müssen<br />

freilich drei weitere Garantien für die plea negotiations hinzukommen.<br />

a) Eine Urteilsabsprache kann es nur mit einem professionell<br />

verteidigten Angeklagten geben, alles andere wäre die<br />

unfaire Ausnutzung seiner konstitutionellen Unterlegenheit.<br />

Weil aber jeder Angeklagte diese Chance besitzen muss (die<br />

gegenwärtige Willkür, ob der Richter sich überhaupt auf eine<br />

Abspracheverhandlung einlässt, was er normalerweise nur<br />

mit einem Verteidiger tut, bedeutet eine inakzeptable Verletzung<br />

der Chancengleichheit aller Angeklagten), muss die<br />

Verteidigung ausnahmslos eine notwendige werden.<br />

b) Der Rabatt, der bei einem Verzicht auf die Hauptverhandlung<br />

möglich ist, muss eng begrenzt werden. 53 Dies<br />

würde auch allein mit dem Strafzumessungsrecht in Übereinstimmung<br />

sein, denn danach könnte man die Abkürzung des<br />

Verfahrens als eine kleine Wiedergutmachung gegenüber der<br />

Rechtsordnung qualifizieren und daraus einen freilich vom<br />

Umfang sehr beschränkten Strafrabatt legitimieren. 54 Beispielsweise<br />

könnte die Staatsanwaltschaft mit der Anklage<br />

zwei verschiedene Strafmaßvorschläge unterbreiten, einen für<br />

den Fall nach Durchführung einer vollständigen Hauptverhandlung<br />

und einen für den Fall des Verzichts des Angeklagten<br />

auf die Hauptverhandlung, wobei die Differenz maximal<br />

20 % ausmachen dürfte. Wenn sich der Angeklagte aufgrund<br />

der verbesserten Garantien im Ermittlungsverfahren davon<br />

überzeugt hat, dass er ohnehin kaum reelle Freispruchschancen<br />

besitzt, wird er auf die Hauptverhandlung verzichten und<br />

sich der ermäßigten Strafe unterwerfen. Legitimierend wirkt<br />

hier dann aber nicht sein Konsens als solcher, sondern seine<br />

Einsicht darin, dass die Ermittlungen bereits zur Auffindung<br />

der materiellen Wahrheit geführt haben. Wählt er die Hauptverhandlung,<br />

so ist er durch den zweiten Strafmaßvorschlag<br />

der StA davor geschützt, zur „Strafe“ für seine prozessuale<br />

Hartnäckigkeit mit einer exorbitant höheren Strafe belegt zu<br />

werden.<br />

c) Drittens muss eine Inkompatibilität zwischen dem die<br />

Abspracheverhandlung führenden und dem im Falle ihres<br />

Scheiterns die Hauptverhandlung leitenden Richter statuiert<br />

werden, weil der Angeklagte nur in diesem Fall sicher sein<br />

kann, dass er das Abspracheangebot ohne nachteilige prozesspsychologische<br />

Wirkungen ablehnen kann.<br />

3. Die achte Kautel muss auf organisatorischem Gebiet<br />

liegen: Die international fast einmalige Verschmelzung der<br />

deutschen Richter- und Staatsanwaltskarriere muss durch<br />

eine zumindest partielle Entflechtung abgeschwächt werden,<br />

um den von mir sog. Schulterschlusseffekt zumindest abzumildern,<br />

dass vom Richter und Staatsanwalt auf Grund gleicher<br />

beruflicher Sozialisation und Zielattribuierung die<br />

Standpunkte des anderen wechselseitig zur Bestärkung der<br />

eigenen Meinung verwertet werden. 55<br />

4. Wer die Justizpolitik der Bundesrepublik in den letzten<br />

Jahrzehnten verfolgt hat, wird die vorstehenden Vorschläge<br />

als gewagt, wenn nicht utopisch empfinden. In Wahrheit sind<br />

sie nichts anderes als eine Aufstellung der unverzichtbaren<br />

Prämissen, die bei der Einführung eines mit Urteilsabsprachen<br />

arbeitenden Strafverfahrens in einem Rechtsstaat erfüllt<br />

sein müssen.<br />

53 Dagegen lässt die Rechtsprechung des BGH eine ausreichende<br />

Domestizierung der tatrichterlichen „Sanktionsschere“<br />

vermissen, wenn beispielsweise in einem Verfahren wegen<br />

Raubes die Alternative „4 ½ oder über 7 Jahre Freiheitsstrafe“<br />

toleriert wird (BGH NStZ 2007, 655).<br />

54 Dazu Schünemann/Hauer, AnwBl. 2006, 439; Hauer, Geständnis<br />

und Absprache, 2007, S. 312.<br />

55 Dazu näher Roxin/Schünemann (Fn. 8), § 9 Rn. 1, § 29<br />

Rn. 25.<br />

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494<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Zum Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

auf das erkennende Gericht und anderen Absonderlichkeiten<br />

des Rechtsschutzsystems im Ermittlungsverfahren<br />

Von Staatsanwalt Dr. Markus Löffelmann, z.Zt. Arusha, Tansania*<br />

I. Das Rechtsschutzsystem gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

wirft zahlreiche ungeklärte Rechtsfragen auf und beeinträchtigt<br />

durch seine Kompliziertheit den Rechtsschutz<br />

Betroffener<br />

1. Gesetzesänderung und aktuelle Rechtsprechung<br />

a) Dass die Zuständigkeit zur Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen<br />

und zur Gewährung von Rechtsschutz<br />

gegen diese nach Anklageerhebung auf das erkennende Gericht<br />

übergehe, gehört zu einem der am wenigsten hinterfragten<br />

Grundsätze des Strafprozessrechts. Mit dem Gesetz zur<br />

Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer<br />

verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der<br />

Richtlinie 2006/24/EG vom 21.12.2007 1 hat dieser Grundsatz<br />

in § 101 Abs. 7 S. 4 StPO 2 eine Ausprägung erfahren, 3 die<br />

zahlreiche Fragen aufwirft, welche zum Teil bereits Gegenstand<br />

höchstrichterlicher Rechtsprechung geworden sind.<br />

b) Anzusprechen sind in diesem Zusammenhang unter<br />

anderem drei neuere Entscheidungen des BGH: Die Entscheidung<br />

vom 8.10.2008 4 betrifft die Frage des Konkurrenzverhältnisses<br />

von nachträglichem Rechtsschutz gemäß § 101<br />

Abs. 7 und den allgemeinen Rechtsbehelfen gegen Ermittlungsmaßnahmen,<br />

d.h. der Beschwerde und dem Verfahren<br />

entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2. Der 3. Senat hat – nach Meinung<br />

des Verf. zu Unrecht 5 – § 101 Abs. 7 als spezielleres<br />

Recht angesehen, das die allgemeinen Rechtsbehelfe verdränge.<br />

c) In seiner Entscheidung vom 22.1.2009 6 hatte sich derselbe<br />

Senat mit der Problematik auseinanderzusetzen, ob für<br />

die Entscheidung über das Rechtsmittel gegen eine auf einen<br />

Antrag nach § 101 Abs. 7 ergangene Entscheidung das an-<br />

∗ Der Verf. arbeitet derzeit im Auftrag der Deutschen Gesellschaft<br />

für Technische Zusammenarbeit als Durchführungsverantwortlicher<br />

für das Projekt des Bundesministeriums für<br />

wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit zur Stärkung<br />

der Kapazitäten des Afrikanischen Gerichtshofs für<br />

Menschen- und Völkerrechte in Arusha, Tansania.<br />

1 BGBl. I 2007, S. 3198.<br />

2<br />

Paragrafenangaben ohne Gesetzesbezeichnung beziehen<br />

sich im Folgenden auf die StPO.<br />

3 Die Vorschrift geht zurück auf die entsprechende Regelung<br />

zur akustischen Wohnraumüberwachung in § 100d Abs. 10 in<br />

der Fassung durch das Gesetz zur Umsetzung des Urteils des<br />

Bundesverfassungsgerichts vom 3.3.2004 (akustische Wohnraumüberwachung),<br />

BGBl. I 2005, S. 1841, die wiederum der<br />

Urfassung dieses Rechtsschutzinstruments in § 100d Abs. 6<br />

in der Fassung durch das OrgKG vom 4.5.1998, BGBl. I<br />

1998, S. 845 nachgebildet ist.<br />

4 BGH NJW 2009, 454.<br />

5 Vgl. näher Löffelmann, StV 2009, 379.<br />

6 BGHR StPO § 101 Abs. 7 Zuständigkeit 1 = NStZ 2009,<br />

399.<br />

ordnende oder das erkennende Gericht zuständig sei und dies<br />

– für den konkreten Fall – im ersteren Sinne entschieden, da<br />

hier die Gefahr divergierender Entscheidungen über die<br />

Rechtmäßigkeit der beanstandeten Maßnahmen nicht bestehe.<br />

d) Schließlich stellte der 4. Strafsenat in einer Entscheidung<br />

vom 24.6.2009 7 fest, dass die sofortige Beschwerde das<br />

statthafte Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des erkennenden<br />

Gerichts über einen Antrag nach § 101 Abs. 7 sei,<br />

selbst wenn hiergegen auch mit der Revision vorgegangen<br />

werden könne.<br />

2. Weitere Problemlagen<br />

Die genannten Entscheidungen des BGH befassen sich nur<br />

mit einem Teil der durch den Übergang der Zuständigkeit für<br />

die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

auf das erkennende Gericht einhergehenden Problemlagen.<br />

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende<br />

verzwickte Konstellationen – geordnet nach steigendem<br />

Komplexitätsgrad und unter Einbeziehung der bereits von der<br />

Rechtsprechung thematisierten Fragestellungen (vgl. I. 1. b)<br />

bis d) – kurz dargestellt:<br />

a) Fraglich ist, ob der Betroffene ein Wahlrecht hat, gegen<br />

belastende Ermittlungsmaßnahmen entweder mit den allgemeinen<br />

Rechtsbehelfen entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 bzw.<br />

gemäß §§ 304 ff. vorzugehen oder nachträglichen Rechtsschutz<br />

gemäß § 101 Abs. 7 anzustrengen. Nimmt man mit<br />

dem BGH die Vorrangigkeit des § 101 Abs. 7 an, so führt das<br />

dazu, dass wegen der Zwei-Wochen-Frist des § 101 Abs. 7<br />

S. 2 auch die allgemeinen Rechtsbehelfe präkludiert sind.<br />

Entgegen der Intention des Gesetzgebers 8 stünde damit der<br />

nach § 101 Abs. 7 Rechtsschutzberechtigte schlechter als<br />

derjenige, dem nur die allgemeinen Rechtsbehelfe zur Verfügung<br />

stehen. Denn letztere sind nicht an bestimmte Fristen<br />

gebunden, 9 mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Maßnahme<br />

steigen lediglich die Anforderungen an das Fortbestehen<br />

des Rechtsschutzbedürfnisses. 10 Von der wohl h.M. wird<br />

7 BGH, Beschl. v. 24.6.2009 – 4 StR 188/09.<br />

8 BT-Drs. 16/5846, S. 2 f. (22, 62).<br />

9 Dies wurde von BGHSt 44, 265 = NJW 1999, 730 erwogen;<br />

vgl. BVerfGK 4, 287 (294 ff.).<br />

10 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.5.2006 – 2 BvR 1520/05<br />

m.w.N. (kein Rechtsschutzbedürfnis bei Einlegung der Beschwerde<br />

acht Jahre und fünf Monate nach der Durchsuchung);<br />

BVerfG, Beschl. v. 16.4.2007 – 2 BvR 463/07<br />

m.w.N. (kein Rechtsschutzbedürfnis bei Antrag auf gerichtliche<br />

Entscheidung viereinhalb Jahre nach Beschlagnahme und<br />

drei Jahre nach Abschluss des Strafverfahrens); BVerfG<br />

NStZ 2009, 166 (Rechtsschutzbedürfnis ein Jahr nach Unterrichtung<br />

über die Maßnahme und neun Monate nach Einstellung<br />

des Verfahrens noch nicht entfallen); Paul, in: Hannich<br />

(Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung,<br />

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495


Markus Löffelmann<br />

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die Vorschrift daher als Auffangrechtsbehelf angesehen, der<br />

dem Betroffenen den Nachweis seines Rechtsschutzbedürfnisses<br />

ersparen soll oder im Sinne eines Wahlrechts das taktische<br />

Repertoire der Rechtsschutzmöglichkeiten erweitert. 11<br />

b) Die vorgenannte Streitfrage wirkt sich außer in zeitlicher<br />

auch in funktionaler Hinsicht auf die Reichweite des<br />

Rechtsschutzes aus. Gegen Entscheidungen entsprechend<br />

§ 98 Abs. 2 S. 2 ist als weiteres Rechtsmittel die – grundsätzlich<br />

nicht fristgebundene – Beschwerde zulässig. Gegen Entscheidungen<br />

nach § 101 Abs. 7 S. 2 kann gemäß § 101 Abs. 7<br />

S. 3 die sofortige Beschwerde eingelegt werden. Auch diese<br />

ist wiederum an eine enge Frist gebunden. Die auf die Beschwerde<br />

ergangene Entscheidung ist hingegen nur in den<br />

Grenzen des § 310 mit der weiteren Beschwerde anfechtbar.<br />

c) Wird Rechtsschutz gegen Ermittlungsmaßnahmen erst<br />

nach Erhebung der Anklage angestrengt, so hat über den<br />

Antrag oder die Beschwerde nach allgemeiner Ansicht das<br />

erkennende Gericht zu entscheiden, auf das die Verfahrensherrschaft<br />

übergegangen sei. Unklar ist hingegen, in welchem<br />

Rahmen das erkennende Gericht entscheidet: Im Rahmen der<br />

Entscheidung über die Hauptsache oder außerhalb derselben.<br />

12 Für den Antrag nach § 101 Abs. 7 S. 2 sieht § 101<br />

Abs. 7 S. 4 vor, dass das erkennende Gericht darüber „in<br />

seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung“ befinde.<br />

Dahinter stehen – in den Gesetzesmaterialien nicht näher<br />

bezeichnete – Gründe der „Zweckmäßigkeit und Effizienz“<br />

des gerichtlichen Verfahrens und der „Vermeidung divergierender<br />

Entscheidungen“ 13 , die wohl darauf abzielen, dass in<br />

der Hauptsache das erkennende Gericht auch bei der Frage<br />

der Verwertbarkeit erlangter Erkenntnisse die Rechtmäßigkeit<br />

der zugrunde liegenden Maßnahme zu würdigen hat.<br />

Über die allgemeinen Rechtsbehelfe kann das erkennende<br />

Gericht hingegen auch außerhalb der Hauptsache durch Beschluss<br />

entscheiden.<br />

d) Dieser Unterschied hat zur Konsequenz, dass völlig unterschiedliche<br />

Rechtsmittel gegen die Entscheidung des erkennenden<br />

Gerichts in Betracht kommen: Im Falle der allge-<br />

6. Aufl. 2008, Vor § 296 Rn. 7, schlägt in Anlehnung an den<br />

Rechtsgedanken des § 311 Abs. 2 sogar eine zeitliche Begrenzung<br />

von einer Woche vor; vgl. dazu auch eingehend<br />

Meyer/Rettenmaier, NJW 2009, 1238.<br />

11<br />

Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51.<br />

Aufl. 2008, § 101 Rn. 26; Nack, in: Hannich (Fn. 10), § 101<br />

Rn. 34; Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (116); Zöller,<br />

StraFo 2008, 15 (23); Schmidt, NStZ 2009, 243 (246);<br />

Löffelmann, StV 2009, 379 (384); Meyer/Rettenmaier, NJW<br />

2009, 1238 (1240 f.); differenzierend Singelnstein, NStZ<br />

2009, 481 (483): Beschwerde neben § 101 Abs. 7 weiterhin<br />

zulässig, entsprechende Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2<br />

entfällt mangels Regelungslücke.<br />

12 Vgl. OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2006, 44 (45), wo eine<br />

analoge Anwendung des § 100d Abs. 10 a.F. mit Blick auf<br />

den besonderen Charakter von Maßnahmen nach § 100c<br />

abgelehnt wird; Nack (Fn. 11), § 101 Rn. 37: stets Entscheidung<br />

im Beschlussverfahren außerhalb der Hauptverhandlung;<br />

ebenso Singelnstein, NStZ 2009, 481 (484 f.).<br />

13 BT-Drs. 16/5846, S. 63.<br />

meinen Rechtsbehelfe die Beschwerde bzw. – von den Fällen<br />

des § 310 abgesehen – gar kein Rechtsmittel; im Falle des<br />

Antrags nach § 101 Abs. 7 S. 2 alle gegen die das Verfahren<br />

abschließende Entscheidung des erkennenden Gerichts zulässigen<br />

Rechtsbehelfe, d.h. in erster Linie Berufung und Revision.<br />

14<br />

e) Fraglich ist weiterhin, ob der Betroffene in jedem Fall<br />

mit dem gegebenen Rechtsmittel auch die Rechtmäßigkeit<br />

der beanstandeten Maßnahme überprüfen lassen kann. Für<br />

die Revision ist das – worauf BGH – 4 StR 188/09 hinweist –<br />

nicht der Fall, sofern das Urteil nicht auf der Auffassung des<br />

erkennenden Gerichts von der Rechtmäßigkeit der Maßnahme<br />

beruht – etwa wenn diese und die durch sie erlangten<br />

Erkenntnisse für die Entscheidungsfindung überhaupt keine<br />

Rolle gespielt haben. 15 Der BGH vertritt unter anderem aus<br />

diesem Grunde, dass Rechtsmittel gegen die Entscheidung<br />

des erkennenden Gerichts in jedem Fall die sofortige Beschwerde<br />

sei. Das überzeugt, soweit der Betroffene die Überprüfung<br />

der Entscheidung des erkennenden Gerichts über die<br />

Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht tatsächlich im Wege der<br />

Revision erreichen kann; die Gesetzesmaterialien enthalten<br />

zu diesem Gesichtspunkt keine Aussage. 16<br />

f) Verfahrensabschließende Entscheidungen des erkennenden<br />

Gerichts i.S.d. § 101 Abs. 7 S. 4 dürften nicht nur<br />

Verurteilung oder Freispruch, sondern ebenso die endgültige<br />

Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 S. 1 oder<br />

§ 153a Abs. 2 S. 1, möglicherweise auch dessen vorläufige<br />

Einstellung nach § 205 sein, 17 denn zu welchem Zeitpunkt<br />

und in welchem Rahmen sonst sollte das Gericht über den<br />

Antrag entscheiden Andererseits erscheint es höchst seltsam,<br />

dass das erkennende Gericht gehalten sein soll, sich im Rahmen<br />

solcher, eigentlich auf die Erhöhung der Effizienz des<br />

Verfahrens abzielender Entscheidungen mit der Rechtmäßigkeit<br />

der beanstandeten Maßnahme auseinandersetzen zu müssen,<br />

die doch auf die Entscheidung einen allenfalls randmäßigen<br />

Einfluss hat. Auch die Frage, ob Rechtsbehelfe gegen<br />

solche verfahrensabschließenden Entscheidungen gegeben<br />

sind, muss höchst differenziert beantwortet werden, 18 d.h. die<br />

Reichweite des Rechtsschutzes Betroffener ist ganz von der<br />

Natur der verfahrensabschließenden Entscheidung abhängig.<br />

g) Schließlich kann auch die Situation eintreten, dass das<br />

anordnende Gericht bereits über die Rechtmäßigkeit der<br />

beanstandeten Maßnahme entschieden hat, dann die Anklage<br />

erhoben wird und der Betroffene erst anschließend die Entscheidung<br />

des anordnenden Gerichts angreift. Fraglich ist, ob<br />

in diesem Fall die Zuständigkeit zur Entscheidung über die<br />

Beschwerde (im Fall des Antrags entsprechend § 98 Abs. 2<br />

S. 2) oder die sofortige Beschwerde (im Fall des Antrags<br />

nach § 101 Abs. 7 S. 2) auf das erkennende Gericht übergeht.<br />

§ 101 Abs. 7 S. 4 der nur den „Antrag“ erwähnt, spricht gegen<br />

den Übergang der Zuständigkeit. Der der Vorschrift<br />

14 A.A. aber nun BGH, Beschl. v. 24.6.2009 – 4 StR 188/09.<br />

15 Vgl. Kuckein, in: Hannich (Fn. 10), § 337 Rn. 33 ff.<br />

16 Vgl. BT-Drs. 16/5846, S. 62 f.<br />

17 Ähnlich Meyer/Rettenmaier, NJW 2009, 1238 (1241).<br />

18 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 11), § 153 Rn. 34; § 153a Rn. 57;<br />

§ 205 Rn. 4.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

496<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

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zugrunde liegende Gedanke einer Vermeidung divergierender<br />

Entscheidungen spricht freilich – auf den ersten Blick – dafür<br />

(näher zu diesem Argument unten II. 2.).<br />

h) Eine Potenzierung erfahren die dargestellten Probleme<br />

durch das Hinzutreten weiterer Betroffener. Handelt es sich<br />

um mehrere in demselben Verfahren angeklagte Personen, so<br />

bedeutet das freilich noch nicht, dass sie dieselbe Verteidigungsstrategie<br />

wählen. Ein Angeklagter mag die beanstandete<br />

Maßnahme etwa nach § 304 angreifen, ein anderer nach<br />

§ 101 Abs. 7 S. 2, ein dritter erst nach Anklageerhebung oder<br />

gar nach Abschluss des Hauptverfahrens. Für den Rechtsbehelf<br />

des ersten Angeklagten wäre das Beschwerdegericht<br />

zuständig, für den zweiten das anordnende Gericht und für<br />

den dritten das erkennende Gericht. Die jeweilige Entscheidung<br />

könnte der erste Angeklagte nicht mehr angreifen, der<br />

zweite könnte dagegen die sofortige Beschwerde einlegen,<br />

der dritte das gegen die Entscheidung des erkennenden Gerichts<br />

gegebene Rechtsmittel, also Berufung, Revision, gegebenenfalls<br />

Beschwerde oder – nach Auffassung des BGH –<br />

die sofortige Beschwerde.<br />

i) Diese Konstellation lässt sich ohne viel Phantasie weiter<br />

dadurch komplizieren, dass – was gerade bei verdeckten<br />

Ermittlungsmaßnahmen in aller Regel der Fall ist – weitere<br />

Betroffene Rechtsschutz suchen, die keine Angeklagten sind.<br />

Auch diesen stehen die genannten Rechtsbehelfe zur Verfügung,<br />

aber deren Zielrichtung ist häufig von denen der Angeklagten<br />

verschieden. Problematisch wird das nach Anklageerhebung,<br />

wenn das erkennende Gericht über diese Rechtsschutzersuchen<br />

in seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung<br />

befinden muss, denn die zu beurteilenden Gesichtspunkte<br />

Dritter sind möglicherweise für das Verfahren<br />

völlig irrelevant und beeinträchtigen seine Effizienz und<br />

Dauer. Zum Schutz der Verfahrensbeteiligten kann es deshalb<br />

aus verfassungsrechtlichen Gründen geradezu geboten<br />

sein, dass das erkennende Gericht über Anträge Dritter außerhalb<br />

der Hauptverhandlung durch Beschluss entscheidet. 19<br />

II. Die Undurchsichtigkeit und Verworrenheit der<br />

Rechtslage beim Rechtsschutz gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

ist ein Resultat strafprozessualer Grundsätze, die<br />

der Überprüfung bedürfen<br />

1. Das Dogma vom Übergang der Verfahrensherrschaft auf<br />

das erkennende Gericht<br />

Dass die Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtsbehelfe<br />

gegen Ermittlungsmaßnahmen nach Anklageerhebung auf<br />

das erkennende Gericht übergehe, wird maßgeblich mit dem<br />

Grundsatz des Übergangs der Verfahrensherrschaft auf das<br />

erkennende Gericht nach Erhebung der Anklage begründet. 20<br />

19 Angesprochen ist damit der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung,<br />

vgl. Krekeler/Löffelmann, in: Dies. (Hrsg.),<br />

Anwaltkommentar Strafprozessordnung, 2007, Einleitung<br />

Rn. 31 m.w.N.; vgl. dazu auch Singelnstein, NStZ 2009, 481<br />

(485).<br />

20 Vgl. Erb, in: ders./Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/<br />

Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und<br />

das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 162<br />

Betrachtet man diesen Schluss näher, so drängen sich Ungereimtheiten<br />

auf, die seine Berechtigung in Frage stellen:<br />

a) Der Übergang der Verfahrensherrschaft auf das erkennende<br />

Gericht bedeutet nicht zugleich deren Entzug für die<br />

Staatsanwaltschaft. Denn bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens<br />

– also bis das Gericht die Verfahrensherrschaft durch<br />

einen Willensakt ausdrücklich angenommen hat und das<br />

Verfahren damit rechtshängig geworden ist – kann die<br />

Staatsanwaltschaft die Anklage jederzeit zurücknehmen und<br />

das Verfahren damit in den Stand des Ermittlungsverfahrens<br />

zurücksetzen (vgl. § 156). 21 Der Grundsatz muss dahin konkretisiert<br />

werden, dass die Staatsanwaltschaft die Dispositionsbefugnis<br />

über die Anklage verliert.<br />

b) Der Übergang der Verfahrensherrschaft auf das erkennende<br />

Gericht bedeutet nicht zugleich, dass die Staatsanwaltschaft<br />

nach Anklageerhebung nicht mehr aus eigener Machtvollkommenheit<br />

in Bezug auf das Verfahren handeln dürfte.<br />

Sie ist dazu sogar ausdrücklich berufen. Für Sonderakten<br />

(§ 101 Abs. 2) ist die Staatsanwaltschaft weiterhin aktenführende<br />

Behörde. Aus § 98 Abs. 3 22 , § 108 Abs. 1 S. 2 23 , § 110<br />

Abs. 2 24 und anderen Vorschriften, sowie aus der Verpflichtung<br />

der Strafverfolgungsbehörden zur bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung<br />

im Falle gesperrter Beweismittel (§ 96) 25<br />

Rn. 52, 52a; Griesbaum, in: Hannich (Fn. 10), § 162 Rn. 14,<br />

20; Nack (Fn. 11), § 98 Rn. 31; Meyer-Goßner (Fn. 11),<br />

§ 162 Rn. 16, 19.<br />

21 Meyer-Goßner (Fn. 11), § 156 Rn. 2.<br />

22 Wohlers, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

56. Lieferung, Stand: Februar 2008, § 98<br />

Rn. 32; Schäfer, in: Rieß, (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />

Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,),<br />

Bd. 2, 25. Aufl. 2004, § 98 Rn. 41.<br />

23 Die Staatsanwaltschaft soll durch die Benachrichtigung in<br />

die Lage versetzt werden, zu prüfen, ob die vorläufig beschlagnahmten<br />

Gegenstände in einem anderen – ggf. noch<br />

von ihr einzuleitenden – Ermittlungsverfahren gemäß §§ 94,<br />

98 zu beschlagnahmen sind.<br />

24 Auch bei Anordnung der Durchsuchung durch das erkennende<br />

Gericht ist die Staatsanwaltschaft – wohl neben dem<br />

anordnenden Gericht (vgl. Meyer-Goßner [Fn. 11], § 110<br />

Rn. 3) – zur Durchsicht ermächtigt.<br />

25 Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht haben, sofern<br />

sie das Zurückhalten des Beweismittels für rechtswidrig<br />

halten, nach Ausschöpfen aller sonstigen Möglichkeiten zur<br />

Herbeiführung einer abweichenden Entscheidung die oberste<br />

Justizbehörde mit dem Ziel einzuschalten, an die oberste<br />

Innenbehörde eine Gegenvorstellung zu richten und, wenn<br />

diese erfolglos bleibt, eine Entscheidung der Landesregierung<br />

durch Kabinettsbeschluss herbeizuführen (vgl. BGH NJW<br />

2007, 3010 [3012 f.]). Die in Rede stehende Tatsache kann<br />

zudem grundsätzlich durch das Erheben anderer Beweismittel<br />

aufgeklärt werden (vgl. BGHSt 31, 148 = NJW 1983, 1005;<br />

BGHSt 31, 290 [294] = NJW 1983, 1572; BGHSt 33, 70 =<br />

NJW 1985, 986; BGHSt 33, 83 = NJW 1985, 984; BGHSt<br />

33, 178 = NJW 1985, 1789; BGHSt 36, 159 = NJW 1989,<br />

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Markus Löffelmann<br />

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ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft auch nach Anklageerhebung<br />

– neben der entsprechenden Kompetenz des erkennenden<br />

Gerichts (vgl. § 202 S. 1, § 244 Abs. 2) – zu eigenen<br />

Ermittlungen berechtigt ist. 26<br />

c) Der Übergang der Verfahrensherrschaft auf das erkennende<br />

Gericht beseitigt nicht das alle Verfahrensstadien<br />

übergreifende und das Strafverfahren als Erkenntnisprozess<br />

kennzeichnende Ziel der Wahrheitserforschung 27 , an dessen<br />

Verwirklichung die Staatsanwaltschaft als ein dem Gericht<br />

gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege zu jedem Zeitpunkt<br />

des Verfahrens beteiligt ist. 28 Die streitige Frage, mit<br />

welchen Konsequenzen der Übergang der Verfahrensherrschaft<br />

verbunden ist, muss in solchermaßen größerem Zusammenhang<br />

beantwortet werden.<br />

d) In einem spezifischeren Sinne kann man Verfahrensherrschaft<br />

dergestalt definieren, „dass das Gericht für den<br />

weiteren Verfahrensablauf die Verantwortung trägt und bei<br />

seinen Entscheidungen in Anwendung des Strafgesetzes nicht<br />

an die gestellten Anträge gebunden ist.“ 29 Das bedeutet einerseits<br />

nicht – dies sei hier wiederholt –, dass die Staatsanwaltschaft<br />

keinerlei Verantwortung mehr trage und keine eigenen<br />

Entscheidungen mehr treffen könne. Andererseits bezieht<br />

sich die Verfahrensherrschaft des erkennenden Gerichts freilich<br />

nur auf den Bestandteil des Verfahrens, der ihm mit der<br />

Anklage unterbreitet wurde. Über abgetrennte, nicht oder bei<br />

anderen Gerichten angeklagte Verfahrensteile erlangt das<br />

erkennende Gericht keine Verfahrensherrschaft und kann<br />

insoweit keine „divergierenden Entscheidungen“ verhindern.<br />

e) Vor allem aber umfasst der so verstandene Grundsatz<br />

vom Übergang der Verfahrensherrschaft keinerlei Aussage<br />

über einen etwaigen Übergang der Zuständigkeit auf das<br />

erkennende Gericht für die Entscheidung über – bereits angebrachte<br />

oder noch zu erhebende – Rechtsbehelfe, die das<br />

Ermittlungsverfahren betreffen. Versteht man Strafverfah-<br />

3291; BGH NStZ 2002, 368; BVerfG, Beschl. v. 29.3.2007 –<br />

2 BvR 197/07, BeckRS 2007, 23976).<br />

26 So die h.M. unter der (von RGSt 60, 263 vorgegebenen)<br />

Voraussetzung, dass mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft<br />

keine „Störung des gerichtlichen Verfahrens“ verbunden<br />

ist, vgl. Meyer-Goßner (Fn. 11), § 162 Rn. 16, § 202<br />

Rn. 5; OLG Stuttgart MDR 1983, 955; Roxin, Strafverfahrensrecht,<br />

25. Aufl. 1998, § 10 Rn. 7; die Gegenauffassung<br />

stellt auf die Zäsurwirkung des § 169a und die sachliche<br />

Begrenzung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsbefugnis<br />

in § 160 Abs. 1 („zu ihrer Entschließung darüber, ob die<br />

öffentliche Klage zu erheben ist“) ab (vgl. Strauß, NStZ<br />

2006, 556; Strate, StV 1985, 337; Weßlau, in: Rudolphi u.a.<br />

(Fn. 22), § 151 Rn. 7), ohne das Verhältnis von Staatsanwaltschaft<br />

und Gericht aber in einem umfassenderen, auf die<br />

Ziele des Strafverfahrens bezogenen, Lichte zu würdigen.<br />

27 Näher Löffelmann, Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung<br />

im Strafverfahren, 2008, S. 99 ff. m.w.N.<br />

28 Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft,<br />

1994, S. 278; Krey, JA 1985, 62.<br />

29 Roxin (Fn. 26), § 38 Rn 10.<br />

rensrecht – zurecht – als „angewandtes Verfassungsrecht“ 30<br />

und definiert daher den Verfahrensbegriff vor dem Hintergrund<br />

der durch das Verfahren vermittelten Grundrechtseingriffe,<br />

so zeigt sich, dass zahlreiche Verfahren – von der<br />

Begründung des Anfangsverdachts bis zur Löschung der das<br />

Verfahren betreffenden personenbezogenen Daten – unterschieden<br />

werden müssen, die ihren jeweils eigenen Regeln<br />

folgen. Jede Ermittlungsmaßnahme und jede Erhebung und<br />

Verwendung 31 personenbezogener Daten begründet – soweit<br />

ihnen nicht ausnahmsweise die Eingriffsqualität fehlt – 32 für<br />

jeden einzelnen Betroffenen einen Eingriff in ein spezifisches<br />

Grundrecht, der eine Ermächtigungsgrundlage erfordert und<br />

in einem eigens dafür vorgesehenen Verfahren 33 gerichtlich<br />

überprüft werden kann. Auf diese Verfahren bezieht sich der<br />

Grundsatz vom Übergang der Verfahrensherrschaft nicht.<br />

f) Eine gerne für den Zuständigkeitsübergang als Referenz<br />

in Anspruch genommene vermeintliche „lang andauernde<br />

Tradition in der Rechtsprechung“ 34 , erweist sich bei näherer<br />

Betrachtung als wenig verlässliche Rechtsgeschichtsinterpretation.<br />

Die Argumentation in den betreffenden Entscheidungen<br />

des BGH vom 26.10.1972 35 , vom 15.9.1977 36 und<br />

vom 1.2.1980 37 ist dünn und nicht verallgemeinerungsfähig.<br />

In den Entscheidungen vom 26.10.1972 und vom 1.2.1980<br />

handelt es sich um Haftsachen, also um in der Regel bis zum<br />

30 BVerfGE 32, 373, 383 = NJW 1972, 1123 (1125); BGHSt<br />

19, 325 (330) = JZ 1965, 32 (34) m.w.N.<br />

31 Vgl. die Verwendungsregelungen in § 161 Abs. 2, § 477<br />

Abs. 2 S. 2 und 3, außerdem die Sonderregelungen für die<br />

akustische Wohnraumüberwachung in § 100d Abs. 5, für den<br />

Einsatz des IMSI-/IMEI-Catchers in § 100i Abs. 2 S. 2, für<br />

den Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung in § 161<br />

Abs. 3, sowie in § 101 Abs. 8 S. 3 und § 489 Abs. 7 S. 2 und<br />

3 für Daten, die nur noch für einen bestimmten Zweck aufbewahrt<br />

werden dürfen, ferner die bereichsspezifischen Verwendungsverbote,<br />

etwa in § 14 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BDSG,<br />

§ 30 Abs. 2, Abs. 4 Nr. 4 AO, § 97 Abs. 1 S. 3 InsO, § 35<br />

Abs. 1 und 2 SGB I i.V.m. §§ 68, 73 SGB X, § 14 Abs. 4<br />

TransfG, § 39 Abs. 3 und 4 PostG oder § 4 Abs. 2 S. 4 und 5<br />

ABMG.<br />

32 So etwa die automatische und anonyme Aussonderung<br />

personenbezogener Daten im Rahmen der Rasterfahndung,<br />

Zielwahlsuche oder Erhebung der IMSI/IMEI eines Mobiltelefons,<br />

vgl. BT-Drs. 16/5846, S. 57; BVerfGE 100, 313 (366)<br />

= NJW 2000, 55 (59); BVerfGE 107, 299 (328) = NJW 2003,<br />

1787 (1792 f.); BVerfGE 115, 320 (343) = NJW 2006, 1939<br />

(1941); BVerfGE 120, 378 = NJW 2008, 1505 (1507);<br />

BVerfG NJW 2009, 1405 f.<br />

33 Vgl. näher Löffelmann, StV 2009, 379 f.<br />

34 OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2006, 44 (46).<br />

35 BGH NJW 1973, 477; dieser Entscheidung vorangehend<br />

bereits OLG Oldenburg NJW 1957, 233; OLG Karlsruhe<br />

NJW 1972, 1723.<br />

36 BGHSt 27, 253 = NJW 1977, 2175; dem folgend OLG<br />

Karlsruhe wistra 1998, 76.<br />

37 BGHSt 29, 200 = NJW 1980, 1401.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

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Ende des Hauptverfahrens fortdauernde Eingriffe. 38 Das<br />

Argument, das erkennende Gericht sei verpflichtet, in jeder<br />

Lage des Verfahrens von sich aus die Haftvoraussetzungen<br />

zu prüfen 39 , ist auf – zu Beginn der Hauptverhandlung in der<br />

Regel abgeschlossene – Ermittlungsmaßnahmen gerade nicht<br />

generell übertragbar. In der erstgenannten Entscheidung war<br />

außerdem keine Anklageerhebung erfolgt, sondern eine Verweisung<br />

der Sache an die Landesjustiz gemäß § 142a Abs. 4<br />

GVG. Das entscheidende Argument, auf das alle Entscheidungen<br />

abstellen, dass ein „derartiges Nebeneinander von<br />

Zuständigkeiten und die damit verbundene Gefahr einander<br />

widersprechender Entscheidungen in der gleichen Sache“<br />

durch das anordnende und das erkennende Gericht ein „unerträgliches<br />

Ergebnis“ seien, das der „Gesetzgeber nicht gewollt<br />

haben“ könne, 40 wird weiter unten noch zu vertiefen<br />

sein.<br />

g) Eine jüngere Entscheidung des OLG Frankfurt vom<br />

1.12.2005 41 bringt zusätzliche Gesichtspunkte ins Spiel. Erstens:<br />

§ 162 sei Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens,<br />

dass mit Anklageerhebung jedwede Kompetenz des Ermittlungsrichters<br />

beendet sei und auf das erkennende Gericht<br />

übergehe. Das Argument ist zirkulär, denn § 162 wird hier im<br />

Lichte des Grundsatzes vom Übergang der Verfahrensherrschaft<br />

interpretiert, um den Übergang der Zuständigkeit zu<br />

begründen. Tatsächlich enthält § 162 keinerlei solchen<br />

Rechtsgedanken, sofern dieser nicht bereits vorausgesetzt<br />

wird, sondern nur eine Aussage über das Verhältnis von<br />

Staatsanwaltschaft und Ermittlungsgericht. Zweitens, so das<br />

OLG, könne es „keinen Unterschied machen, ob es um die<br />

gerichtliche Bestätigung einer noch fortdauernden Ermittlungsmaßnahme<br />

der StA oder die an ihre Stelle tretende Feststellung<br />

ihrer Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit“ gehe.<br />

Begründet wird das nicht, obwohl doch gerade bei beendeten<br />

Maßnahmen keine Gefahr einer divergierenden Entscheidung<br />

über dieselbe Sache besteht. Drittens spreche für den Übergang<br />

der Zuständigkeit, dass das erkennende als das „sachverhaltsnähere<br />

Gericht“ effektiveren Rechtsschutz gewähren<br />

könne. Warum diese Qualität nicht eher dem anordnenden<br />

oder dem Beschwerdegericht zukomme, die ja mit den spezifischen<br />

durch die Ermittlungsmaßnahme vermittelten Grundrechtseingriffen<br />

befasst sind und dadurch eine entsprechende<br />

Expertise ausprägen, erfährt man nicht. 42 Viertens stellt das<br />

Gericht tragend auf eine angebliche Folgerung des BGH aus<br />

§ 100d Abs. 6 a.F. ab, die der BGH geradezu in umgekehrter<br />

Weise angestellt hat. 43<br />

38 Ebenso bei OLG Oldenburg NJW 1957, 233; OLG Karlsruhe<br />

NJW 1972, 1723.<br />

39 BGH NJW 1973, 477 (478).<br />

40 BGH a.a.O.<br />

41 OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2006, 44.<br />

42 In diese Richtung zielt auch das Argument, aufgrund der<br />

zeitnahen Rekonstruktion der Beweislage komme der Beschwerde<br />

eine weitaus größere Effektivität als einer lediglich<br />

inzidenten Überprüfung durch das erkennende Gericht zu,<br />

Schmidt, NStZ 2009, 243 (245).<br />

43 BGHSt 44, 265 = NStZ 1999, 200 (202). Dort befasst sich<br />

der BGH mit der Zulässigkeit des Erwirkens nachträglichen<br />

h) Auf eine notwendige weitere Verkleinerung des dargestellten<br />

engen Rahmens eines Übergangs der Verfahrensherrschaft<br />

deutet ein verfassungsrechtliches Argument: Das<br />

BVerfG hat in seiner Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung<br />

mit Blick auf den Anspruch auf rechtliches<br />

Gehör Betroffener gefordert, dass im Falle einer Zurückstellung<br />

der Benachrichtigung des Angeklagten dem in<br />

der Hauptsache erkennenden Gericht nicht Informationen zur<br />

Verfügung stehen dürften, von denen der Angeklagte keine<br />

Kenntnis habe. 44 Der Gedanke ist verallgemeinerbar und hat<br />

den Gesetzgeber zur Schaffung der Zuständigkeitsregelung<br />

des § 74a Abs. 4 GVG veranlasst. 45 Ein derartiges Informationsungleichgewicht<br />

kann aber nicht nur bei der akustischen<br />

Wohnraumüberwachung eintreten, sondern grundsätzlich bei<br />

jeglichen anderen Entscheidungen des erkennenden Gerichts<br />

im Zusammenhang mit Ermittlungsmaßnahmen, sei es im<br />

gegenständlichen, einem Parallel- oder einem Rechtsschutzverfahren.<br />

46 Die einzige Abhilfe wäre hier eine strikte Trennung<br />

der Aufgaben von anordnendem und erkennendem<br />

Gericht auch nach Anklageerhebung. 47<br />

2. Das Dogma von der notwendigen Einheitlichkeit denselben<br />

Gegenstand betreffender Entscheidungen<br />

Das zentrale Argument aller Befürworter eines Übergangs<br />

der Entscheidungszuständigkeit auf das erkennende Gericht<br />

ist das der Vermeidung divergierender Entscheidungen über<br />

dieselbe Sache. So bestechend dieser Schluss auf den ersten<br />

Blick anmutet, so schief ist er auch.<br />

a) Die Qualifikation „in derselben Sache“ ist ungenau und<br />

irreführend. Das erkennende Gericht entscheidet nicht isoliert<br />

über die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme, sondern<br />

allenfalls als Vorfrage zu seiner Bewertung der Verwertbarkeit<br />

erlangter Erkenntnisse. 48 Abgesehen von allen methodischen<br />

Fragwürdigkeiten der Lehre von den Verwertungsver-<br />

Rechtsschutzes gegen die Art und Weise des Vollzugs einer<br />

nichtrichterlich angeordneten abgeschlossenen Durchsuchung<br />

entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 und folgert aus dem Instrument<br />

des nachträglichen Rechtsschutzes gemäß § 100d Abs. 6 a.F.<br />

(dem § 101 Abs. 7 S. 2 nachgebildet ist), dass der Gesetzgeber<br />

für die Art und Weise des Vollzugs „das anordnende<br />

Gericht für sachverhaltsnäher und zudem eine einheitliche<br />

Überprüfung von Rechtmäßigkeit und Art und Weise des<br />

Vollzugs durch dieses Gericht für den effektiveren Rechtsschutz“<br />

halte. Nach OLG Frankfurt/Main folgere der BGH<br />

aus § 100d Abs. 6 a.F. hingegen, dass nach Anklageerhebung<br />

für die Feststellung der Rechtswidrigkeit erledigter staatsanwaltschaftlicher<br />

Ermittlungsmaßnahmen „das mit der Sache<br />

befasste Gericht, hier also die erkennende Kammer“ zuständig<br />

sei.<br />

44 BVerfGE 109, 279, 368 ff., 371 = NJW 2004, 999 (1017 f.)<br />

45 Vgl. BT-Drs. 15/4533, S. 20; 15/5486, S. 18.<br />

46 Vgl. bereits Löffelmann, ZStW 118 (2006), 358 (363 f.)<br />

m.w.N.<br />

47 Vgl. bereits Löffelmann (Fn. 27), S. 180 ff.<br />

48 Vgl. eingehend Landau/Sander, StraFo 1998, 397 (400 f.);<br />

Schlothauer, StraFo 1998, 402 (403 f.); Nack (Fn. 11), § 101<br />

Rn. 35.<br />

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Markus Löffelmann<br />

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boten 49 hat jedenfalls die Rechtswidrigkeit einer Ermittlungsmaßnahme<br />

niemals automatisch ein Verwertungsverbot<br />

zur Folge, sondern soll nach der die Rechtsprechung dominierenden<br />

Abwägungslehre im Ausnahmefall die Konsequenz<br />

einer Vielzahl gegeneinander abzuwägender Kriterien sein. 50<br />

Auf die Rechtswidrigkeit der Ermittlungsmaßnahme mag es<br />

also für das erkennende Gericht gar nicht ankommen, namentlich,<br />

wenn es das Beweismittel gar nicht für seine Entscheidung<br />

heranzieht.<br />

b) Das erkennende Gericht legt ferner seiner Entscheidung<br />

über die Verwertbarkeit einen anderen Maßstab<br />

zugrunde. Während das anordnende oder das Beschwerdegericht<br />

die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung in<br />

formeller und materieller Hinsicht in vollem Umfang auf<br />

Grundlage ihrer aktuellen Sachverhaltskenntnis prüfen, 51 legt<br />

das erkennende Gericht die Sachverhaltskenntnis der anordnenden<br />

Stelle und deren Beurteilungsspielraum an und lässt<br />

spätere Erkenntnisse grundsätzlich außer Betracht. 52 Divergierende<br />

Entscheidungen über „dieselbe Sache“ sind hier also<br />

von vornherein mangels eines identischen Prüfungsgegenstands<br />

und Prüfungsmaßstabs ausgeschlossen. Nach ganz<br />

herrschender Ansicht hat die Entscheidung des anordnenden<br />

oder des Beschwerdegerichts – abgesehen von den Fällen des<br />

§ 100c Abs. 7 S. 2 – deshalb auch keine Bindungswirkung<br />

für das erkennende Gericht. 53<br />

c) Divergierende Entscheidungen sind im Strafverfahren<br />

Gang und Gäbe. Verwertungsverbote können sich etwa aufgrund<br />

der Dispositionsbefugnis der Angeklagten für mehrere<br />

Mitangeklagte ganz unterschiedlich auswirken. 54 Für mehrere<br />

Angeklagte verschieden sachlich und örtlich zuständige Gerichte<br />

können zu ganz unterschiedlichen Wertungen desselben<br />

tatsächlichen und rechtlichen Sachverhalts kommen.<br />

d) Einander widersprechende Entscheidungen sind Bestandteil<br />

der das Strafverfahren prozedural leitenden erkennt-<br />

49 Vgl. dazu näher Löffelmann, JR 2009, 10.<br />

50 Meyer-Goßner (Fn. 11), Einleitung Rn. 55; kritisch dazu<br />

Löffelmann (Fn. 27), S. 51 f., 110 ff. m.w.N.<br />

51 Meyer-Goßner (Fn. 11), § 98 Rn. 17, 22; dadurch darf<br />

allerdings nicht die Funktion präventiver Kontrolle durch den<br />

Richtervorbehalt ausgehebelt werden, vgl. BVerfG NJW<br />

2004, 3171: Beschränkung des Prüfungsmaßstabs für die<br />

Umgrenzung von Tatvorwurf und Beweismitteln; ebenso<br />

BVerfGK 5, 84 (88) = NStZ-RR 2005, 207; BVerfGK 5, 347<br />

(353) = StraFo 2005, 377; BVerfG, Beschl. v. 31.10.2007 –<br />

2 BvR 1346/07 (zur Veröffentlichung vorgesehen in<br />

BVerfGK); BVerfG NJW 2009, 2518 (2521).<br />

52 BGHSt 41, 30 (33) = NJW 1995, 1974; BGHSt 47, 362 =<br />

NJW 2003, 368.<br />

53 Eingehend dazu Schmidt, NStZ 2009, 243; BT-Drs. 16/5846,<br />

S. 36, 62.<br />

54 Sog. Widerspruchslösung, vgl. BGHSt 38, 214 (225 f.) =<br />

NJW 1992, 1463 (1466); BGHSt 39, 349 (351) = NJW 1994,<br />

333; BGHSt 42, 15 (22 ff.) = NJW 1996, 1547 (1549); auch<br />

die Widerspruchslösung ist in Grundsatz und Reichweite<br />

nicht unumstritten, vgl. BGHSt 47, 362 (366 f.); BGH StV<br />

2006, 225 (226); Jahn, Verhandlungen des 67. DJT, 2008,<br />

Bd. 1, Teil C, S. 112.<br />

nistheoretischen Idee einer durch Intersubjektivität zu erlangenden<br />

Objektivität. 55 Diese Idee verwirklicht das Strafverfahrensrecht<br />

zum Beispiel durch Kollegialorgane, den Instanzenzug,<br />

Verfahrensrechte von Beteiligten, die Berücksichtigung<br />

von Opferinteressen. Sie rückt damit die Person – den<br />

verantwortlich handelnden und dazu legitimierten Menschen<br />

– in den Mittelpunkt des Rechtsfindungs- und Rechtsanwendungsprozesses,<br />

sowohl auf Seiten der von ihm Betroffenen<br />

als auch der zu seiner Durchführung Berufenen. Die Möglichkeit<br />

divergierender Entscheidungen ist generell keine<br />

Gefahr, sondern ein Gewinn für das Strafverfahren.<br />

3. Das Dogma von der besonderen Schutzbedürftigkeit der<br />

von verdeckten Ermittlungsmaßnahmen Betroffenen<br />

Die oben dargestellten Problemlagen haben schließlich maßgeblich<br />

mit dem unklaren Verhältnis konkurrierender<br />

Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen zu tun. Die<br />

Schaffung des § 101 Abs. 7 S. 2 durch das Gesetz vom<br />

21.12.2007 geht auf den Gedanken einer besonderen Schutzbedürftigkeit<br />

von Betroffenen verdeckter Ermittlungsmaßnahmen<br />

zurück. Ohne die Schwere heimlicher Ermittlungen<br />

verharmlosen zu wollen, kann man über die Tragfähigkeit<br />

dieser Annahme und die Schlüssigkeit der aus ihr abgeleiteten<br />

Folgerungen nachdenken. Die besondere Eingriffsintensität<br />

verdeckter Maßnahmen wird überwiegend mit drei Gesichtspunkten<br />

begründet: Ihrer Heimlichkeit, ihrer Streubreite<br />

und der durch sie vermittelten Verletzung hochrangiger<br />

Rechtsgüter.<br />

a) Die Auffassung, dass heimliches Ermitteln an sich besonders<br />

eingriffsintensiv sei, ist nicht selbstevident, begründet<br />

man den erforderlichen normativen Zusammenhang nicht<br />

mit einer emotiven Wertung von Heimlichkeit. Offenen Maßnahmen<br />

eignet in höherem Maße die Öffentlichkeit des<br />

Zwangs und damit die „Bloßstellung“ des Betroffenen. Offene<br />

und verdeckte Maßnahmen sind ihrer Natur nach verschieden,<br />

weshalb es wenig Sinn macht, dieselbe zum Maßstab<br />

ihrer Kategorisierung heranzuziehen. Die Bandbreite der<br />

Eingriffsintensität heimlicher Maßnahmen ist groß, sie reicht<br />

von der akustischen Wohnraumüberwachung bis hin zur<br />

automatisierten Rasterung von Daten, der noch keine Eingriffsqualität<br />

zukommt. 56 Das BVerfG hat festgestellt, die<br />

Heimlichkeit als solche stehe der Zulässigkeit solcher Maßnahmen<br />

nicht von vornherein entgegen, da mit dem heimlichen<br />

Beobachten des Menschen nicht zwingend eine Missachtung<br />

seines Wertes als Mensch einhergehe. 57<br />

b) Dass die Streubreite verdeckter Maßnahmen besonders<br />

hoch sei, ist weder verallgemeinerungsfähig noch rechtstatsächlich<br />

58 belegt. Die Betroffenheit Dritter bei der akusti-<br />

55 Vgl. etwa Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997,<br />

S. 44 ff., 63, 86 ff. u.ö.<br />

56 Vgl. die Nachweise oben Fn. 32.<br />

57 BVerfGE 109, 279 (313) = NJW 2004, 999 (1002); vgl.<br />

auch Löffelmann, ZStW 118 (2006), 358 (380).<br />

58 Die drei von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen<br />

rechtstatsächlichen Gutachten des Max-Planck-Instituts Freiburg<br />

(Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz<br />

der Überwachung der Telekommunikation nach den<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

500<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

schen Wohnraumüberwachung ist schon deshalb vergleichsweise<br />

gering, weil bei Anwesenheit einer großen Anzahl von<br />

Personen in den überwachten Räumlichkeiten eine Zuordnung<br />

der Äußerungen nicht mehr möglich und damit die<br />

Maßnahme ungeeignet ist. Bei der Postbeschlagnahme ebenso<br />

wie bei der Telekommunikationsüberwachung hängt die<br />

Streubreite entscheidend von der Eingrenzung der Maßnahme<br />

im Anordnungsbeschluss ab. Maßnahmen mit sehr großer<br />

Streubreite, wie der Einsatz des IMSI-/IMEI-Catchers, die<br />

Zielwahlsuche und die Rasterfahndung entbehren in der Regel<br />

im Hinblick auf Drittbetroffene der Eingriffsqualität. 59<br />

Auf der anderen Seite können zahlreiche Personen von<br />

Durchsuchungen – etwa bei Geschäftsräumlichkeiten – betroffen<br />

sein, ebenso im Falle des Mitbesitzes von Beschlagnahmen;<br />

die DNA-Massenuntersuchung und Straßenkontrollen<br />

nach § 111 dürften wohl zu den Maßnahmen mit der<br />

größten Streubreite zählen.<br />

c) Das Argument, heimliche Ermittlungen griffen in besonders<br />

hochwertige Grundrechte ein, findet in der Verfassung<br />

keine Stütze. Abgesehen von der Sonderstellung des<br />

Art. 1 Abs. 1 GG sieht das Grundgesetz eine Rangfolge der<br />

Grundrechte nicht vor. Häufig sind von verdeckten wie offenen<br />

Ermittlungsmaßnahmen dieselben Grundrechte betroffen;<br />

60 außerdem können verdeckte Ermittlungen auch offen<br />

durchgeführt werden. 61 Die Abgrenzung, welches Grundrecht<br />

betroffen ist, bereitet häufig Schwierigkeiten, zum Beispiel<br />

im Falle der Beschlagnahme von Datenträgern mit Telekommunikationsdaten,<br />

62 dem Einsatz des IMSI-/IMEI-Catchers, 63<br />

der sog. Online-Durchsuchung 64 oder der Beschlagnahme<br />

beim Provider gespeicherter E-Mails. 65 Was den Kernbereich<br />

privater Lebensgestaltung anbelangt, so gibt es keinerlei<br />

empirische Anhaltspunkte dafür, dass die Häufigkeit, mit der<br />

§§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen,<br />

2003; Meyer-Wieck, Der Große Lauschangriff. Eine<br />

empirische Untersuchung zu Anwendung und Folgen des<br />

§ 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, 2005; Albrecht/Grafe/Kilchling,<br />

Rechtswirklichkeit der Auskunftserteilung über Telekommunikationsverbindungsdaten<br />

nach §§ 100g, 100h StPO, 2008)<br />

enthalten zwar Aussagen zur Betroffenheit Dritter; diese<br />

Erkenntnisse sind aber mangels Vergleichsgruppe der von<br />

offenen Maßnahmen Betroffenen wenig aussagekräftig.<br />

59 Vgl. die Nachweise oben Fn. 32.<br />

60 Etwa Art. 13 GG bei Durchsuchung und akustischer<br />

Wohnraumüberwachung; das Recht auf informationelle<br />

Selbstbestimmung bei der Beschlagnahme personenbezogener<br />

Daten und der Rasterfahndung.<br />

61 Vgl. § 100a Abs. 1, § 100c Abs. 1, § 100f Abs. 1, § 100g<br />

Abs. 1 S. 1, § 100h Abs. 1 S. 1: „Auch ohne Wissen der Betroffenen<br />

[…].“<br />

62 BVerfGK 5, 74 = NJW 2005, 1637; BVerfGE 115, 166 =<br />

NJW 2006, 976; daran anschließend BGH MMR 2006, 541<br />

(Auswertung gespeicherter SMS); BVerfG NJW 2007, 3343;<br />

BVerfG NJW 2008, 822; BVerfG NJW 2009, 2516.<br />

63 BVerfGK 9, 62 = NJW 2007, 351.<br />

64 BVerfG NJW 2008, 822.<br />

65 BVerfG NJW 2009, 2431; vgl. auch BGH NJW 2009,<br />

1828.<br />

überwachte Personen im direkten Gespräch 66 oder am Telefon<br />

67 kernbereichsrelevante Äußerungen austauschen, größer<br />

sei als jene, solche Informationen in Tagebücher einzutragen<br />

68 oder auf Computern zu speichern.<br />

d) Logisch nicht von der Hand zu weisen ist das Argument,<br />

dass, wer Rechtsschutz gegen eine hoheitliche Maßnahme<br />

erlangen möchte, von dieser zunächst Kenntnis haben<br />

muss. Benachrichtigungspflichten im Hinblick auf Betroffene<br />

verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sind daher ein unabdingbares<br />

Erfordernis effektiven Rechtsschutzes. 69<br />

e) Betrachtet man die anderen, nun in § 101 gebündelten,<br />

prozeduralen Kompensationsmechanismen für die angenommene<br />

besondere Eingriffsintensität verdeckter Ermittlungsmaßnahmen,<br />

so erscheint ihre ausschließliche Anbindung an<br />

diese aber fragwürdig. Das Führen von Sonderakten für bestimmte<br />

Maßnahmen (§ 101 Abs. 2), die Kennzeichnungspflicht<br />

für personenbezogene Daten (§ 101 Abs. 3) und die<br />

Pflicht zu deren Löschung (§ 101 Abs. 8 70 ) stehen in keinem<br />

inneren Zusammenhang mit der Heimlichkeit der jeweiligen<br />

Maßnahme. Zudem enthält das Achte Buch der StPO zahlreiche<br />

datenschutzrechtliche Regelungen, namentlich in § 489<br />

allgemeine Löschungspflichten. Die vormals im 8. Abschnitt<br />

des Ersten Buchs und 2. Abschnitt des Zweiten Buchs verstreuten<br />

Verwendungsregelungen hingegen wurden mit dem<br />

Gesetz vom 21.12.2007 in § 477 Abs. 2 S. 2 und 3 und § 161<br />

Abs. 2 auf jegliche Ermittlungsmaßnahmen erstreckt. 71 Dasselbe<br />

gilt für den vorher nur vereinzelt in § 100c Abs. 6 S. 1<br />

und § 100h Abs. 2 a.F. vorgesehenen Schutz von Berufsgeheimnisträgern<br />

im neuen § 160a. 72<br />

f) Noch augenfälliger wird das Ungleichgewicht des verfahrenssichernden<br />

Instrumentariums bei verdeckten bzw.<br />

offenen Maßnahmen bei der Gewährung nachträglichen<br />

Rechtsschutzes in § 101 Abs. 7 S. 2 bis 4. Das mit der Ein-<br />

66 Vgl. § 100c Abs. 4 und 5; BVerfGE 109, 279 (314 ff.) =<br />

NJW 2004, 999 (1002 ff.); BT-Drs. 15/4533 S. 14; BVerfG<br />

NJW 2007, 2753 (2755); BGHSt 50, 206 = NJW 2005, 3295.<br />

67 Vgl. die mit dem Gesetz vom 21.12.2007 eingeführte Vorschrift<br />

des § 100a Abs. 4; BT-Drs. 16/5846, S. 43 ff.; BVerfG<br />

NJW 2005, 2603 (2611 f.); gegen die Vorschrift ist derzeit<br />

eine Verfassungsbeschwerde unter Az 2 BvR 236, 237/08<br />

anhängig; vgl. dazu bereits die einstweilige Anordnung<br />

BVerfG NVwZ 2009, 103.<br />

68 BVerfGE 80, 367 = NJW 1990, 563.<br />

69 Vgl. BVerfGE 109, 279 (364 ff.) = NJW 2004, 999 (1015 ff.);<br />

BVerfG NJW 2006, 1939 (1944).<br />

70 Vgl. auch die speziellen Regelungen in § 98b Abs. 3 S. 2,<br />

§ 100c Abs. 5 S. 2 für Daten aus dem Kernbereich, § 100d<br />

Abs. 5 Nr. 2 S. 3 bis 5 für Daten zur Gefahrenabwehr, § 100i<br />

Abs. 2 S. 2 für Daten Dritter, § 163d Abs. 4 S. 2 und 3.<br />

71 BT-Drs. 16/5846, S. 64, 66: „Gleichbehandlung aller vom<br />

Verdacht bestimmter Straftaten abhängiger Ermittlungsmaßnahmen.“<br />

72 BT-Drs. 16/5846, S. 25 (34 f.) (zu der im Regierungsentwurf<br />

noch als § 53b vorgesehenen Vorschrift): Für eine „Differenzierung<br />

von verdeckten und offenen Ermittlungsmaßnahmen“<br />

seien „insoweit keine durchgreifenden tragfähigen<br />

Gründe erkennbar“.<br />

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501


Markus Löffelmann<br />

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führung dieses Rechtsbehelfs einhergehende Konfliktpotential<br />

wurde oben (I. 2.) ausführlich dargestellt. Fraglich ist, ob<br />

und warum es eines solchen besonderen Rechtsbehelfs bedarf,<br />

73 gerade vor dem Hintergrund der großzügigen (und<br />

deshalb etwas konturlosen) Rechtsprechung des BVerfG zur<br />

Zulässigkeit nachträglicher Rechtsschutzbegehren. 74 Verfassungsrechtlich<br />

ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des<br />

Rechtsschutzsystems weitgehend frei. Er hat lediglich die<br />

einmalige Möglichkeit zur Einholung einer gerichtlichen<br />

Entscheidung über ein behauptetes Recht zu eröffnen. 75 Mit<br />

dem allgemeinen Instrumentarium ist das gegeben.<br />

III. Eine vorsichtige Korrektur der kritisierten Grundsätze<br />

würde eine erhebliche und der Rechtssicherheit<br />

dienliche Vereinfachung des Rechtsschutzsystems gegen<br />

Ermittlungsmaßnahmen ermöglichen<br />

Welche Schlüsse kann man aus den aufgezeigten Verwerfungen<br />

ziehen 1. Die zusätzliche Gewährung nachträglichen<br />

Rechtsschutzes nach § 101 Abs. 7 S. 2 bis 4 ist überflüssig<br />

und verkompliziert unnötig die Rechtsanwendung; es wäre<br />

kein Verlust, die Vorschrift wieder abzuschaffen. 2. Der<br />

Übergang der Zuständigkeit auf das erkennende Gericht zur<br />

Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen<br />

nach Anklageerhebung findet im Gesetz und in den<br />

in Anspruch genommenen verfahrensrechtlichen Grundsätzen<br />

nur eine schwache Stütze; die Zuständigkeit sollte bis zum<br />

Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens beim anordnenden<br />

Gericht bzw. Beschwerdegericht verbleiben. 3. Andere bislang<br />

ausschließlich den verdeckten Ermittlungsmaßnahmen<br />

zugeordnete, dem Rechtsschutz Betroffener dienende Kautelen<br />

sollten im Hinblick auf ihre generelle Anwendbarkeit auf<br />

alle Ermittlungsmaßnahmen überprüft werden. 4. Langfristig<br />

sollte über eine vom Aufgabenbereich des erkennenden Gerichts<br />

klar getrennte Zuständigkeit des anordnenden Gerichts<br />

– auch für Ermittlungen nach Anklageerhebung – nachgedacht<br />

werden.<br />

73 Ähnlich Meyer/Rettenmaier, NJW 2009, 1238 (1241):<br />

Regelung sei „sachwidrig“, sie vermenge notwendig zu trennende<br />

Fragen und belaste das Hauptverfahren gegen den<br />

Angeklagten unnötig mit für das Hauptverfahren nicht unmittelbar<br />

relevanten Rechtsschutzbegehren; Singelnstein, NStZ<br />

2009, 481 (483, 486): „Wenig durchdachte Regelung“, die<br />

„kaum in konsistenter Weise auszulegen“ sei und „die Unübersichtlichkeit<br />

des Rechtsschutzsystems“ erhöhe.<br />

74 BVerfGE 96, 27 (40) = NJW 1997, 2163 (2164); BVerfG<br />

NJW 1998, 2131; 1999, 273; BVerfGK 3, 153 (157 f.); 4,<br />

287.<br />

75 BVerfGE 107, 395 (402) = NJW 2003, 1924.<br />

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502<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft<br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Michael Tsambikakis, Köln<br />

In 130 Jahren hat die StPO atemraubende historische Ereignisse<br />

überdauert und sich dennoch als stabil und durchdacht<br />

präsentiert. Den schärfsten Eingriff erleidet sie derzeit durch<br />

das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren.<br />

1 Aber auch sonst unterliegt unsere Verfahrensordnung<br />

(modernen) Einwirkungen, die noch vor kurzem einen<br />

deutschen Gesetzgeber wenig gekümmert hätten. Dies soll<br />

beispielhaft an den aktuellen Änderungen des Rechts der<br />

Untersuchungshaft 2 aufgezeigt werden.<br />

I. Föderalismusreform<br />

Auf nationaler Ebene wirkte zunächst die Föderalismusreform<br />

I durch eine besondere Grundgesetzänderung. 3 Der<br />

Bundesgesetzgeber hat die Kompetenz für den Untersuchungshaftvollzug<br />

verloren. In Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG<br />

heißt es nunmehr seit dem 1.9.2006, dass sich die konkurrierende<br />

Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf „das gerichtliche<br />

Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzuges)“<br />

erstrecke. Neu und markant ist dabei der Eingriff in<br />

die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das gerichtliche<br />

Verfahren. 4 Der Bund reagierte mit dem Gesetz zur Änderung<br />

der Untersuchungshaft vom 29.7.2009, in dem deshalb<br />

u.a. § 119 StPO völlig neu gefasst worden ist. Die Länder<br />

bereiten eigene Untersuchungshaftvollzugsgesetze vor. 5 In<br />

Niedersachsen ist ein solches Gesetz bereits in Kraft getreten.<br />

6 Verstörend wirkt die Grundgesetzänderung, weil sie<br />

ohne sachlichen Grund erfolgte und allein politische Verhandlungsmasse<br />

im Rahmen der umfassenden Verhandlungen<br />

zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Föderalis-<br />

1 BGBl. I 2009, S. 2353.<br />

2 Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom<br />

29.7.2009, BGBl. I 2009, S. 2274.<br />

3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006,<br />

BGBl. I 2006, S. 2863.<br />

4 Wobei der Bundesgesetzgeber seine Gesetzgebungskompetenz<br />

für den Untersuchungshaftvollzug stets unzureichend<br />

genutzt hat. In 60 Jahren (Grundgesetzgeltung) ist es ihm<br />

nicht gelungen einen verfassungskonformen Zustand des<br />

§ 119 StPO herzustellen. Die massiv grundrechtsinvasiven<br />

Eingriffe wurden im Detail in einer fast 100 Paragraphen<br />

umfassenden Verwaltungsvorschrift (Untersuchungshaftvollzugsordnung)<br />

geregelt. Vgl. hierzu Paeffgen, in: Rudolphi<br />

u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung<br />

und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 55. Lieferung,<br />

Stand: Dezember 2007, § 119 Rn. 3 („Skandalon“) und 4<br />

(„unerträglich“).<br />

5 Vgl. bspw. zum Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes<br />

Nordrhein-Westfalen Piel/Püschel/Tsambikakis/<br />

Wallau, ZRP 2009, 33; ein Vergleich der (beabsichtigten)<br />

unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen findet sich<br />

bei Brune/Müller, ZRP 2009, 143.<br />

6<br />

Justizvollzugsgesetz (NJVollzG), in Kraft getreten am<br />

1.1.2008, NdsGVBl. Nr. 41/2007, 720.<br />

musreform war: Alles Durchforsten der Gesetzesmaterialien<br />

nützt nichts. Es findet sich kein Argument.<br />

Die Trennung des Vollzugs der Untersuchungshaft vom<br />

übrigen gerichtlichen Verfahren wird in Zukunft eine Reihe<br />

von Fragen aufwerfen. Es ist fraglich, was in der Gesetzgebungskompetenz<br />

verblieben ist, denn die StPO regelte in<br />

§ 119 bisher nur rudimentär, wann dem Untersuchungsgefangenen<br />

Beschränkungen auferlegt werden dürfen. 7 Aus den<br />

Materialien ergibt sich, dass der Bund davon ausging, künftig<br />

noch jenen Bereich regeln zu dürfen, der von der Generalklausel<br />

in § 119 Abs. 3 Alt. 1 StPO a.F. (Beschränkungen, die der<br />

„Zweck der Untersuchungshaft“ erfordert) erfasst war. 8 Der<br />

Zweck der Untersuchungshaft liege im Fall eines Haftgrundes<br />

nach § 112 Abs. 2 StPO – Flucht- oder Verdunkelungsgefahr<br />

– in der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens<br />

und im Fall des Haftgrundes nach § 112a Abs. 1<br />

StPO – Wiederholungsgefahr – in der Abwehr erheblicher<br />

Gefahren für bedeutende Rechtsgüter. Ebenso wie die<br />

Anordnung der Freiheitsentziehung selbst rechtfertige sich<br />

eine über sie hinausgehende Beschränkung, die zur<br />

Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft erforderlich<br />

ist, eben gerade aus diesem Zweck. Sie gehöre somit zum<br />

gerichtlichen Verfahren im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.<br />

Demgegenüber liege die Gesetzgebungskompetenz für die<br />

Aufrechterhaltung der Ordnung in der Vollzugsanstalt nunmehr<br />

bei den Ländern. Nur: Die Bereiche lassen sich kaum<br />

trennen. 9 Die einzelnen Beschränkungen werden künftig<br />

voraussichtlich sowohl Gegenstand der StPO als auch der<br />

Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetze sein.<br />

Problematisch sind vor allem Anordnungen, die der<br />

Zweck der Untersuchungshaft nicht erfordert, aber aus Gründen<br />

der Anstaltssicherheit dennoch (nunmehr aufgrund landesgesetzlicher<br />

Regelungen) von der Anstalt angeordnet<br />

werden. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Maßnahme<br />

verhältnismäßig sein kann. Nach der künstlichen Austrennung<br />

des Untersuchungshaftvollzugs erwarten den Haftrichter<br />

schwierige Entscheidungsprozesse unter Berücksichtigung<br />

des Untersuchungshaftzweckes einerseits und vollzugsrechtlicher<br />

Belange nach den jeweiligen Untersuchungshaftvollzugsgesetzen<br />

der Länder andererseits: Ein Computer wird für<br />

den Beschuldigten in einer umfangreichen Wirtschaftsstrafsache<br />

zur Vorbereitung seiner Verteidigung unentbehrlich<br />

sein (nach Einscannen der Akten durch den Verteidiger oder<br />

im Wege der Sichtung einer durch die Staatsanwaltschaft<br />

übergebenen Akten-DVD). So kann es zu Wertungswidersprüchen<br />

zwischen den Verfahrenszwecken und der Anstaltsordnung<br />

kommen, die Computer zur persönlichen Nutzung<br />

auf eigene Kosten in der Regel verbieten. Die Aufspaltung<br />

der verschiedenen Rechtsgrundlagen und Verfahrenswege<br />

7 Konkretisiert wurden die Regelungen dann in der erwähnten<br />

Untersuchungshaftvollzugsordnung, einer gemeinsamen Verwaltungsanordnung<br />

der Länder.<br />

8 BT-Drs. 16/11644, S. 1.<br />

9 So auch Seebode, HRRS 2008, 236 (239); Paeffgen, StV<br />

2009, 46.<br />

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503


Michael Tsambikakis<br />

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wird zu Schwierigkeiten führen, die gesetzlich (wohl vom<br />

Bund!) gelöst werden müssten.<br />

II. EGMR<br />

Es ist mittlerweile Allgemeingut, dass die Regeln der StPO,<br />

ihre Interpretation und Handhabung menschenrechtskonform<br />

sein müssen und damit den Maßstäben der EMRK und der<br />

Auslegung des EGMR standhalten müssen. Jetzt sah sich der<br />

Gesetzgeber sogar gezwungen, die StPO mit Rücksicht auf<br />

eine Reihe gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangener<br />

Urteile zu ändern.<br />

Seit jeher sind die speziellen Anforderungen der Mitteilung<br />

der belastenden Umstände gem. § 115 Abs. 3 S. 1<br />

StPO einerseits und der Gewährung rechtlichen Gehörs untrennbar<br />

verknüpft mit der Frage der Akteneinsicht gem.<br />

§ 147 StPO. Denn die belastenden Umstände werden nur<br />

dann angemessen präsentiert, wenn dies den Beschuldigten<br />

und seinen Verteidiger tatsächlich in die Lage versetzt, sich<br />

gegen die Vorwürfe zu verteidigen. Außer in wenigen überschaubaren<br />

Fällen, in denen eine detaillierte mündliche Erläuterung<br />

genügen mag, ist alles andere als die Gewährung<br />

von Akteneinsicht unzureichend.<br />

Ein praktisches Problem ergab sich daraus, dass die Hinweispflicht<br />

des § 115 Abs. 3 StPO den Richter trifft, „Herrin<br />

des Ermittlungsverfahrens“ und vor allem der Akten aber die<br />

Staatsanwaltschaft ist und bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens<br />

bleibt. Dies führte regelmäßig dazu, dass<br />

die notwendige Akteneinsicht der Verteidigung lange unter<br />

Berufung auf § 147 Abs. 2 StPO weitestgehend verweigert<br />

wurde. Dies hatte in der Vergangenheit die Konsequenz, dass<br />

sich die Verteidigung gegen die Untersuchungshaft schwerpunktmäßig<br />

auf Fragen des Haftgrundes konzentrieren<br />

musste. Das war mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG immer<br />

schon bedenklich. Indessen war der EGMR dieser Praxis<br />

bereits 1989 mit der sog. Lamy-Entscheidung entgegengetreten<br />

und hat eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK bejaht,<br />

wenn dem Verteidiger vor dem Haftprüfungstermin nicht<br />

erlaubt war, Einsicht in die Ermittlungsakten zu nehmen. 10<br />

Dieses Urteil des EGMR ist über viele Jahre unbekannt und<br />

unbeachtet geblieben 11 und erst 1994 durch das BVerfG aufgegriffen<br />

worden, indem es dem Verteidiger des inhaftierten<br />

Beschuldigten einen Anspruch auf Einsicht in die Akten<br />

zusprach, soweit er diese benötigte, um auf die Haftentscheidung<br />

effektiv einwirken zu können und eine mündliche Mitteilung<br />

der relevanten Tatsachen und Beweismittel nicht<br />

ausreichte. 12 Um der Staatsanwaltschaft nicht die Hoheit zu<br />

nehmen, über die Akteneinsicht zu entscheiden und selbst die<br />

dadurch eintretende Gefährdungslage für den Untersuchungszweck<br />

zu beurteilen, hat das BVerfG folgende Konsequenz<br />

für die Haftentscheidung gezogen: Ist aus Gründen der Ge-<br />

10 EGMR, Urt. v. 30.3.1989 – StV 1993, 283; nach Rau,<br />

StraFo 2008, 9 (15) ein „Paradigmenwechsel“.<br />

11 Zieger, StV 1993, 320; Deckers, in: Brüssow/Gatzweiler/<br />

Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis,<br />

4. Aufl. 2007, § 5 Rn. 3.<br />

12 BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994,<br />

3219.<br />

fährdung der Ermittlungen aus der Sicht der Staatsanwaltschaft<br />

eine auch nur auf die für die Haftfrage relevanten Teile<br />

der Ermittlungsakte beschränkte Akteneinsicht nicht möglich<br />

und verweigert sie diese deshalb gem. § 147 Abs. 2 StPO, so<br />

kann das Gericht auf die Tatsachen und Beweismittel, die<br />

deshalb nicht zur Kenntnis des Beschuldigten gelangen, seine<br />

Entscheidung nicht stützen und muss gegebenenfalls den<br />

Haftbefehl aufheben. 13 Im Übrigen ist dem Beschuldigten<br />

bereits anlässlich seiner richterlichen Vernehmung gem.<br />

§ 115 Abs. 2 StPO im Anschluss an seine Festnahme mündlich<br />

das gesamte gegen ihn zusammengetragene Belastungsmaterial,<br />

das den Gegenstand des Verfahrens bildet und für<br />

die Haftfrage von Bedeutung ist, mitzuteilen. Dazu zählen die<br />

Tatsachen, Beweisanzeichen usw., die den dringenden Tatverdacht<br />

und den Haftgrund ergeben genauso, wie die sich<br />

aus den Akten ergebenden entlastenden Umstände. 14 Die<br />

Verteidigung ist daher nicht mehr auf die Problematisierung<br />

des Haftgrundes beschränkt.<br />

Allerdings hatte das BVerfG den Anspruch auf Akteneinsicht<br />

nur dann für unerlässlich gehalten, wenn eine mündliche<br />

Information durch den Haftrichter nicht ausreichend sei. Dies<br />

hatte in der Praxis die Folge, dass der Verteidiger regelmäßig<br />

auf diese alternative Informationsmöglichkeit verwiesen<br />

wurde. In drei – gegen die Bundesrepublik Deutschland 2001<br />

ergangenen – Entscheidungen hat dann der EGMR erneut<br />

festgestellt, dass diese Praxis wiederum gegen Art. 5 Abs. 4<br />

EMRK verstößt. 15 Denn zu der notwendigen kontradiktorischen<br />

Führung des gerichtlichen Verfahrens in Haftsachen<br />

gehört die uneingeschränkte Akteneinsicht. Eine bloß<br />

mündliche Information über den Akteninhalt ist nicht ausreichend.<br />

Denn diese mündliche Mitteilung ist das Resultat<br />

einer Zusammenfassung und von Schlussfolgerungen, die der<br />

Haftrichter anhand des Akteninhalts generiert. Der inhaftierte<br />

Beschuldigte und sein Verteidiger müssen aber in der Lage<br />

sein, eine Überprüfung vorzunehmen.<br />

Dennoch gab es weiter Entscheidungen, die der Verteidigung<br />

nur eine partielle Akteneinsicht zugestehen wollten. 16<br />

Auch dem ist der EGMR entgegengetreten und hat 2003<br />

wiederum einen Verstoß gegen Art. 5. Abs. 4 EMRK konstatiert<br />

und seine Rechtsprechung weiter gefestigt: 17 Wenn<br />

dem Verteidiger die Einsicht in diejenigen Dokumente der<br />

Untersuchungsakten verweigert wird, die für eine effektive<br />

Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft im<br />

Sinne der EMRK wesentlich sind, ist die Waffengleichheit<br />

13 BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994,<br />

3219.<br />

14 BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994,<br />

3219.<br />

15 EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – Nr. 24479/94 – NJW 2002,<br />

2013 (Lietzow/Deutschland); EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – Nr.<br />

25116/94, NJW 2002, 2015 (Schöps/ Deutschland); EGMR,<br />

Urt. v. 13.2.2001 – Nr. 23541/ 94, NJW 2002, 2018 (Garcia<br />

Alva/Deutschland).<br />

16 Z.B. OLG Köln, Beschl. v. 29.5.2001 – 2 Ws 215/01, NStZ<br />

2002, 659.<br />

17 EGMR, Urt. v. 9.1.2003 – Nr. 38822/97, HRRS 2004, 398<br />

(Shishkov/Bulgarien).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

504<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

nicht gewahrt. Die Praxis in Deutschland folgte dem nur<br />

zögerlich, auch wenn einzelne gegenläufige Entscheidungen<br />

es verdienen, besonders hervorgehoben zu werden. 18 Einer<br />

nur teilweisen Gewährung von Akteneinsicht ist schließlich<br />

2006 das BVerfG entschieden entgegengetreten, und zwar in<br />

einer Konstellation, in der „lediglich“ durch eine Arrestanordnung<br />

in das Eigentumsrecht des Beschuldigten<br />

eingegriffen wurde. 19 Schließlich hat der EGMR 2007 in<br />

einer erneut gegen die Bundesrepublik gerichteten<br />

Entscheidung unter Berufung auf bereits früher gegen<br />

Deutschland entschiedene Fälle nochmals unmissverständlich<br />

darauf hingewiesen, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens<br />

gebiete, den Beschuldigten über die Gründe der Inhaftierung<br />

ausreichend zu informieren. Nur so könne er sich sachgerecht<br />

verteidigen. 20 Nur auf den ersten Blick zurückhaltender hat<br />

sich der EGMR 2008 in Bezug auf Einsicht in sichergestellte<br />

Speichermedien im Haftbeschwerdeverfahren geäußert. Dabei<br />

hat er jedoch ausdrücklich seine bisherige Rechtsprechung<br />

aufrecht erhalten und darauf hingewiesen, dass die<br />

Waffengleichheit nicht gewährleistet ist, wenn dem Verteidiger<br />

der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in der Ermittlungsakte<br />

versagt wird, die für die wirksame Anfechtung<br />

der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandanten<br />

wesentlich sind. 21<br />

Das Gericht darf also seine Haftentscheidung nur auf solche<br />

Tatsachen oder Beweismittel stützen, die dem Beschuldigten<br />

oder seinem Verteidiger bekannt sind. Hinsichtlich<br />

nicht offen gelegter Informationen besteht ein – aus Art. 103<br />

Abs. 1 GG abgeleitetes – verfassungsrechtliches Verwertungsverbot.<br />

22 Deshalb ist das der Staatsanwaltschaft grundsätzlich<br />

gem. § 147 Abs. 2 StPO eingeräumte Ermessen, die<br />

Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren zu beschränken, in<br />

Haftsachen auf Null reduziert. Ohne vollständige Akteneinsicht<br />

für die Verteidigung darf kein Haftbefehl vollstreckt<br />

werden. Staatsanwaltschaft und Gericht stehen vor der Frage,<br />

18 Z.B. AG Halberstadt, Beschl. v. 8.4.2004 – 3 Gs 12/04,<br />

StV 2004, 549: Danach sei es dem Gericht regelmäßig nicht<br />

möglich, die Frage zu entscheiden, ob damit die „für die<br />

Haftentscheidung relevanten Tatsachen und Beweismittel“<br />

genügend mitgeteilt sind, soweit ein Verteidiger des Inhaftierten<br />

nur Teilakteneinsicht erhalten hat. Da das Gericht aber<br />

seine Haftentscheidung nicht auf Tatsachen und Beweismittel<br />

stützen darf, die nicht zur Kenntnis des Beschuldigten gelangt<br />

sind, muss ein Haftbefehl aufgehoben oder darf gar nicht erst<br />

erlassen werden, wenn der Verteidiger nicht vollständige<br />

Akteneinsicht hatte.<br />

19 BVerfG, Beschl. v. 19.1.2006 – 2 BvR 1075/05, NJW<br />

2006, 1048.<br />

20 EGMR, Beschl. v. 13.12.2007 – Nr. 11364/03, StV 2008,<br />

475 m. Anm. Hagmann und Pauly (Mooren/Deutschland).<br />

21 EGMR, Beschl. v. 11.5.2008 – Nr. 41077/04, NStZ 2009,<br />

164 m. Anm. Strafner.<br />

22 Lüderssen/Jahn, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/<br />

Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 2007, § 147<br />

Rn. 160a; Hilger, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/<br />

Hilger/Ignor (Fn. 22), § 112 Rn. 23b.<br />

ob sie die Zurückhaltung der Akten favorisieren (dann keine<br />

Untersuchungshaft) oder die Untersuchungshaft (dann keine<br />

Verweigerung der Akteneinsicht). Der Grundsatz, dass das<br />

Gericht eine Haftentscheidung nicht auf Tatsachen stützen<br />

darf, die dem Beschuldigten vorenthalten werden, gilt ebenso<br />

bei einem nicht vollstreckten 23 oder außer Vollzug gesetzten<br />

Haftbefehl. 24 Das Verwertungsverbot bezüglich der betroffenen<br />

Tatsachen und Beweismittel greift schließlich im Hinblick<br />

auf das Beschleunigungsgebot sowie aus Gründen der<br />

Zumutbarkeit unabhängig davon, ob der Beschuldigte (zunächst)<br />

versucht hat, Rechtsschutz über §§ 147 Abs. 5, 161a<br />

Abs. 3 StPO zu erlangen. 25<br />

Nunmehr hat sich der Gesetzgeber ein Herz gefasst und<br />

diesem Treiben ein Ende gesetzt. § 147 Abs. 2 StPO ist so<br />

geändert worden, dass bei Untersuchungsgefangenen dem<br />

Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der<br />

Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen „in geeigneter<br />

Weise“ zugänglich zu machen sind; „in der Regel ist<br />

insoweit Akteneinsicht zu gewähren“. Damit sind außer in<br />

einfachst gelagerten Fällen praktisch keine Konstellationen<br />

mehr denkbar, die zulässig das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers<br />

in diesem Verfahrensstadium beschränken könnten.<br />

Sonst bliebe diese Änderung hinter der dargestellten Rechtsprechung<br />

des EGMR zurück. „In geeigneter Weise“ zugänglich<br />

gemacht werden können die für die Beurteilung der<br />

Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen<br />

nur im Wege der Gewährung von Akteneinsicht an<br />

den Verteidiger eines Beschuldigten bzw. durch Überlassung<br />

von Abschriften aus den Akten an den unverteidigten Beschuldigten.<br />

Dass keine aus der Feder der Ermittlungsbehörden<br />

stammenden schriftlichen Zusammenfassungen, geschweige<br />

denn mündliche Informationen über in der Akte<br />

enthaltene Tatsachen und Beweismittel geeignet sind, um die<br />

Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung zu beurteilen, ist<br />

vom EGMR bereits mehrfach betont worden. 26 Ebenso ungenügend<br />

ist der Verweis auf für die Beurteilung der Rechtmä-<br />

23 LG Aschaffenburg, Beschl. v. 14.3.1997 – Qs 35/97 – 1 Gs<br />

999/94, StV 1997, 644; OLG Köln, Beschl. v. 13.3.1998 – 2<br />

Ws 115/98, StV 1998, 269; a.A. aber BVerfG, Beschl. v.<br />

27.10.1997 – 2 BvR 1769/97, NStZ-RR 1998, 108; OLG<br />

Hamm, Beschl. v. 30.1.2001 – 1 Ws 438/00, NStZ-RR 2001,<br />

254; OLG München, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 Ws 763/08,<br />

NStZ 2009, 109; differenzierend Herrmann, Untersuchungshaft,<br />

2008, Rn. 408.<br />

24 Hilger (Fn. 22), § 112 Rn. 23b.<br />

25 EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – Nr. 11364/03, StV 2008, 475<br />

(480); OLG Hamm, Beschl. v. 13.2.2002 – 2 BL 7/02, StV<br />

2002, 318 m. Anm. Deckers und Schultheis, in: Hannich<br />

(Hrsg.), Karlsruher Kommentar, zur Strafprozessordnung, 6.<br />

Aufl. 2008, § 121 Rn. 24; Hilger (Fn. 22), § 112 Rn. 23b;<br />

Schlothauer, StV 2001, 196; a.A. OLG Hamm, Beschl. v.<br />

20.12.2007 – 3 Ws 676/07, wistra 2008, 195; Meyer-Goßner,<br />

Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Aufl. 2009, § 147<br />

Rn. 25a.<br />

26 EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – Nr. 24479/94 – NJW 2002, 2013<br />

(Lietzow/Deutschland); EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – Nr. 25116/<br />

94, NJW 2002, 2015 (Schöps/ Deutschland).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

505


Michael Tsambikakis<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ßigkeit der Freiheitsentziehung „wesentliche“ Informationen.<br />

Denn so läge die Einschätzungsprärogative dieser genuin<br />

verteidigungsspezifischen Aufgabe bei der Staatsanwaltschaft.<br />

Beim Akteneinsichtsrecht hat der BGH vielfach betont,<br />

dass es „dem Angeklagten und seinem Verteidiger überlassen<br />

bleiben [muss], selbst zu beurteilen, ob die Ermittlungsergebnisse<br />

entweder schon für sich gesehen ‚verteidigungsrelevant’<br />

sind oder zumindest Ansatzpunkte für weiteres<br />

Verteidigungshandeln bieten“. 27<br />

Wird dem Verteidiger erst im Vorführtermin oder im<br />

Termin zur Verkündung des Haftbefehls Akteneinsicht gewährt,<br />

ist es ihm mitunter faktisch unmöglich, die Akten<br />

durchzuarbeiten und den <strong>Inhalt</strong> mit dem Mandanten zu erörtern.<br />

Denn die Verhandlung steht unter zeitlichem Druck<br />

(§§ 128 Abs. 1; 115 Abs. 1, 2 StPO). Innerhalb dieser gesetzlichen<br />

Fristen muss dem Verteidiger ausreichend Zeit zur<br />

Verfügung gestellt werden. Der Verteidiger muss darauf<br />

drängen und ggf. beantragen, den Termin zu unterbrechen,<br />

damit er sich den Akteninhalt erschließen und mit dem Mandanten<br />

erörtern kann. Wird dem Verteidiger keine ausreichende<br />

Zeit zur Verfügung gestellt, sich mit dem Akteninhalt<br />

vertraut zu machen, ist so zu verfahren, als habe er Akteneinsicht<br />

noch nicht gehabt. 28<br />

III. CPT<br />

Erstmalig nimmt der Gesetzgeber Forderungen des Europäischen<br />

Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe<br />

(European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman<br />

or Degrading Treatment or Punishment, kurz: CPT)<br />

zum Anlass, die StPO zu ändern.<br />

Gem. Art. 1 der Europäischen Konvention zur Verhütung<br />

von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung<br />

oder Strafe prüft das Komitee durch Besuche die Behandlung<br />

von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, um<br />

ggf. deren Rechte zu stärken. Die Konvention wurde 1987<br />

vorgelegt und ist Ergebnis einer Initiative des Europarats und<br />

ein praktische Konkretisierung von Art. 3 EMRK. Sie wurde<br />

bislang von 44 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert.<br />

Die Konvention begründet ein nichtgerichtliches System<br />

präventiver Natur zum Schutz von Gefangenen. Das Sekretariat<br />

des CPT ist Teil des Generaldirektorats für Menschenrechte<br />

des Europarates. Die Mitglieder des CPT sind unabhängige<br />

und unparteiische Experten aus verschiedenen Bereichen<br />

(Rechtsanwälte, Ärzte, Fachleute des Gefängnis- oder<br />

Polizeiwesens etc.) Sie werden für die Dauer von vier Jahren<br />

vom Ministerkomitee, dem Entscheidungsorgan des Europarates<br />

gewählt und können zweimal wiedergewählt werden.<br />

Für jeden Vertragsstaat wird ein Mitglied gewählt.<br />

Methodisch erfolgt die Arbeit des CPT durch Besuche<br />

von Haftanstalten, die Erkenntnisse darüber bringen sollen,<br />

wie Personen, denen die Freiheit entzogen ist, behandelt<br />

27 BGH, Urt. v. 29.11.1989 – 2 StR 264/89, BGHSt 36, 305;<br />

BGH, Urt. v. 21.9.2000 – 1 StR 634/99, StV 2001, 4; BGH,<br />

Beschl. v. 10.8.2005 – 1 StR 271/05, StV 2005, 652.<br />

28 AG Halberstadt, Beschl. v. 8.4.2004 – 3 Gs 12/04, StV<br />

2004, 549; vgl. auch Herrmann (Fn. 23), Rn. 394 u. 399.<br />

werden. Erforderlichenfalls werden den besuchten Staaten<br />

Verbesserungen vorgeschlagen. Die Besuche werden von<br />

Delegationen durchgeführt, die in der Regel aus zwei oder<br />

mehr CPT-Mitgliedern bestehen, und werden von Mitgliedern<br />

des Sekretariats und bei Bedarf von Sachverständigen<br />

und Dolmetschern begleitet. Das gewählte Mitglied des besuchten<br />

Landes nimmt nicht an dem Besuch teil. Die Delegationen<br />

des CPT besuchen die Vertragsstaaten in regelmäßigen<br />

Abständen, können jedoch zusätzlich sog. „Ad-hoc”-Besuche<br />

organisieren.<br />

Nach der Konvention haben die Delegationen des CPT<br />

unbeschränkten Zugang zu allen Orten, an denen sich Personen<br />

befinden, denen die Freiheit entzogen ist. Dazu gehört<br />

das Recht, sich innerhalb dieser Orte ungehindert zu bewegen.<br />

Sie dürfen die Gefangenen ohne Zeugen befragen und<br />

können sich ungehindert mit jeder Person in Verbindung<br />

setzen, die ihnen sachdienliche Auskünfte geben kann.<br />

Das CPT betont in seinem „Bericht an die Deutsche Regierung“<br />

vom 28.7.2006 über seinen in der Zeit vom 20.11.<br />

bis zum 2.12.2005 durchgeführten Besuch in Deutschland,<br />

„dass das Risiko der Einschüchterung und Misshandlung in<br />

dem Zeitraum unmittelbar nach der Freiheitsentziehung am<br />

größten“ sei. Deshalb sei entscheidend, dass festgenommene<br />

Personen unverzüglich über ihre Rechte belehrt würden.<br />

Diese Belehrung solle gleich zu Beginn der Freiheitsentziehung<br />

mündlich erfolgen und durch die Aushändigung eines<br />

die Rechte der festgenommenen Person „klar und deutlich“<br />

aufführenden Schriftstücks ergänzt werden. Das Formblatt<br />

solle in „geeigneten“ Sprachen vorgehalten werden. Zusätzlich<br />

sollten die Betroffenen aufgefordert werden, eine Erklärung<br />

zu unterschreiben, mit der sie bestätigen, dass sie über<br />

ihre Rechte aufgeklärt worden seien. Das CPT moniert, dass<br />

von der Polizei festgehaltene Personen „in vielen Fällen überhaupt<br />

nicht über ihr Recht auf Zugang zu einem Arzt belehrt“<br />

worden seien, während „die Belehrung über andere Grundrechte<br />

(Benachrichtigung von der Inhaftierung und Zugang<br />

zu einem Rechtsanwalt) häufig nicht zu Beginn der Freiheitsentziehung“<br />

erfolgt sei. Schließlich beanstandet das CPT in<br />

dem genannten Bericht, dass vorläufig festgenommene Personen<br />

im Gegensatz zu den aufgrund eines Haftbefehls Festgenommenen<br />

„immer noch kein formelles Recht haben, einen<br />

nahen Angehörigen oder eine dritte Person ihrer Wahl über<br />

ihre Lage zu unterrichten“. Alle Personen, denen die Freiheit<br />

von einer Polizeidienststelle entzogen worden sei, müsse ein<br />

solches Recht eingeräumt werden. Das CPT hatte ein solches<br />

Recht für vorläufig festgenommene Personen bereits nach<br />

seinem Besuch in Deutschland im Jahr 2000 gefordert. Für<br />

die Ausübung dieses Rechts könnten allerdings Ausnahmen<br />

vorgesehen werden, um „die berechtigten Interessen“ der<br />

polizeilichen Ermittlungen zu schützen.<br />

Der deutsche Gesetzgeber ist diesen Forderungen durch<br />

eine Änderung bzw. Einfügung der §§ 114a bis 114e StPO<br />

nachgekommen.<br />

Die schriftliche Bestätigung der Belehrung bzw. die Dokumentation<br />

der Weigerung dient prozessualen Beweiszwecken<br />

und ist ein Novum in der StPO. Zunächst unterstreicht<br />

dies die besondere Bedeutung der Belehrung. Darüber<br />

hinaus verdeutlicht die Formulierung in § 114b Abs. 1 S. 4<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

506<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

StPO „ist eine schriftliche Belehrung erkennbar nicht ausreichend“,<br />

dass sich die Belehrung nicht in dem bloßen Übermitteln<br />

von Fakten erschöpft. Denn dem würde die schriftliche<br />

Belehrung – außer bei Leseunkundigen – stets gerecht. Dazu<br />

gehört deshalb, dass die Belehrung ihrem wesentlichen Gehalt<br />

nach verstanden wird. Dieser Maßstab mag bei verteidigten<br />

Personen etwas geringer angesetzt werden. Wie Verstöße<br />

gegen diese gestärkten Belehrungspflichten zu ahnden sind,<br />

beantwortet das neue Gesetz nicht. Der Gesetzgeber hat der<br />

Belehrung des festgenommen Beschuldigten allerdings ein<br />

besonderes Gewicht verliehen. Er hat sie umfassend neu<br />

geregelt, verpflichtend gestaltet und Dokumentationsobliegenheiten<br />

statuiert, die eine prozessuale Beweisführung<br />

erleichtern. All dies spricht dafür, dass Belehrungsverstöße<br />

nicht ohne Folgen bleiben dürfen. Wie sich dies auf die<br />

Dogmatik der Rechtsfolgen bei Belehrungsverstößen<br />

auswirkt, bedarf einer gesonderten Untersuchung. Naheliegend<br />

wäre eine verschärfte prozessuale Ahndung von Verstößen<br />

gegen die Belehrungspflicht. Außer zu prozessualen Zwecken<br />

lässt sich die im Gesetz vorgesehene Dokumentationsform in<br />

ihrem Aufwand kaum rechtfertigen. Zu erwarten ist allerdings,<br />

dass die Gerichte (anders) differenzieren werden:<br />

Eine falsche Information über den weiteren Ablauf wird<br />

ohne Folgen bleiben, soweit der Verfahrensgang dann im<br />

Übrigen dem Gesetz entspricht und die Grenze des § 136a<br />

StPO nicht überschritten wird. Eine unterlassene oder fehlerhafte<br />

Belehrung über die Aussagefreiheit hat ein Beweisverwertungsverbot<br />

zur Folge. 29 Die Belehrung über das Recht<br />

auf Verteidigerkonsultation und der Hinweis auf das Schweigerecht<br />

des Beschuldigten sind gleichrangig. 30 Fehlt es an der<br />

eigenständigen Belehrung über das Beratungsrecht mit dem<br />

Verteidiger hat das nach BGHSt 38, 214 ein Verwertungsverbot<br />

zur Folge. 31 Die Konsequenzen einer fehlerhaften<br />

Behandlung der Pflichten nach dem WÜK im Prozess sind<br />

ebenfalls überschaubar: Zum einen ist die zu spät erteilte<br />

Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand nach<br />

Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK von der Verteidigung in der<br />

Hauptverhandlung durch einen Widerspruch im Sinne der<br />

sog. Widerspruchslösung zu thematisieren. 32 Selbst bei ordnungsgemäß<br />

erhobenem Widerspruch soll indes das Unterbleiben<br />

der gebotenen Belehrung über das Recht auf konsularischen<br />

Beistand kein Beweisverwertungsverbot zur Folge<br />

haben. 33 Ähnlich den Fällen der rechtsstaatswidrigen Ver-<br />

29 BGH, Beschl. v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt 38,<br />

214.<br />

30 BGH, Urt. v. 22. 11. 2001 – 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172<br />

(174).<br />

31 BGH, Urt. v. 22. 11. 2001 – 1 StR 220/01, BGHSt. 47,<br />

172; Beulke, Jura 2008, 653 (657); Ransiek, StV 1994, 343;<br />

Meyer-Goßner (Fn. 25), Rn. 21; einschränkend Rogall, in:<br />

Rudolphi u.a. (Fn. 4), Rn. 55.<br />

32 BGH, Beschl. v. 11.9.2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38;<br />

offen gelassen hingegen in BGH, Urt. v. 20.12.2007 – 3 StR<br />

318/07, BGHSt 52, 110.<br />

33 BGH, Beschl. v. 25.9.2007 – 5 StR 116/01, 475/02, BGHSt<br />

52, 48; BGH, Beschl. v. 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt<br />

52, 110.<br />

fahrensverzögerung und des „agent provocateurs“ soll die<br />

Rechtsverletzung nach Auffassung des 5. Strafsenats des<br />

BGH zu einer Kompensation führen – und zwar in der Weise,<br />

dass ein zahlenmäßig bestimmter Teil der verhängten Freiheitsstrafe<br />

als vollstreckt gilt. Einer solchen „Vollstreckungslösung“<br />

ist jedoch der 3. Strafsenat des BGH jüngst entschieden<br />

entgegen getreten. 34 Der 3. Senat argumentiert<br />

streng revisionsrechtlich, wonach die Rechtsfolgen von Verstößen<br />

gegen das Verfahrensrecht – gleich, ob dieses nationalen<br />

oder völkerrechtlichen Ursprungs ist – in der Revisionsinstanz<br />

in §§ 337, 338, 353 und 354 StPO abschließend geregelt<br />

sind; beruhe ein Urteil ganz oder teilweise auf einem Verfahrensfehler,<br />

so sei es in dem entsprechenden Umfang aufzuheben.<br />

Sei – mit Ausnahme des Vorliegens eines absoluten<br />

Revisionsgrundes – ein Beruhen dagegen auszuschließen,<br />

müsse die Revision verworfen werden; andere Möglichkeiten<br />

gebe es nicht. Die Rechtsprechung zu Konventionsverstößen<br />

gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK<br />

(rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung) sei auf Verfahrensverstöße<br />

gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK nicht übertragbar.<br />

§ 114c StPO ist die einfachgesetzliche Ausformung des<br />

grundgesetzlichen Gebotes aus Art. 104 Abs. 4 GG, wonach<br />

von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung<br />

oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein<br />

Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines<br />

Vertrauens zu benachrichtigen ist. Einerseits wird dem Beschuldigten<br />

ein subjektives Recht mit Verfassungsrang zuerkannt,<br />

andererseits gewährleistet die Vorschrift rechtsstaatliche<br />

Mindeststandards, 35 durch die das „spurlose Verschwinden“<br />

von Personen verhindert werden soll. 36 Zu benachrichtigen<br />

ist ein Angehöriger oder eine Person des Vertrauens. Der<br />

Angehörigenbegriff ist in diesem Fall weit auszulegen und<br />

unabhängig von den Begriffsbestimmungen in § 52 Abs. 1<br />

StPO oder in § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Zweck des Gesetzes,<br />

die bloße Möglichkeit des „Verschwindens“ einer Person<br />

von vornherein zu unterbinden, gebietet es, jeden Verwandtschaftsgrad<br />

ausreichen zu lassen. Ohnehin fungiert die noch<br />

34 BGH, Urt. v. 20.12.2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110.<br />

35 BVerfG, Beschl. v. 14.5.1963 – 2 BvR 516/62, BVerfGE 16,<br />

119.<br />

36 Schmidt-Bleibtreu/Klein/Schmahl, GG, Kommentar zum<br />

Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 104 Rn. 1; von Mangoldt/Klein/Starck/Gusy,<br />

(GG,) Kommentar zum Grundgesetz,<br />

11. Aufl. 2008, Art. 104 Rn. 71; Dreier/Schulze-Fielitz,<br />

GG, Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 104<br />

Rn. 50; Unbefriedigend ist jedoch, dass eine begründete Verfassungsbeschwerde<br />

wegen Verletzung des Art. 104 Abs. 4<br />

GG nur zur Feststellung führt, das Unterlassen der Benachrichtigung<br />

habe das genannte Grundrecht des Verhafteten<br />

verletzt: Die ergangene Entscheidung wird aber nicht aufgehoben,<br />

weil der Verfassungsverstoß deren sachlichen <strong>Inhalt</strong><br />

nicht berührt, vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.5.1963 – 2 BvR<br />

516/62, BVerfGE 16, 119 (123); BVerfG, Beschl. v. 2.7.1974<br />

– 2 BvR 648/73, BVerfGE 38, 32, (34); VerfG Brandenburg,<br />

Beschl. v. 17.2.2000 – VfGBbG 45/99; NStZ-RR 2000, 185<br />

(187).<br />

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507


Michael Tsambikakis<br />

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weitere Begrifflichkeit der „Person des Vertrauens“ als Auffangtatbestand.<br />

Wichtig ist allein, dass dafür Sorge getragen<br />

ist, dass die Person von der Freiheitsentziehung Kenntnis<br />

erlangt, von der der Beschuldigte dies wünscht.<br />

Das BVerfG hat entschieden, dass es der Pflicht aus<br />

Art. 104 Abs. 4 GG genügt, Haftentscheidungen dem Pflichtverteidiger<br />

des Beschuldigten mitzuteilen oder in dessen<br />

Gegenwart zu verkünden. 37 Es ist zweifelhaft, ob der von<br />

Amts wegen bestimmte Pflichtverteidiger in jedem Fall als<br />

Vertrauensperson eines Festgehaltenen angesehen werden<br />

kann. Dies wird erst durch eine ausdrückliche Befragung des<br />

Beschuldigten geklärt werden müssen. Eine solche Nachfrage<br />

ist auch geboten, wenn der Beschuldigte mit seinem Antrag<br />

auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zugleich den<br />

Wunsch auf Bestellung eines bestimmten Anwalts geäußert<br />

hat. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass der antragsgemäß<br />

bestellte Verteidiger das Vertrauen seines Mandanten<br />

jedenfalls solange genießt, wie dieser nichts Gegenteiliges<br />

zu erkennen gibt. Aber dieses Vertrauen ist an die Profession<br />

gekoppelt und unterscheidet sich von dem persönlichen<br />

Vertrauen nahestehender Personen, das in § 114b StPO<br />

angesprochen ist – zumal der Verteidiger aus einer begrenzten<br />

Personenzahl ausgewählt werden muss, die ein<br />

Untersuchungsgefangener zudem häufig vorher nicht kennt.<br />

Nicht richtig ist ferner die Ansicht, der Richter sei in der<br />

Entscheidung frei, ob ein Angehöriger oder eine Vertrauensperson<br />

benachrichtigt wird, selbst wenn der Beschuldigte<br />

eine Vertrauensperson benennt. 38 Das ist mit dem Gesetzeszweck<br />

nicht vereinbar: Denn nur mit der Wahl des Beschuldigten<br />

kann sich dessen subjektives Recht verwirklichen; das<br />

Rechtsstaatsprinzip, auf dem § 114b StPO ebenfalls beruht,<br />

gebietet keine andere Auslegung. Soweit Ausnahmen bei<br />

offensichtlichem Missbrauch vorgeschlagen werden, 39 kann<br />

dies genauso wenig überzeugen, denn benachrichtigungspflichtig<br />

ist allein die Tatsache der Verhaftung und nichts<br />

weiter. Das Gebot der Rechtsstaatlichkeit wiegt in diesem<br />

Fall der Reduktion der Information auf ein Minimum schwer:<br />

Verhaftungen, von denen niemand etwas erfährt, sind unerträglich.<br />

Es liegt in der Hand des betroffenen Bürgers, autonom<br />

darüber zu entscheiden, in wessen Obhut er die Kenntnis<br />

über seine Verhaftung am besten gewahrt wissen will.<br />

Aus den gleichen Gründen ist die Einschränkung, dem<br />

Beschuldigten solle das Recht, einen Angehörigen oder eine<br />

Person seines Vertrauens zu benachrichtigen, nur zustehen,<br />

„sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet<br />

wird“, verfassungsrechtlich bedenklich. Die Informationspflicht,<br />

die sich aus Art. 104 Abs. 4 GG ergibt, beschränkt sich<br />

alleine auf die Tatsache der Verhaftung. Es ist kaum ein Fall<br />

denkbar, in dem die Mitteilung über die bloße Tatsache der<br />

Verhaftung geeignet ist, den Zweck der Untersuchung zu<br />

gefährden. Selbst (oder: gerade) bei hochkriminellen komplexen<br />

Strukturen – an die der Gesetzgeber wohl gedacht hat –,<br />

darf man sich darauf verlassen, dass diesen auch ohne staatlichen<br />

Hinweis auffallen wird, wenn (zentrale Figuren) festgenommen<br />

wurden und „nicht mehr da“ sind. Die wenigen<br />

denkbaren Ausnahmen fallen gegenüber dem eindeutigen<br />

verfassungsrechtlichen Willen, dass es in unserem Rechtsstaat<br />

kein „Verschwinden von Personen“ geben soll, nicht beträchtlich<br />

ins Gewicht. Das Grundgesetz ist in diesem Punkt so<br />

rigoros, dass es die Benachrichtigungspflicht sogar der Disposition<br />

des Beschuldigten entzieht und dieser nicht einmal<br />

freiwillig darauf verzichten darf. 40 Hinzu kommt, dass die<br />

Wirkung der Ausnahmeregelung ohnehin nur bis zur richterlichen<br />

Benachrichtigung nach § 114c Abs. 2 StPO greift, die<br />

eine vergleichbare Beschränkung nicht kennt.<br />

Die Bedenken wiegen im Übrigen auch deshalb schwer, weil<br />

sich die Rechtslage für den Beschuldigten – unbemerkt () –<br />

verschlechtert hat. Bisher war nach § 114b Abs. 1 StPO a.F.<br />

wenigstens der Richter verpflichtet, unverzüglich nach der<br />

Verhaftung eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen.<br />

Daher waren Einschränkungen der persönlichen Benachrichtigungspflicht<br />

des Beschuldigten gerade noch hinnehmbar.<br />

Nunmehr hat nach § 114c Abs. 2 StPO das Gericht (erst)<br />

nach der Vorführung bei vollzogener Haft die unverzügliche<br />

Benachrichtigung anzuordnen. Mit anderen Worten: Während<br />

bisher eine Vertrauensperson unverzüglich von der<br />

Festnahme benachrichtigt werden musste und lediglich die<br />

persönliche Benachrichtigungspflicht durch Gefährdung des<br />

Untersuchungszwecks entfallen konnte, gibt es im letzteren<br />

Fall jetzt zunächst gar keine Benachrichtigung. Sie erfolgt<br />

dann frühestens nach der Vorführung.<br />

Erfolgreich mit der Verfassungsbeschwerde kann der<br />

Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG, der das Recht konstituiert,<br />

eine nahestehende Person über die Festnahme zu informieren,<br />

gerügt werden. Das BVerfG stellt jedoch lediglich<br />

fest, das Unterlassen der Benachrichtigung habe das genannte<br />

Grundrecht des Verhafteten verletzt. Die ergangene Entscheidung<br />

wird nicht aufgehoben, weil der Verfassungsverstoß<br />

deren sachlichen <strong>Inhalt</strong> nicht berührt. 41<br />

§§ 114d und 114e StPO sollen gewährleisten, dass Gerichten,<br />

Staatsanwaltschaften und Vollzugsanstalten die zur<br />

Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlichen personenbezogenen<br />

Daten zur Verfügung stehen, und legen zu<br />

diesem Zweck wechselseitige Informationspflichten fest.<br />

Beide Vorschriften genügen nicht den datenschutzrechtlichen<br />

Mindeststandards. Auch der Untersuchungsgefangene hat ein<br />

Recht auf Schutz seiner persönlichen Daten. Die Untersuchungshaft<br />

dient nicht dazu, Strafverfolgungsbehörden<br />

oder Gerichte mit erweiterten Kenntnissen über die Untersuchungsgefangenen<br />

zu versorgen. Es dürfen nur so wenige<br />

Daten übermittelt werden, wie es für die Erfüllung ihrer Aufgaben<br />

erforderlich ist. Die Übersendung der Anklageschrift<br />

an die Haftanstalt stellt vor allem im wesentlichen Ergebnis<br />

der Ermittlungen ein Füllhorn von Informationen zur Verfü-<br />

37 BVerfG, Beschl. v. 14.5.1963 – 2 BvR 516/62, BVerfGE<br />

16, 119 (123).<br />

38 So Meyer-Goßner (Fn. 25), § 114b Rn. 4.<br />

39 Hilger (Fn. 22), § 114b Rn. 22; Graf, in: Hannich (Fn. 25),<br />

§ 114b Rn. 4.<br />

40 Paeffgen (Fn. 4), § 114b Rn. 4a m.w.N.<br />

41 BVerfG, Beschl. v. 14.5.1963 – 2 BvR 516/62, BVerfGE<br />

16, 119 (123); BVerfG, Beschl. v. 2.7.1974 – 2 BvR 648/73,<br />

BVerfGE 38, 32 (34); VerfG Brandenburg, Beschl. v.<br />

17.2.2000 – VfGBbG 45/99; NStZ-RR 2000, 185 (187).<br />

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508<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gung, die für den Vollzug der Untersuchungshaft nicht erforderlich<br />

sind. Die Übermittlung von Daten der Untersuchungshaftanstalt<br />

findet ihre Grenzen dort, wo die Sicherung des<br />

Verfahrens als Zweck der Untersuchungshaft aufhört und die<br />

Exploration des Untersuchungsgefangenen beginnt. Diese<br />

Grenzen hat der Gesetzgeber weit hinter sich gelassen.<br />

In § 114d StPO wird die Benachrichtigungspflicht von<br />

Gericht bzw. Staatsanwaltschaft in Richtung Justizvollzugsanstalt<br />

geregelt. Es bestehen erhebliche Zweifel an einer<br />

Gesetzgebungskompetenz des Bundes in diesem Zusammenhang.<br />

Diese Benachrichtigungspflichten dienen in erster Linie<br />

der Anstalt, um den Vollzug der Untersuchungshaft entsprechend<br />

zu gestalten. Der Bund ist für diese Frage nicht mehr<br />

zuständig. Dafür spricht nicht zuletzt, dass sich Regelungen<br />

hierzu bisher in der Verwaltungsvorschrift zum Vollzug der<br />

Untersuchungshaft, der Untersuchungshaftvollzugsordnung,<br />

finden. Die Begründung der Bundesregierung, die Informationspflichten<br />

des Haftgerichts seien unmittelbarer Ausfluss<br />

der gerichtlichen Entscheidung, 42 überzeugt nicht: Vollzugsangelegenheiten<br />

sind immer unmittelbarer Ausfluss gerichtlicher<br />

Entscheidungen – ansonsten wäre die Freiheitsbeschränkung<br />

unzulässig.<br />

Auch der gesetzlich angeordnete „umgekehrte Informationsfluss“<br />

durch die Verpflichtung der JVA zur Übermittlung<br />

aller beim Vollzug der Untersuchungshaft bekannt gewordenen<br />

für das anhängige Verfahren bedeutsamen Erkenntnisse<br />

an Staatsanwaltschaft oder Gericht ist hochproblematisch,<br />

erscheinen doch alle Lebensbereiche jedenfalls unter dem<br />

Blickwinkel der Strafzumessung potentiell interessant, so ist<br />

schnell eine „Totalbeobachtung“ 43 des Untersuchungsgefangenen<br />

legitimierbar. Dies wäre nicht vereinbar mit Verfassungsgrundsätzen:<br />

44 Denn das Untersuchungskonzept 45 zielt<br />

darauf ab, den Beschwerdeführer in seinem Alltagsverhalten<br />

gegenüber Personen, deren Urteil er nicht befürchten muss,<br />

oder das er für belanglos hält, zu beobachten. Er soll in seiner<br />

eigenverantwortlichen Gestaltung des Tagesablaufs, seiner<br />

persönlichen Pflege oder Vernachlässigung von Interessen<br />

und in seiner Integrationsfähigkeit in die jeweilige Umwelt<br />

bzw. Gemeinschaft beobachtet werden. Die damit angestrebte<br />

Totalbeobachtung, die Erkenntnisse über die Persönlichkeit<br />

des Beschuldigten erbringen soll, die er von sich aus nicht<br />

preisgeben will, von denen aber erhofft wird, dass er sie unter<br />

der Einflussnahme Dritter offenbart, ist unzulässig. Denn eine<br />

solche Maßnahme liefe auf die Umgehung des verfassungsrechtlich<br />

garantierten Schweigerechts des Beschuldigten und<br />

einen Verstoß gegen § 136a StPO hinaus. Verfassungsrechtlich<br />

steht einer solchen Totalüberwachung der unantastbare<br />

Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten<br />

entgegen, der dadurch zum bloßen Objekt staatlicher Wahr-<br />

42 BT-Drs. 16/11944, S. 18.<br />

43 Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zum Referentenentwurf<br />

des Bundesministeriums der Justiz „Gesetz<br />

zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts“, S. 7.<br />

44 BVerfG, Beschl. v. 9.10.2001 – 2 BvR 1523/01, NJW<br />

2002, 283.<br />

45 Im entschiedenen Fall die Verlegung in eine andere Haftanstalt<br />

zum Zweck psychiatrischer Beobachtung.<br />

heitsfindung gemacht würde, dass sein Verhalten nicht mehr<br />

als Ausdruck seiner Individualität, sondern nur noch als wissenschaftliche<br />

Erkenntnisquelle verwertet würde. 46<br />

IV. Gesetzgebung „en passant“ und „offene Baustellen“<br />

Schließlich hat das Gesetzgebungsverfahren unverhofft den<br />

Anwendungsbereich notwendiger Verteidigung für alle Fälle<br />

vollzogener Untersuchungshaft erweitert (§ 140 Abs. 1 Nr. 4<br />

StPO). In diesem Fall haben die Parlamentarier sich ein Herz<br />

gefasst und diese Jahrzehnte alte Forderung der Anwaltschaft<br />

47 „nebenbei“ in den Bericht und die Beschlussempfehlung<br />

des Rechtsausschusses 48 aufgenommen. Leider hatte<br />

dann niemand mehr den Mut, weitere Missstände auszuräumen:<br />

Mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr geht (zumindest<br />

tendenziell) eine Verschiebung in der Begründung<br />

von Untersuchungshaft einher, die auf den ersten Blick im<br />

Gegensatzpaar des materiellen Strafrechts, in der Alternative<br />

zwischen „Tatstrafrecht und Täterstrafrecht“ ihre Entsprechung<br />

findet. Ganz in diesem Sinne ist gegen die als Sicherungshaft<br />

bezeichnete Maßnahme massive Kritik vorgebracht<br />

worden. 49 Sie verstößt gegen die Unschuldsvermutung und<br />

beschreibt eine präventiv-polizeiliche Maßnahme, die mangels<br />

Gesetzgebungskompetenz keine Regelung durch den<br />

Bundesgesetzgeber hätte erfahren dürfen. 50 Man hätte diesen<br />

Haftgrund schlicht streichen sollen.<br />

Weiter hätte im Gesetz klargestellt werden sollen, dass<br />

auch in den Fällen des § 112 Abs. 3 StPO Anhaltspunkte für<br />

einen der anerkannten Haftgründe erforderlich sind. 51<br />

Schließlich bedarf es einer ausdrücklichen Regelung für<br />

die sog. Zwischen- und die sog. Organisationshaft, weil es an<br />

einer den Grundrechts-Eingriff tragenden Ermächtigungsgrundlage<br />

fehlt. 52<br />

46 BVerfG, Beschl. v. 9.10.2001 – 2 BvR 1523/01, NJW<br />

2002, 283.<br />

47 Vgl. dazu z.B. den DAV-Entwurf zur Reform des Ermittlungsverfahrens<br />

(2005-51).<br />

48 BT-Drs. 16/13097, S. 27.<br />

49 Ausdrückliche Bezeichnung als vorbeugende Maßnahme<br />

„präventiv-polizeilicher Natur“ bei OLG Thüringen, Beschl.<br />

v. 21.10.2008 – 1 Ws 459/08, StraFo 2009, 21 (22); freilich<br />

ohne weitere Problematisierung der damit verbundenen verfassungsrechtlichen<br />

Implikationen.<br />

50 Ausführliche Darstellung des Streitstandes bei Paeffgen<br />

(Fn. 4), § 112a Rn. 3 m.w.N.<br />

51 Entgegen der vom Bundesverfassungsgericht geforderten<br />

verfassungskonformen Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO<br />

(BVerfG, Beschl. v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, BVerfGE<br />

19, 342 [350 f.]) werden in der Praxis Haftbefehle vielfach<br />

nur mit dem Tatverdacht eines Tötungsdeliktes oder eines<br />

anderen der dort genannten Verbrechen begründet, ohne dass<br />

Hinweise auf Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr<br />

vorliegen.<br />

52 Vgl. ausführlich Paeffgen, in: Weßlau u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag, 2008, S. 35 ff.<br />

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509


Michael Tsambikakis<br />

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V. Fazit<br />

Die Strafprozessordnung wird 130 Jahre nach ihrem Inkrafttreten<br />

durch mannigfaltige Einflüsse verändert. Am Beispiel<br />

der aktuellen Umgestaltung des Untersuchungshaftrechts ließ<br />

sich veranschaulichen, dass Grundgesetzänderungen, die<br />

Rechtsprechung des EGMR oder Arbeiten anderer europäischer<br />

Institutionen die StPO formen. Die Modifikationen<br />

erfolgen punktuell, wirken zunächst unabhängig<br />

voneinander und sind auf den ersten Blick kaum aufeinander<br />

bezogen. In ihrer Gesamtheit erodieren sie jedoch Schritt für<br />

Schritt den „großen Wurf“ einer einheitlich durchdachten<br />

Verfahrensordnung. Die Wandlungen wirken aus so unterschiedlichen<br />

Richtungen, dass die Sorge berechtigt erscheint,<br />

ein stimmiges Gesamtkonzept gehe ohne adäquaten Ersatz<br />

verloren. Die Kraft für eine umfassende Reform der Strafprozessordnung<br />

hat der Gesetzgeber aber offensichtlich nicht.<br />

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510<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren*<br />

Von RiOLG Prof. Dr. Matthias Jahn, Erlangen/Nürnberg<br />

Von den 130 Jahren seit Inkrafttreten der Strafprozessordnung<br />

fallen 60 Jahre in die Geltung des Bonner Grundgesetzes<br />

und nur zwei Jahre weniger in die Phase der Spruchtätigkeit<br />

des Bundesverfassungsgerichts in Strafsachen. Der nachfolgende<br />

Beitrag will diesen Zusammenhang exemplarisch<br />

für den „Jedermann“-Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde<br />

beleuchten. Ausgangspunkt ist die Perspektive des Strafverteidigers,<br />

der mit der Frage konfrontiert wird, ob er nach<br />

Erschöpfung des Rechtsweges vor den Fachgerichten Verfassungsbeschwerde<br />

einlegen soll.<br />

I. Einleitung**<br />

Dass das Strafprozessrecht in ganz besonderem Maße vom<br />

Verfassungsrecht geprägt ist, wird heute nicht mehr ernsthaft<br />

bestritten. Es lässt sich sogar sagen, dass das Strafverfahren<br />

in seiner heutigen Gestalt auf dem Mutterboden des Bonner<br />

Grundgesetzes gediehen ist. Dies hängt unmittelbar mit der<br />

Dichotomie von staatlichem Sanktionenanspruch und dem<br />

Schutz der Beschuldigtenrechte zusammen. Strafprozessrecht<br />

ist deshalb konkretisiertes Verfassungsrecht – bereits vor<br />

einem Vierteljahrhundert eine stehende Redensart. 1 Wie ist es<br />

allerdings um die Realität dieses Satzes bestellt, wenn die<br />

Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzansprüche in<br />

einem konkreten Strafverfahren vom BVerfG eingefordert<br />

werden soll Ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz<br />

(BVerfGG), um das berühmte Wort von Eberhard Schmidt 2<br />

abzuwandeln, in puncto Schutz der Mandantenrechte auch<br />

ein Ergänzungsgesetz zur Strafprozessordnung<br />

Der Rechtsanwalt und Strafverteidiger, der sich mit dem<br />

Wunsch konfrontiert sieht, für (s)einen Mandanten Verfassungsbeschwerde<br />

einzulegen, hat zahlreiche Hürden zu nehmen.<br />

Sein Tätigwerden stellt auch schon vor Annahme des<br />

* Meinem Freund und Kollegen Thomas Rotsch zum 45.<br />

Geburtstag gewidmet, der zugleich in unser 43. Fachsemester<br />

fällt. – Der Verf. dankt seiner Mitarbeiterin, Frau Richterin<br />

Dr. Dana Reichart, für wichtige Vorarbeiten und Diskussionen.<br />

** Gekürzter Vorabdruck aus dem Einleitungskapitel des im<br />

nächsten Jahr erscheinenden Gemeinschaftswerks „Die Verfassungsbeschwerde<br />

in Strafsachen“ von Matthias Jahn,<br />

Christoph Krehl, Markus Löffelmann und Georg-Friedrich<br />

Güntge. Den Herausgebern der Reihe Praxis der Strafverteidigung,<br />

Werner Beulke und Alexander Ignor, ist für die<br />

freundliche Kooperation ebenso zu danken wie dem C.F.<br />

Müller-Verlag, Heidelberg – insbesondere unserem Lektor<br />

Tilmann Datow – für die Vorabdruckgenehmigung.<br />

1 Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 389. Der Satz geht<br />

zurück auf das Vorwort von Henkel zur 1. Auflage seines<br />

Lehrbuches zum Strafverfahrensrecht: „Es lässt sich daher<br />

[…] der Standpunkt vertreten, dass das Strafverfahrensrecht<br />

in seinen Grundlagen ‚angewandtes Verfassungsrecht‘ darstelle“.<br />

2 Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und<br />

zum Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1, 1952, Rn. 92.<br />

Mandats besondere Anforderungen in fachlicher, menschlicher<br />

und auch organisatorischer Hinsicht. 3 Selbst wenn es<br />

gelingen sollte, die geschriebenen, teilweise aber auch nur<br />

richterrechtlich etablierten Zulässigkeitsvoraussetzungen zu<br />

erfüllen, sind die Aussichten auf ein Obsiegen in der Sache<br />

jedenfalls statistisch verzweifelt gering. Der Anwalt muss<br />

sich, dem (potentiellen) Mandanten oder dem anfragenden<br />

Kollegen möglichst bald und unmissverständlich deutlich vor<br />

Augen halten, dass der weitaus größte Teil der Verfassungsbeschwerden<br />

in der Sache erfolglos bleibt. Ein mit Gründen<br />

versehener Nichtannahmebeschluss, so tragisch sich dessen<br />

immer gleicher Schlusssatz („Diese Entscheidung ist unanfechtbar“)<br />

für den Mandanten auch auswirken mag, muss<br />

insoweit fast schon als Teilerfolg gewertet werden. 4 Diese<br />

rechtstatsächlich wenig ermutigende Perspektive darf in Fällen,<br />

in denen nach erster gedanklicher Vorprüfung eine Verletzung<br />

von Verfassungsrecht im bisherigen strafgerichtlichen<br />

Verfahren nicht unter jedem Gesichtspunkt ausgeschlossen<br />

erscheint, aber nicht von weiteren Überlegungen<br />

abhalten. Eine eingehende Sachprüfung ist Teil der Aufgabe<br />

des Rechtsanwalts und Strafverteidigers auch und gerade im<br />

Verfassungsbeschwerdeverfahren. Es muss den Individualrechtsschutz<br />

auf verfassungsrechtlicher Ebene verwirklichen.<br />

Ob man das Recht auf Verteidigerbeistand auch im verfassungsgerichtlichen<br />

Verfahren dabei als Fortwirkung aus der<br />

Garantie des fairen (Straf-)Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.<br />

Art. 20 Abs. 3 GG) oder über das grundrechtsgleiche Recht<br />

auf rechtliches Gehör in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgt sieht,<br />

ist dabei sekundär. 5 Verbürgt wird für den Beschuldigten<br />

schon vor den Fachgerichten das Recht auf tatsächliche und<br />

wirksame Verteidigung. Diese Garantie gilt ungeachtet der<br />

Besonderheiten des Verfahrens auch vor dem Verfassungsgericht.<br />

Die Aufgabe des Prozessbevollmächtigten ist es nach<br />

der neueren Rechtsprechung des BVerfG 6 , den Mandanten<br />

vor verfassungswidriger Beeinträchtigung und staatlicher<br />

Machtüberschreitung zu bewahren. Er muss der öffentlichen<br />

Gewalt gegenüber auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

jedes Defizit ausgleichen, das seinen Mandanten – „wenn<br />

dieser mangels Kenntnis oder mangels Fähigkeit dazu nicht<br />

3 Statt vieler Kirchberg, JA 2007, 753 (756).<br />

4 Zutreffende Einordnung von bedeutsamen Beispielsfällen<br />

(„Sedlmayr“, „Brechmittel“) dieses Entscheidungstyps bei<br />

Eschelbach, in: Widmaier (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch<br />

Strafverteidigung, 2006, § 28 Rn. 13.<br />

5 Dazu grds. S. Walther, in: Weigend/Walther/Grunewald<br />

(Hrsg.), Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen,<br />

2008, S. 329 (S. 342 f., 350). Weitere Nachw. zu den verschiedenen<br />

Auffassungen bei Lüderssen/Jahn, in: Erb u.a.<br />

(Hrsg.), Löwe/ Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das<br />

Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 137 Rn.<br />

2.<br />

6 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats) NJW 1996, 3268. Vgl.<br />

dazu Jahn, ZRP 1998, 103 (104); ders., NStZ 1998, 389<br />

(392).<br />

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511


Matthias Jahn<br />

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in der Lage ist“ 7 – an der Wahrnehmung seiner Rechte als<br />

gleichwertiges und mit gleichen Waffen ausgestattetes Prozesssubjekt<br />

hindert. Mit dieser Standortbestimmung durch<br />

eine BVerfG-Kammer stimmt die Regelung in § 1 Abs. 3 a.E.<br />

der Berufsordnung der Rechtsanwälte (BORA) 8 wörtlich<br />

überein. In der Senatsentscheidung zur Verfassungswidrigkeit<br />

der Versäumnisurteils-Vorschrift in der früheren Berufsordnung<br />

hat das BVerfG 9 hinzugefügt, dass den Rechtsanwalt<br />

„zuvörderst die Pflicht (trifft), alles zu tun, was im Rahmen<br />

seines Auftrags zugunsten des Mandanten möglich ist“. Obgleich<br />

deshalb die Sachprüfung durch einen Rechtsanwalt<br />

besonders sinnvoll ist, existiert eine der Revision in Strafsachen<br />

(§ 345 Abs. 2 StPO) vergleichbare Vorschrift im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

nicht. Es herrscht außerhalb<br />

der mündlichen Verhandlung vor dem Senat kein Anwaltszwang<br />

(vgl. § 22 Abs. 1 BVerfGG: „können“). Die Anforderungen<br />

an die Förmlichkeiten der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde<br />

müss(t)en daher grundsätzlich so beschaffen<br />

sein, dass auch der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer<br />

sie erfüllen kann; ihm dürf(t)en nach dem Gesetz<br />

gegenüber dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer<br />

keine Nachteile erwachsen. Dass ist freilich Theorie. Tatsächlich<br />

spricht die Statistik eine ganz andere Sprache. Die Erfolgsquote<br />

nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer im<br />

Verfassungsbeschwerdeverfahren liegt im langjährigen Mittel<br />

regelmäßig unter 0,3 %. 10 Faktisch dürfte die Erfüllung der<br />

Anforderungen an das Verfassen einer Beschwerdeschrift in<br />

Strafsachen mittlerweile derart erschwert sein, dass der fehlende<br />

Anwaltszwang im Verfassungsbeschwerdeverfahren als<br />

von der Realität überholte Gesetzesregelung bezeichnet werden<br />

muss. 11 Dabei handelt es sich – ohne dass dies hier näher<br />

ausgeführt werden muss – um ein wechselseitiges Verhältnis.<br />

7 BGHSt 41, 69 (72).<br />

8 Das Berufsordnungsrecht ist in der BORA geregelt, die die<br />

Satzungsversammlung (§§ 191a-191e BRAO) auf Grund<br />

gesetzlicher Ermächtigung (§ 59b BRAO) erlassen hat, vgl.<br />

dazu Hartung, in: Büchting (Hrsg.), Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch,<br />

9. Aufl. 2007, N 2 Rn. 23 ff. Da der in Fn. 6<br />

erwähnte Beschluss des BVerfG dem Inkrafttreten der Berufsordnung<br />

am 11.3.1997 (§ 35 Abs. 1 BO) zeitlich vorausging,<br />

ist davon auszugehen, dass das Gericht der damaligen<br />

Satzungsversammlung Formulierungshilfe geleistet hat. Siehe<br />

zur Entstehungsgeschichte auch Zuck, NJW 1996, 3189<br />

(3190).<br />

9 BVerfGE 101, 312 (328).<br />

10 Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl.<br />

2006, Rn. 1313. Im Jahre 2007 waren 41 (2006: 69) von 59<br />

(2006: 81) Beschwerdeführern, deren Verfassungsbeschwerde<br />

vom für Strafsachen im Wesentlichen zuständigen zweiten<br />

Senat stattgegeben wurde, anwaltlich vertreten;<br />

www.bundesverfassungsgericht.de/organisation.<br />

11 Die durchaus vielstimmige Kritik an diesem Zustand<br />

(Schoreit, ZRP 2002, 148 [150]; Zuck, NJW 1986, 968 [971];<br />

ders., AnwBl. 2006, 95; Jahn, in: Schöch/Satzger u.a. (Hrsg.),<br />

Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag, 2008,<br />

S. 821 [S. 837 f.]; anders aber Schorkopf, AöR 130 [2005],<br />

465 [489 ff.]) muss hier auf sich beruhen.<br />

Gerade weil vor dem BVerfG kein Anwaltszwang herrscht,<br />

sind die formellen Anforderungen hoch, um dem Gericht bei<br />

der Vielzahl der eingehenden Beschwerden noch eine sachgerechte<br />

Prüfung der Substanz einer erfolgsgeeigneten Beschwerdeschrift<br />

zu ermöglichen.<br />

II. Überlegungen vor Mandatsannahme<br />

Vor dem Entschluss, für (s)einen Mandanten Verfassungsbeschwerde<br />

beim Bundesverfassungsgericht einzulegen, sollte<br />

der Verteidiger vor diesem Hintergrund einige praktische<br />

Überlegungen anstellen.<br />

1. Der Verteidiger zwischen Mandant und Recht<br />

Der gemeinsame Weg an den Karlsruher Schlossplatz ist<br />

auch im Mandatsinnenverhältnis keine leichte Tour. Auf der<br />

einen Seite steht ein Bürger, der sich nach dem Durchlaufen<br />

des strafrechtlichen Instanzenzuges häufig emphatisch mehr<br />

denn je „im Recht“ fühlt und mit allen Mitteln doch noch<br />

eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen möchte.<br />

Er ist mit den Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen<br />

Verfahrens aber regelmäßig ebenso wenig vertraut wie mit<br />

den jedenfalls statistisch trüben Aussichten der tatsächlichen<br />

Realisierung seines Anliegens. Auf der anderen Seite steht<br />

das „gelebte“ Verfassungsrecht: Die Erfolgsquote sämtlicher<br />

ins Verfahrensregister eingetragener Verfassungsbeschwerden<br />

liegt im Mittel bei etwas über 2 %. 12 Es ist eine schwierige<br />

Aufgabe, dem Mandanten einerseits das Gefühl zu geben,<br />

ernst genommen zu werden, ihm aber andererseits trotz der<br />

generell besonders hohen Akzeptanz der Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

in der Bevölkerung gleichzeitig die erratischen<br />

Erfolgsaussichten deutlich zu machen. Dies kann gerade bei –<br />

wie in Strafsachen nicht selten – ausländischen Beschwerdeführern<br />

mit anderem kulturellen Hintergrund und Rechtsverständnis<br />

nicht nur im buchstäblichen Sinne zu Verständigungsschwierigkeiten<br />

führen. Im Ergebnis sollte dem Mandanten<br />

näher gebracht werden, dass es trotz des im Einzelfall<br />

hohen Aufwandes (und gegebenenfalls vergleichbarer Kosten)<br />

letztlich – mit den Worten einer amtierenden Verfassungsrichterin<br />

– nur darum gehen kann, das Unwahrscheinliche<br />

etwas wahrscheinlicher zu machen. 13<br />

So kritikwürdig die extensive Auslegung insbesondere<br />

einzelner Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde<br />

durch einige Kammern des BVerfG nach dem<br />

12 Siehe bereits v. Löbbecke, in: Umbach u.a. (Hrsg.), Das<br />

wahre Verfassungsrecht, 1984, S. 395 (S. 396), mag auch in<br />

Teilbereichen der Anteil unzulässiger Verfassungsbeschwerden<br />

in Strafsachen rückläufig sein; so für Verfassungsbeschwerden<br />

aus den Bereichen Strafvollzug und Untersuchungshaft<br />

Lübbe-Wolff/Lindemann, NStZ 2007, 450 (451).<br />

Eingehendere statistische Angaben bei Jahn (Fn. 11), S. 827;<br />

Reichart, Revision und Verfassungsbeschwerde in Strafsachen,<br />

2008, S. 35 ff.<br />

13 So der viel sagende Untertitel eines Aufsatzes zur Verfassungsbeschwerdejudikatur<br />

des Gerichts von Lübbe-Wolff,<br />

AnwBl. 2005, 509.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

512<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

„Stolpersteinprinzip“ 14 im Einzelfall auch sein mag: Sie<br />

muss, um nicht beim Mandanten unbegründete Hoffnungen<br />

zu wecken, beachtet und befolgt werden, bis das Gericht<br />

seine Rechtsprechung ändert oder – was kaum zu erwarten ist<br />

– der Gesetzgeber klarstellend eingreift. 15 Anstöße hierzu<br />

sollen im Nachfolgenden im jeweiligen Sachzusammenhang<br />

gegeben werden. Fälschlich geweckte Erwartungen beim<br />

Mandanten können sich zudem im Regressprozess Ausdruck<br />

verschaffen, insbesondere dann, wenn dem Beschwerdeführer<br />

eine Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG auferlegt<br />

wurde. 16 Dazu kommt für den Verfahrensbevollmächtigten<br />

die deprimierende Gewissheit, „seine“ Sache nicht auf der<br />

hell erleuchteten Bühne der mündlichen Verhandlung vor<br />

dem Senat, sondern nur in dem grauen Heer erfolgloser Beschwerdeführer<br />

vertreten zu haben, ganz zu schweigen von<br />

der Aussicht, durch sinnlose Eingaben den guten Ruf und<br />

eine gute Arbeitsbeziehung zu den Fachgerichten – insbesondere<br />

zum BGH – und natürlich auch zu den Richtern im<br />

Karlsruher Schlossbezirk zu verspielen.<br />

und Rechtsprofessoren nicht mehr gewachsen sind“, wie<br />

Richterin Lübbe-Wolff 20 lakonisch anmerkt. Vieles spricht<br />

also dafür, auch noch den – vorbehaltlich besonderer völkerrechtlicher<br />

Rechtsbehelfe – „letzten Schritt“ gemeinsam zu<br />

gehen. Zum einen die Tatsache, dass niemand den Prozessverlauf<br />

so gut kennt wie der ursprüngliche Verteidiger, was<br />

ihn wiederum zur Einhaltung der vom BVerfG an die Begründung<br />

einer Verfassungsbeschwerde aufgestellten Anforderungen<br />

an die Substantiierung wie niemand anderen qualifiziert.<br />

Die einfachrechtliche Problematik muss nicht mehr<br />

gesondert aufbereitet werden, auch die mitteilungsbedürftigen<br />

Dokumente und sonstigen Unterlagen sind vorhanden<br />

oder können mittels (wiederholter) Ausübung des Akteneinsichtsrechts<br />

aus § 147 StPO unschwer beschafft werden 21 . Es<br />

kann zudem einen erheblichen Vorteil bedeuten, wenn zu<br />

einer bestimmten, im Verfassungsbeschwerdeverfahren unter<br />

verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zur Prüfung gestellten<br />

Frage bereits eine Revisionsbegründungsschrift verfasst<br />

wurde, an die nunmehr angeknüpft werden kann.<br />

2. Abgabe der Sache an einen Spezialisten<br />

Es stellt sich so schon im Ausgangspunkt die Frage, ob die<br />

Aufgabe nicht besser einem Spezialisten mit Tätigkeitsschwerpunkt<br />

im Recht der Verfassungsbeschwerde, möglichst<br />

also dem durch einschlägige Erfahrungen und Publikationen<br />

ausgewiesenen Fachanwalt für „Strafprozessverfassungsrecht“<br />

17 , überlassen werden sollte. Dies vermeidet das<br />

Phänomen der Betriebsblindheit, wenn sich der Verteidiger<br />

den Prozess im strafgerichtlichen Instanzenzug zu sehr zu<br />

Eigen gemacht hat. Oft vermag ein Außenstehender mit forensischer<br />

Erfahrung in Karlsruhe und eventuellen Kontakten<br />

in das Gericht auch die Erfolgsaussichten realistischer einzuschätzen.<br />

Unterschiedliche Gründe können aber gegen ein<br />

solches „Outsourcing“ sprechen. Selbst wenn man, was angesichts<br />

der geringen – und vermutlich umstrittenen – Mitgliederzahl<br />

dieses Kreises schon bezweifelt werden dürfte, die<br />

Existenz einer derartigen Quasi-Fachanwaltschaft bejaht,<br />

würde sie doch bald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen.<br />

18 Expertentum kann zudem nicht ohne Verlust gegen das<br />

zwischen Verteidiger und Mandant gewachsene Vertrauensverhältnis<br />

getauscht werden. 19 Zuletzt wird auch die Mandatierung<br />

eines Experten nichts daran ändern, dass bereits den<br />

Karlsruher Zulässigkeitsanforderungen auch „Spitzenanwälte<br />

14 Aufschlussreich wiederum Lübbe-Wolff, EuGZR 2004, 669<br />

(682). In dem von Lübbe-Wolff verfassten abweichenden<br />

Votum zu BVerfGE 112, 1 (45) wird die Zulässigkeitsrechtsprechung<br />

zur Subsidiarität und Substantiierung ausdrücklich<br />

als „diskussionsbedürftig“ bezeichnet.<br />

15 Richtig Zuck (Fn. 10), Rn. 8a.<br />

16 Dazu sogleich unten II. 4.<br />

17 Zum Begriff Jahn, NStZ 2007, 255.<br />

18 Zuck, AnwBl. 2006, 95 (96) spricht von etwa einem Dutzend<br />

„Verfassungsbeschwerdespezialisten“, die freilich nicht<br />

alle das Rüstzeug aus der strafrechtlichen Fachgerichtsbarkeit<br />

mitbringen dürften.<br />

19 Zu seiner zentralen Bedeutung für erfolgreiche Verteidigung<br />

Lüderssen/Jahn (Fn. 5), Vor § 137 Rn. 78.<br />

3. Strategien im Graubereich<br />

Misst der Verteidiger nach eingehender Sachprüfung der<br />

Sache jedoch keine Erfolgsaussichten zu, sollte er seinen<br />

Mandanten darauf auch deutlich hinweisen. Eine für den<br />

Laien nachvollziehbare schriftliche Stellungnahme sollte<br />

nicht unterbleiben. Beharrt der Mandant dennoch auf seiner<br />

Ansicht und besteht weiterhin auf Einlegung der Verfassungsbeschwerde,<br />

ist folgende Vorgehensweise zumindest<br />

theoretisch und grundsätzlich ohne Verstoß gegen Regeln des<br />

Berufsrechts denkbar: Da außerhalb der mündlichen Verhandlung<br />

– welche in der Praxis die absolute Ausnahme darstellt<br />

– im Verfassungsbeschwerdeverfahren kein Anwaltszwang<br />

herrscht, kann sich der Verteidiger gegen ein gesondert<br />

zu vereinbarendes Honorar bereit erklären, einen Schriftsatz<br />

zu entwerfen, welchen der Beschwerdeführer selbst in<br />

eigenem Namen beim Gericht anbringt. Auf einem ganz<br />

anderen Blatt steht freilich, ob sich ein Anwalt für solche<br />

Ghostwriterdienste zur Verfügung stellen sollte. Erscheint<br />

eine solche Strategie im Graubereich nicht angängig, besteht<br />

zuletzt noch die Möglichkeit, zur Wahrung der Rechte des<br />

Beschwerdeführers und zur Vermeidung drohender Verfristung<br />

die Verfassungsbeschwerde mit dem Hinweis einzulegen,<br />

dass dies zunächst nur zur Fristwahrung geschehe und<br />

erst in einem Folgeschriftsatz mitgeteilt werde, ob diese aufrecht<br />

erhalten werde. Der Nachteil: die nachträgliche, d.h.<br />

nach Ablauf der Beschwerdefrist eingehende Ergänzung des<br />

20 EuGRZ 2004, 669 (676). Dass dies hinreichender Anlass<br />

sein sollte, die Rechtsprechung selbstkritisch zu überprüfen,<br />

steht auf einem anderen Blatt, siehe dazu Zuck (Fn. 10),<br />

Rn. 72 sowie – speziell zum Strafverfahrensrecht – Buermeyer,<br />

in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des<br />

Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 35 (S. 57); Jahn<br />

(Fn. 11), S. 835 ff.<br />

21 Zur zeitlichen Begrenzung des Akteneinsichtsrechts im<br />

Strafverfahren Lüderssen/Jahn (Fn. 5), § 147 Rn. 122.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

513


Matthias Jahn<br />

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Vorbringens ist nur noch in engen Grenzen möglich. 22 Kommt<br />

der Anwalt nach reiflicher Überlegung oder weiterer Überzeugungsarbeit<br />

am Mandanten zu dem Schluss, die Verfassungsbeschwerde<br />

sei aussichtslos, sollte sie mit Zustimmung<br />

des Mandanten zurückgenommen werden. Eine Gebühr wird<br />

in diesem Fall nicht erhoben; das Verfahren endet sodann<br />

durch Austragung aus dem Register. 23 Im äußersten Fall<br />

bleibt dem Anwalt schließlich noch die Möglichkeit der Aufkündigung<br />

des Mandatsvertrages, im eigenen Interesse unter<br />

gleichzeitiger Anzeige gegenüber dem BVerfG. 24<br />

4. Kosten- und Gebührenaspekte<br />

Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht enthält in<br />

§§ 34, 34a BVerfGG Regelungen zu Kosten, Gebühren und<br />

Auslagen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens.<br />

a) Gerichtskosten im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

Gemäß § 34 Abs. 1 BVerfGG ist das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

grundsätzlich kostenfrei. Das Gericht<br />

kann jedoch dem Beschwerdeführer eine Gebühr bis zu €<br />

2.600 – in der Praxis sind es meist € 100 bis € 500 – auferlegen,<br />

wenn die Einlegung der Verfassungsbeschwerde einen<br />

Missbrauch darstellt (§ 34 Abs. 2 BVerfGG). Die Statistik<br />

beweist, dass dies bei verfassungsrechtlichen Eingaben mit<br />

strafrechtlichem Hintergrund deutlich häufiger der Fall ist als<br />

bei Verfassungsbeschwerden aus anderen Rechtsgebieten. 25<br />

Nach ständiger Praxis des BVerfG 26 liegt eine missbräuchliche<br />

Verfassungsbeschwerde unter anderem auch dann vor,<br />

22 Das Nachschieben von Beschwerdegründen nach Ablauf<br />

der Frist ist nur in beschränktem Umfang zulässig (§ 93 Abs.<br />

1 BVerfGG). Das Gericht hat zwar früh entschieden, dass die<br />

Rüge in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ergänzt werden<br />

darf. Die verfassungsrechtliche Argumentation kann daher<br />

auch nach Fristablauf ergänzt werden. Hier ist jedoch Vorsicht<br />

geboten. In neueren Entscheidungen werden Tendenzen<br />

erkennbar, wonach das BVerfG die angegriffenen Entscheidungen<br />

– die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde im<br />

Übrigen vorausgesetzt – nicht mehr unter jedem in Betracht<br />

kommenden Gesichtspunkt auf ihre verfassungsrechtliche<br />

Unbedenklichkeit überprüft, sondern vielmehr jede einzelne<br />

Grundrechtsrüge benannt und begründet haben will. Zum<br />

Ganzen auch BVerfGE 80, 257 (263); BVerfG (2. Kammer<br />

des 1. Senats) NJW 2000, 3413; BVerfG (1. Kammer des 2.<br />

Senats), Beschl. v. 12.6.1995 – 2 BvR 1127/92.<br />

23 Zu – hier nicht einschlägigen – Ausnahmen nach Durchführung<br />

einer mündlichen Verhandlung BVerfGE 98, 218<br />

(242 f.).<br />

24 Zu den Grenzen dieses Rechts (Niederlegung zur Unzeit)<br />

Lüderssen/Jahn (Fn. 5), § 147 Rn. 63 ff.<br />

25 Anzahl der Fälle der Auferlegung einer Missbrauchsgebühr<br />

im 1. und 2. Senat: 1999: 5/61; 2000: 3/28; 2001: 5/16; 2002:<br />

8/18; 2003: 6/10; 2004: 7/10; im Geschäftsjahr 2005 hingegen<br />

7/6; 2006 wieder 8/23; 2007: 2/13;<br />

www.bundesverfassungsgericht.de/organisation.<br />

26 Statt vieler die beiden Beschlüsse der 2. Kammer des 2.<br />

Senats des BVerfG, abgedruckt in NJW 1996, 1273 f.<br />

wenn sie offensichtlich unzulässig ist und ihre Einlegung von<br />

jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden<br />

musste. Aufgabe des Gerichts sei es, grundsätzliche Verfassungsfragen<br />

zu entscheiden, die für das Staatsleben, die Allgemeinheit<br />

und insbesondere die Grundrechtsverwirklichung<br />

des Einzelnen von Bedeutung sind, und – wo nötig – die<br />

Grundrechte des Einzelnen durchzusetzen. Das BVerfG will<br />

es nicht hinnehmen, dass es in der Erfüllung dieser Aufgaben<br />

durch substanzlose Verfassungsbeschwerden behindert werde<br />

und dadurch anderen Bürgern nur mit erheblicher Verzögerung<br />

in deren Angelegenheiten Grundrechtsschutz gewähren<br />

könne. Dem Beschwerdeführer wird daher auch in Strafsachen<br />

zugemutet, wenigstens durch seinen Rechtsanwalt vor<br />

Einlegung der Verfassungsbeschwerde die einschlägige Rechtsprechung<br />

zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde<br />

zu ermitteln und die Erfolgsaussichten<br />

seines Rechtsbehelfs zu prüfen. 27 Wann eine Verfassungsbeschwerde<br />

im bezeichneten Sinne allerdings „offensichtlich“<br />

unzulässig ist, lässt sich in Parallele zur Entscheidung der<br />

Revisionsgerichte in Strafsachen nach § 349 Abs. 2 StPO<br />

nicht zielsicher eingrenzen. Das Gericht – insbesondere seine<br />

Kammerrechtsprechung – geht bei der Beurteilung weit über<br />

die Fälle hinaus, welche im Rahmen der Rechtswegerschöpfung<br />

diskutiert werden. 28<br />

Eine Sorgfaltspflichtverletzung seines Verfahrensbevollmächtigten<br />

muss sich der Beschwerdeführer wegen § 93<br />

Abs. 2 S. 6 BVerfGG zurechnen lassen. Sollte die Einlegung<br />

der Verfassungsbeschwerde auf einer unzulänglichen anwaltlichen<br />

Beratung beruhen, bleibt dem Beschwerdeführer die<br />

Geltendmachung eines Regressanspruchs also unbenommen.<br />

Das Gericht weist den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer<br />

nicht selten sogar explizit auf diese Möglichkeit hin. In<br />

jüngeren Entscheidungen 29 hat es die Gebühr auch ausschließlich<br />

dem Bevollmächtigten auferlegt, weil die „Missbräuchlichkeit<br />

vorrangig ihm und nicht der Beschwerdeführerin<br />

zuzurechnen“ war. Nach alledem sollte sich der Verteidiger<br />

im Verfassungsbeschwerdeverfahren auch im eigenen<br />

Interesse gehalten sehen, die Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

27 Vgl. die Beschlüsse der 2. Kammer des 2. Senats des<br />

BVerfG NJW 1996, 2785; NJW 1997, 1433 (1434) und<br />

Beschl. v. 7.1.1999 – 2 BvR 2237/98).<br />

28 Krit. zu der nicht unmittelbar subsumtionsfähigen Formel<br />

auch Zuck, NJW 1986, 2093 (2096); ders. (Fn. 10), Rn. 1219;<br />

Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.)<br />

Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 29. Lfg.,<br />

Stand: Mai 2009, § 34 Rn. 40 ff.<br />

29 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) NJW-RR 2005, 1721 f.;<br />

BVerfG (3. Kammer des 1. Senats) NJW 2004, 2959 (2960).<br />

Es handelte sich allerdings um Extremfälle. Im letztgenannten<br />

Fall etwa hatte sich der Bevollmächtigte in der von ihm<br />

unterzeichneten Verfassungsbeschwerde weder mit der Begründung<br />

der angegriffenen Entscheidungen noch mit der<br />

einschlägigen Rechtsprechung auseinandergesetzt; das Vorbringen<br />

„erschöpfte sich in Verbalinjurien über die Instanzgerichte<br />

und die Rechtsprechung des BVerfG.“ Krit. zu dieser –<br />

von Badura/Kranz, ZJS 2009, 382 (387) übersehenen – Praxis<br />

Graßhof (Fn. 28), § 34 Rn. 64; Zuck (Fn. 10), Rn. 1222 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

514<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

besser einmal zu viel als zu wenig besonders kritisch zu<br />

überprüfen und zu hinterfragen.<br />

b) Rechtsanwaltsvergütung im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

Aufmerksamkeit verdienen bei den Überlegungen vor Mandatsannahme<br />

auch Vergütungsfragen. Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde<br />

als begründet, sind dem Beschwerdeführer<br />

gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen<br />

ganz oder teilweise zu erstatten. Auslagen sind die außergerichtlichen<br />

Auslagen des Beschwerdeführers, soweit sie zur<br />

zweckentsprechenden Rechtsverfolgung vor dem BVerfG<br />

notwendig waren. Grundsätzlich und vorbehaltlich der Besonderheiten<br />

des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist<br />

deshalb vom Maßstab des § 91 ZPO auszugehen. Angesichts<br />

der geringen Erfolgsquoten im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

ist die Praxis der Auslagenerstattung allerdings äußerst<br />

restriktiv. 30 Wegen der seltenen Ausnahme einer mündlichen<br />

Verhandlung fällt in der Regel nur die Verfahrensgebühr an.<br />

Diese beträgt bei einem Mindestgegenstandswert von € 4.000<br />

(§ 37 Abs. 2 S. 2 RVG) € 392, also gerade einmal das Doppelte<br />

der Erstberatungsgebühr (VV 2102). Das ist, wie Zuck 31<br />

zu recht bündig zusammenfasst, „unter Kosten-/Nutzen-<br />

Gesichtspunkten nicht vertretbar“. Der Gegenstandswert ist<br />

unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten<br />

Umstände nach billigem Ermessen zu bestimmen. Er richtet<br />

sich vorrangig nach der subjektiven Bedeutung für den Beschwerdeführer.<br />

Diese kann dann besonders hoch sein, wenn<br />

der Schuldspruch einer strafrechtlichen Verurteilung angegriffen<br />

wird, aber auch dann, wenn es um die Verletzung<br />

besonders wichtiger Grundrechte (z.B. aus Artt. 1, 5 oder 13<br />

GG) in einem Strafverfahren geht. Aber auch der objektiven<br />

Bedeutung einer Verfassungsbeschwerde ist (vgl. § 93a<br />

Abs. 2 lit. a BVerfGG) Rechnung zu tragen. 32 Hat die objektive<br />

Seite daher eigenständige Bedeutung, führt dies regelmäßig<br />

zu einer Erhöhung des Gegenstandswertes. Eine wichtige<br />

Rolle spielen auch die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde.<br />

Hat die Verfassungsbeschwerde Erfolg<br />

gehabt, ist der Gegenstandswert angemessen zu erhöhen. 33<br />

Heute wird üblicherweise ein Mindestwert von € 8.000 veranschlagt.<br />

34<br />

In außergewöhnlich bedeutsamen Verfahren finden sich<br />

aber auch außerordentlich großzügige Gegenstandswertfestsetzungen.<br />

In dem Verfahren BVerfGE 103, 142, in dem es<br />

um die Durchsuchung der Wohnung eines Polizeibeamten<br />

ging, wurde der Gegenstandwert auf (damals) DM 150.000<br />

festgesetzt. 35 Schon aufgrund seiner beruflichen Stellung war<br />

30 Siehe im Einzelnen Zuck (Fn. 10), Rn. 1229, 1243 ff.<br />

31 Zuck (Fn. 10), Rn. 1254.<br />

32 Grdlg. BVerfGE 79, 365 (366 f.) = NJW 1989, 2047;<br />

BVerfG (1. Senat) NJW 1989, 2048 (2049).<br />

33 BVerfGE 79, 365 (369) = NJW 1989, 2047 (2048);<br />

BVerfG NJW 2000, 1399.<br />

34 Vgl. z.B. BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschl. v.<br />

30.4.2009 – 2 BvR 2009/08, Tz. 63 (in: NJW 2009, 1941<br />

nicht abgedr.); BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) NJW<br />

1995, 1737 (DM 15.000).<br />

35 BVerfG (2. Senat), Beschl. v. 26.6.2001 – 2 BvR 1444/00.<br />

die Entscheidung für den Beschwerdeführer von großem<br />

subjektivem Gewicht, objektiv ging es um die Fortschreibung<br />

der Bedeutung des Art. 13 Abs. 1 GG und des unbestimmten<br />

strafprozessualen Grundbegriffs „Gefahr im Verzug“. In der<br />

Sache BVerfGE 110, 226 zur Geldwäsche durch Strafverteidiger<br />

wurde der Gegenstandswert mit ähnlichen inhaltlichen<br />

Erwägungen sogar auf € 100.000 festgesetzt. 36 In einem weiteren<br />

Verfahren, welches die Verurteilung wegen geheimdienstlicher<br />

Agententätigkeit zu Gunsten der ehemaligen<br />

DDR gemäß § 99 StGB zum Gegenstand hatte, wurde der<br />

Gegenstandswert auf € 50.000 € festgesetzt. 37<br />

Erledigt sich die Verfassungsbeschwerde (z.B. wegen<br />

Rückgabe einer vorläufig entzogenen Fahrerlaubnis 38 oder<br />

bei Absehen von der Vollstreckung eines Beschlusses 39 ), so<br />

sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß<br />

§ 34 Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeitsgesichtspunkten<br />

zu erstatten. Dabei findet im Verfassungsbeschwerde-<br />

Verfahren eine überschlägige Beurteilung der Sach- und<br />

Rechtslage regelmäßig nicht statt. 40 Wesentliche Bedeutung<br />

kann aber insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt<br />

hat, zukommen. Beseitigt die öffentliche Gewalt von<br />

sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen<br />

Akt oder hilft sie der Beschwer auf andere Weise ab, ohne<br />

dass dies auf einer Veränderung der Sach- und Rechtslage<br />

beruht, ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung<br />

an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer<br />

die Erstattung seiner Auslagen zuzubilligen. 41 Von der<br />

in § 34 Abs. 3 BVerfGG gewährten Befugnis macht das Gericht<br />

allerdings nur äußerst restriktiv Gebrauch. 42 In aller<br />

Regel wird es letztlich bei einer Festsetzung auf den Mindestwert<br />

oder einer nur geringfügigen Erhöhung bleiben.<br />

Gemäß § 3 Abs. 3 lit. a ARB sind Verfahren vor dem BVerfG<br />

im Übrigen grundsätzlich nicht rechtsschutzversicherbar.<br />

c) Prozesskostenhilfe<br />

Häufig wird beim BVerfG Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe<br />

(PKH) gestellt. Das betrifft angesichts der<br />

nicht selten mittellosen inhaftierten Beschwerdeführer insbesondere<br />

strafrechtliche Verfahrensgegenstände. Auch über<br />

diese Fragen sollte sich der Rechtsanwalt also kurz orientieren.<br />

Nach der ständigen Praxis des Gerichts 43 ist im Verfah-<br />

36 BVerfG (2. Senat), Beschl. v. 2.6.2005 – 2 BvR 1520/01<br />

u.a.<br />

37 BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschl. v. 16.6.1995 –<br />

2 BvR 1839/94.<br />

38 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) VRS 90 (1996), 1.<br />

39 BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschl. v. 26.1.2005 –<br />

2 BvR 2028/03.<br />

40 BVerfGE 33, 247 (264 f.) = NJW 1972, 1747 (1750).<br />

41 BVerfGE 85, 109 (114) = NJW 1992, 818 (819); BVerfG<br />

(2. Kammer des 2. Senats) NStZ-RR 1996, 191 f.<br />

42 Vgl. Madert, in: Gerold/Schmidt/v. Eicken/Madert/Müller-<br />

Rabe, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 17. Aufl.<br />

2006, § 37 Rn. 22 m.w.N.<br />

43 BVerfGE 1, 109 (110 ff.); 1, 415 (416); 27, 57; 78, 7 (19) =<br />

DVBl. 1988, 629; 79, 252 (253) = NJW 1989, 1723; 92, 122<br />

(123) = NJW 1995, 1415. Das Gericht betont allerdings stets,<br />

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515


Matthias Jahn<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ren über eine Verfassungsbeschwerde die Bewilligung von<br />

PKH an den Beschwerdeführer grundsätzlich gemäß §§ 114<br />

ff. ZPO zulässig, allerdings nur dann, wenn dies unbedingt<br />

erforderlich erscheint. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung<br />

muss hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten und darf nicht<br />

mutwillig erscheinen. Der Beschwerdeführer darf ersichtlich<br />

nicht selbst in der Lage sein, seine Rechte angemessen wahrzunehmen.<br />

Besonders streng werden die Voraussetzungen<br />

gehandhabt, wenn der Beschwerdeführer die Beiordnung<br />

eines Rechtsanwalts (vgl. § 121 ZPO, §§ 45 ff. RVG) für das<br />

gesamte Verfahren begehrt, da eine anwaltliche Vertretung<br />

im Verfassungsbeschwerdeverfahren gemäß § 22 Abs. 1 S. 1<br />

BVerfGG nur in der mündlichen Hauptverhandlung zwingend<br />

vorgeschrieben ist. Nur in absoluten Ausnahmefällen<br />

wird PKH tatsächlich gewährt. 44 Dies ist im Sinne einer<br />

„selbsterfüllenden Prophezeiung“ auch insofern bedenklich,<br />

als es dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer<br />

umso schwerer fallen wird, auch nur die Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

der Verfassungsbeschwerde zu erfüllen 45 – womit<br />

gleichzeitig die Erfolgsaussichten im Ganzen regelmäßig<br />

verneint werden müssen. Das Gericht verfehlt hier unter<br />

offensichtlich fiskalischen Vorzeichen teilweise die von ihm<br />

selbst bei den Fachgerichten angemahnte Rechtsprechung, 46<br />

wonach an die Antragstellung einer unbemittelten Partei im<br />

Prozesskostenhilfeverfahren und an die Verfassungsbeschwerde<br />

eines nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers<br />

keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden<br />

dürften.<br />

Wird dem PKH-Gesuch und dem Beiordnungsantrag ausnahmsweise<br />

(im Beschlusswege) doch einmal stattgegeben,<br />

werden von der Erstattung in der Regel die Kosten für ein<br />

verfassungsrechtliches Gutachten eines früheren Bundesverfassungsrichters<br />

oder Universitätsprofessors nicht umfasst, es<br />

sei denn, die Beschwerde betrifft die Klärung einer außergewöhnlich<br />

schwierigen Frage. 47 Das Gericht erwartet von dem<br />

Rechtsanwalt, der das Mandat annimmt, dass er sich mit der<br />

verfassungsrechtlichen Materie selbst ausreichend vertraut<br />

macht und auseinandersetzt, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

zu den aufgeworfenen Fragen prüft, die<br />

dass damit noch keine Entscheidung über die Annahme der<br />

Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG und<br />

die Frage der Senatszuständigkeit getroffen sei.<br />

44 Die praktische Relevanz tendiert daher gegen Null: Zuck,<br />

AnwBl. 2006, 95 (96). In dem in BVerfG (2. Senat) StV<br />

2003, 686, nachgewiesenen Beschluss hatte etwa ein Beschwerdeführer<br />

mit seinem PKH-Gesuch Erfolg, der nach 32<br />

Jahren Haft offenkundig nicht zur Aufbringung der Kosten<br />

der Prozessführung durch Beauftragung eines Rechtsanwalts<br />

in der Lage war, bereits im Strafverfahren vor mehr als drei<br />

Jahrzehnten als schuldunfähig angesehen wurde und durch<br />

jahrzehntelange Haft wahrscheinlich weitere körperliche und<br />

psychische Beeinträchtigungen erlitten hatte.<br />

45 Zur Erfolgsquote nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer<br />

im Verfassungsbeschwerdeverfahren bereits oben I.<br />

46 BVerfG (2. Senat) StV 1996, 445 f.; BVerfG (4. Kammer<br />

des 2. Senats), Beschl. v. 6.7.2001 – 2 BvR 881/01).<br />

47 BVerfGE 88, 382 (384) = NJW 1993, 2793.<br />

Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Verfassungsbeschwerde<br />

eingehend abwägt und sich entsprechend den Ergebnissen<br />

seiner Prüfung verhält. 48 Dieser Auffassung der Karlsruher<br />

Judikatur lässt sich aus praktischer Sicht entgegenhalten, dass<br />

es dem Anwalt innerhalb der vorgegebenen Zeit von einem<br />

Monat kaum einmal möglich sein wird, sich ein wirklich<br />

umfassendes Bild der verfassungsrechtlichen Lage zu machen.<br />

Im Gegensatz zu den sachkundigen staatlichen Äußerungsberechtigten<br />

wird den im materiellen Verfassungsrecht<br />

regelmäßig unerfahrenen Rechtsanwalt auch die intensive<br />

Lektüre der einschlägigen Kommentare, Aufsätze und Entscheidungen<br />

nur schwerlich in die Lage versetzen, ein ähnlich<br />

fundiertes Vorbringen formulieren zu können. 49 Der<br />

Antrag auf Prozesskostenhilfe erledigt sich im Übrigen denknotwendig<br />

mit der bei erfolgreicher Verfassungsbeschwerde<br />

ergehenden Anordnung der Kostenerstattung nach § 34a<br />

Abs. 2 und 3 BVerfGG. 50<br />

Es ergibt sich aus alledem, dass ein Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

jedenfalls vom wirtschaftlichen Standpunkt<br />

aus keine lohnende Investition für den Rechtsanwalt<br />

und Strafverteidiger ist. Ob sein Einsatz durch die ungewisse<br />

Aussicht auf eine gewonnene Beschwerde – mit Nennung der<br />

Kanzlei in der amtlichen Sammlung oder als Einsender in<br />

einer der strafrechtlichen Fachzeitschriften – zumindest immateriell<br />

ausreichend entlohnt wird, muss jeder Berufsträger<br />

für sich entscheiden. Es wird deshalb in der Regel zur Gebührenvereinbarung<br />

zu raten sein. 51 Es empfiehlt sich grundsätzlich<br />

die Vereinbarung einer Pauschalvergütung. Bereits vor<br />

der abschließenden Entscheidung, ob Verfassungsbeschwerde<br />

erhoben werden soll, kann zudem eine gesonderte Honorarvereinbarung<br />

allein hinsichtlich der vorläufigen Prüfung der<br />

Erfolgsaussichten getroffen werden. Die endgültige Entscheidung<br />

zur Übernahme des Verfassungsbeschwerdemandats<br />

kann dabei ausdrücklich unter den Vorbehalt eines positiven<br />

Ergebnisses dieser Prüfung gestellt werden.<br />

5. Zeitfaktor<br />

Insbesondere dann, wenn der nunmehr mit der (Prüfung der<br />

Erfolgsaussichten der) Verfassungsbeschwerde beauftragte<br />

Anwalt im fachgerichtlichen Verfahren noch nicht mandatiert<br />

war, ist ein Monat eine bedrückend knappe Frist. Dem Zeitfaktor<br />

muss daher schon im Vorfeld besondere Aufmerksamkeit<br />

gewidmet werden.<br />

a) Begründung innerhalb der Frist des § 93 BVerfGG<br />

Gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde<br />

gegen Gerichtsentscheidungen innerhalb eines<br />

Monats zu begründen. Diese Frist wurde trotz erheblich gestiegener<br />

Anforderungen an die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />

seit ihrer Einführung im Jahre 1951 nicht<br />

48 Vgl. bereits oben II. 4. zur Missbrauchsgebührenjudikatur.<br />

49 Unter dem Aspekt der Waffengleichheit ebenso Zuck,<br />

AnwBl. 2006, 95 (96 f.).<br />

50 BVerfGE 62, 392 (397); 71, 122 (136 f.).<br />

51 Dazu im Einzelnen Zuck (Fn. 10), Rn. 1300 ff.; ders.,<br />

AnwBl. 2006, 95 (96).<br />

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516<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

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verändert. Sie ist nicht verlängerbar. Vor der endgültigen<br />

Übernahme des Verfassungsbeschwerdemandats empfiehlt es<br />

sich daher, die Fristenproblematik zu klären. Regelmäßig<br />

wird dem Anwalt das Mandat gegen eine gerichtliche Entscheidung<br />

erst kurz vor Ablauf der Verfassungsbeschwerdefrist<br />

angetragen. 52 Handelt es sich dabei nicht um den<br />

Rechtsbeistand des (gesamten) Ausgangsverfahrens, steht der<br />

Anwalt bereits im Hinblick auf die Begründung der Verfassungsbeschwerde<br />

unter Beifügung sämtlicher relevanter<br />

Unterlagen aus dem fachgerichtlichen Verfahren unter erheblichem<br />

Zeitdruck. Er steht vor der mühevollen Aufgabe, die<br />

entscheidungserheblichen Unterlagen zusammenzutragen und<br />

innerhalb der Frist sämtlich und vollständig an das Gericht zu<br />

übermitteln. Dies kann vor allem dann längere Zeit in Anspruch<br />

nehmen, wenn die Unterlagen vom dem oder den<br />

Vorgängern nicht zügig weitergeleitet werden. 53<br />

b) Grundsatz der Subsidiarität<br />

Das Augenmerk des Verteidigers sollte sodann insbesondere<br />

auf der Erfüllung der Anforderungen liegen, welche das<br />

BVerfG unter Berufung auf den Grundsatz der Subsidiarität<br />

der Verfassungsbeschwerde stellt. Denn tatsächlich beginnt<br />

die Verfassungsbeschwerde natürlich auch in Strafsachen<br />

schon im Ausgangsverfahren. Ein wesentlicher Teil der Arbeit<br />

muss hier erledigt worden sein, soll die Beschwerde<br />

nicht bereits als unzulässig zurückgewiesen werden. 54 Ein<br />

nicht unerheblicher Anteil der zu ergreifenden prozessualen<br />

Behelfe ist zudem im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen<br />

und wird dem Beschwerdeführer bzw. seinem Anwalt erst<br />

recht nicht mittels Rechtsbehelfsbelehrung bekannt gemacht.<br />

55 Nimmt der – erstmalig mit dem Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

betraute – Rechtsanwalt diesen Text erst<br />

am Ende des fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens zur<br />

Hand, sind daher nicht selten sämtliche Chancen für die Erhebung<br />

einer zulässigen Verfassungsbeschwerde längst dahin.<br />

Er muss also in seinem eigenen Interesse entsprechende<br />

Nachforschungen über das Prozessverhalten im fachgerichtlichen<br />

Ausgangsverfahren anstellen, will er nicht für dessen<br />

Fehler büßen (§ 34 Abs. 2 BVerfGG). Er hat daher festzustellen,<br />

ob bereits sämtliche Rechtsbehelfe – auch solche, deren<br />

Statthaftigkeit gegebenenfalls zweifelhaft ist – ergriffen wurden<br />

oder zumindest noch ergriffen werden können: u.U. kann<br />

es geboten sein, diese Rechtsbehelfe neben der Verfassungs-<br />

52 Kirchberg, JA 2007, 753 spricht – aus eigener Erfahrung –<br />

vom „Last-Minute-Anwalt“.<br />

53 Zuck, AnwBl. 2006, 95 (97), gibt als Erfahrungswert einen<br />

Zeitraum von einer Woche für die Prüfung der Erfolgsaussichten<br />

an. Das erscheint realistisch.<br />

54 Man mag, in Anlehnung an Eschelbach (Fn. 4), § 28 Rn. 5,<br />

von „Vorneverteidigung“ sprechen.<br />

55<br />

Gerade deshalb ist das richterrechtlich entwickelte,<br />

„schwer handhabbare“ Instrumentarium des Subsidiaritätsgrundsatzes<br />

immer wieder scharf kritisiert worden – bis hin<br />

zum Vorwurf der Verfassungswidrigkeit. Dazu knapp Zuck<br />

(Fn. 10), Rn. 68, 71 sowie – speziell zum Strafverfahrensrecht<br />

– eingehend und zutreffend Buermeyer (Fn. 20), S. 50<br />

ff.<br />

beschwerde zu aktivieren, um sowohl das Risiko einer Zurückweisung<br />

wegen Verfristung als auch wegen Nichterfüllung<br />

der Anforderungen an die Subsidiarität zu minimieren.<br />

Sollte die Rechtsbehelfsfrist für den – wenn auch zweifelhaften<br />

– Rechtsbehelf noch nicht abgelaufen sein, empfiehlt<br />

es sich also, ihn und die Verfassungsbeschwerde parallel<br />

zu erheben. Dabei wird die Einlegung der Verfassungsbeschwerde<br />

mit der Bitte an den Präsidialrat bzw. die Präsidialrätin<br />

des zuständigen Senats verbunden, den Übertrag der<br />

Verfassungsbeschwerde vom Allgemeinen („AR“) in das<br />

Verfahrensregister erst mit der abschließenden Entscheidung<br />

des Gerichts oder der sonst zur Entscheidung berufenen Stelle<br />

über den (zweifelhaften) Rechtsbehelf durchzuführen.<br />

c) Mandatsaufwand<br />

Ist die Entscheidung schließlich zugunsten einer Mandatsübernahme/-Fortführung<br />

gefallen, gilt es zuletzt, sich einige –<br />

dogmatische wie tatsächliche und prozessuale – Besonderheiten<br />

des Verfahrens vor Augen zu führen.<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher und<br />

zugleich subsidiärer Rechtsbehelf zum Schutz und zur<br />

Durchsetzung der Grundrechte. Ihr ist nicht bestimmt, wahlweise<br />

neben andere Rechtsmittel zu treten oder diese zu ersetzen.<br />

Die Verfassungsbeschwerde stellt deshalb insbesondere<br />

keine Fortsetzung des Vorbringens im fachgerichtlichen<br />

Rechtszug dar, nunmehr „garniert“ mit der Erwähnung einiger<br />

Grundgesetzartikel und BVerfGE-Fundstellen. Sie ist<br />

daher erst dann zulässig, wenn der Rechtsweg zu den Fachgerichten<br />

erschöpft ist und die Grundrechtsverletzung auch auf<br />

andere zumutbare Weise nicht hätte beseitigt werden können.<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist weiter nur dann statthaft,<br />

wenn die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts – mithin<br />

eine grundsätzlich unrichtige Anschauung der Fachgerichte<br />

über Bedeutung und Tragweite von Grundrechten oder willkürliches<br />

Entscheiden 56 – geltend gemacht wird. Zwar besteht<br />

der Hauptaufwand daher im Verfassen der Beschwerdeschrift,<br />

die den Besonderheiten des Verfahrens Rechnung<br />

trägt: die Nichtsuperrevisionsinstanzbeschwerdeschrift. Damit<br />

ist es jedoch noch nicht getan. Zunächst einmal hat der<br />

Anwalt neben dieser ohnehin zeitraubenden Aufgabe den<br />

normalen Mandatsaufwand zu bewältigen. Des Weiteren<br />

muss er sich mit dem Gedanken vertraut machen, unter Umständen<br />

mehrere Jahre auf eine abschließende Entscheidung<br />

des Gerichts zu warten. Neben den ohnehin geringen Erfolgsaussichten<br />

müssen sich Anwalt und Beschwerdeführer<br />

hier auf zunehmende Verfahrensdauer einstellen, welche<br />

56 Zur Anwendung der Heck’schen Formel im Strafverfahrensrecht<br />

Eschelbach (Fn. 4), § 28 Rn. 2; Niemöller, in: Umbach/Clemens/Dollinger<br />

(Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz,<br />

Kommentar, 2. Aufl. 2005, Einl. VI, Rn. 40 ff.;<br />

Eschelbach/Gieg/Schulz, NStZ 2000, 565 (572 f.); Kuckein,<br />

NStZ 2005, 697 (698); Jahn, NStZ 2005, 255 (257 m.w.N.).<br />

Heute pflegt das Gericht mit der nach dem Berichterstatter im<br />

Verfahren BVerfGE 18, 85 benannten Formel im Ganzen<br />

einen pragmatischen Umgang, vgl. Kenntner, DÖV 2005,<br />

269 (278 f.); Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit,<br />

2006, S. 92 ff.<br />

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Matthias Jahn<br />

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maßgeblich auf den erheblichen Arbeitsanfall des Gerichts<br />

zurückzuführen ist. In der Zwischenzeit will der Mandant<br />

dennoch regelmäßig über den Stand des Verfahrens informiert<br />

werden.<br />

Beschleunigungsgrundsatz und Konzentrationsmaxime<br />

sind wesentliche Bestandteile jedes rechtsstaatlich geordneten<br />

Verfahrens. Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der Beschuldigte<br />

ein Recht darauf, dass die gegen ihn erhobene strafrechtliche<br />

Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.<br />

Tatsächlich sind Verfahrensverzögerungen – auch vor dem<br />

BVerfG selbst – heute Gegenstand kritischer Auseinandersetzung<br />

57 . Zuletzt wurde die Bundesrepublik Deutschland auch<br />

vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte deshalb<br />

mehrfach formell gerügt 58 . Gerade bei Beschwerden mit<br />

strafrechtlichem Hintergrund kann die verzögerliche Verfahrensbehandlung<br />

in Karlsruhe für den Beschwerdeführer gravierende<br />

Folgen haben. Die physischen und psychischen<br />

Belastungen des Strafverfahrens verlängern sich dadurch<br />

noch. Hat der Beschwerdeführer keinen (erfolgreichen) Eilantrag<br />

gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestellt,<br />

muss er in Strafhaft oder Unterbringung auf die Entscheidung<br />

warten. Rein faktisch kann die Entscheidung bei zwischenzeitlicher<br />

Entlassung zu spät kommen. Mit zunehmender<br />

Verfahrensdauer wird überdies die Wahrheitsfindung im<br />

Ausgangsverfahren erschwert und die Gefahr von Beweisverlusten<br />

wächst. Der Richter wird bei Zurückverweisung der<br />

Sache unter Umständen nicht mehr in der Lage sein, seine<br />

Überzeugung noch aus dem Inbegriff der Verhandlung zu<br />

schöpfen. Freilich wird sich die konkrete Verfahrensdauer<br />

deshalb auch nach Bedeutung und Dringlichkeit der Sache,<br />

insbesondere nach den Erfolgsaussichten richten.<br />

Die Gründe für die zuweilen erstaunliche lange Verfahrensdauer<br />

sind – anders als in der fachöffentlichen Wahrnehmung<br />

– nicht immer nur in der besonderen Komplexität<br />

der Materie oder individuellen Belastbarkeit des Senats, des<br />

Berichterstatters oder seiner (z. Zt. regelmäßig) vier wissenschaftlichen<br />

Mitarbeiter vom „Dritten Senat“ 59 zu suchen. Sie<br />

können durchaus auch strategisch-taktischer Natur sein. Doch<br />

davon mag an anderer Stelle die Rede sein.<br />

57 Die durchschnittliche Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden<br />

in den Eingangsjahren 1995 bis 2007 betrug in<br />

68,9% der Fälle 1 Jahr, in 19,6 % der Fälle 2 Jahre, in 4,4 %<br />

der Fälle 3 Jahre und in 6,9 % der Fälle 4 Jahre und mehr,<br />

teilweise auch erheblich länger, vgl. Jahn (Fn. 11), S. 824 f.<br />

58 EGMR StV 2009, 561 m. Anm. Krehl – K. u.a.; EuGRZ<br />

2003, 228 (231).<br />

59 Gerade für das Recht der Verfassungsbeschwerde gilt fast<br />

ohne Ausnahme der über § 13 Abs. 1 GOBVerfG („Die wissenschaftlichen<br />

Mitarbeiter unterstützen die Richter, denen<br />

sie zugewiesen sind, bei deren dienstlicher Tätigkeit. Sie sind<br />

dabei an die Weisungen des Richters gebunden“) deutlich<br />

hinausgehende Grundsatz: „Ohne den Dritten Senat läuft<br />

nichts“ (Klein, in: Umbach u.a. [Fn. 12], S. 377 [S. 381]).<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Der „falsche“ Angeklagte<br />

Von Vors. Richter am BGH a.D. Prof. Dr. Lutz Meyer-Goßner, Landau (Pfalz)<br />

I. Die Ausgangsfrage<br />

Seit jeher stellen sich für einen Richter, bei dem eine Anklage<br />

erhoben worden ist, zwei Fragen:<br />

1. Hat der Angeklagte die Tat begangen, nämlich dieser<br />

Mensch, der in der Anklageschrift als Täter oder Teilnehmer<br />

bezeichnet wird<br />

2. Hat dieser Angeklagte die Tat begangen, nämlich das<br />

strafbare Geschehen, das ihm in der Anklageschrift vorgeworfen<br />

wird.<br />

Hier soll es um die erste Frage gehen, wobei sich wiederum<br />

zwei Unterfragen stellen:<br />

1. Wurde die richtige Person angeklagt oder war eine andere<br />

Person der Täter (bzw. Teilnehmer) der Straftat<br />

2. Ist die richtige – d.h. die angeklagte – Person zur<br />

Hauptverhandlung erschienen Und hierzu: Was ist die Folge,<br />

wenn eine andere als die angeklagte Person verurteilt<br />

wurde<br />

Die StPO regelt – verständlicherweise – grundsätzlich nur<br />

das, was sein soll. Sie kann unmöglich auch Vorschriften<br />

darüber enthalten, was die Folgen sein sollen, wenn sich das<br />

Gericht oder die Verfahrensbeteiligten nicht an die Regelungen<br />

der Verfahrensordnung gehalten haben; eine Ausnahme<br />

stellt insofern der – erst als Reaktion auf die Rechtsverstöße<br />

in der Zeit des Nationalsozialismus – durch Art. 3 Nr. 51<br />

VereinhG 1950 eingefügte § 136a StPO dar, der die Folgen<br />

verbotener Vernehmungsmethoden bestimmt. Im Übrigen<br />

würde es aber zum einen den Rahmen eines Gesetzes sprengen,<br />

wegen der unendlich großen Zahl denkmöglicher Fehler<br />

alle Fehlerfolgerungen zu regeln, zum anderen kann die<br />

Phantasie eines Gesetzgebers auch gar nicht ausreichen, um<br />

sich alle möglichen praktisch vorkommenden Verstöße gegen<br />

die StPO auszudenken und ihre Folgen zu behandeln. Über<br />

einige solche – in der StPO nicht behandelten – Verstöße soll<br />

es hier gehen.<br />

II. Freispruch auf Grund einer Täuschung<br />

Die strafprozessuale Grundfrage, ob die richtige Person angeklagt<br />

wurde, also der Angeklagte wirklich der Täter war –<br />

wenn denn das Vorliegen einer Straftat „unstreitig“ ist –,<br />

beschäftigt den Richter von Anfang an, d.h. sobald die Anklage<br />

bei ihm eingegangen ist. Wenn es fraglich erscheint, ob<br />

es tatsächlich der Angeklagte war, der die Tat begangen hat,<br />

kann ein Richter, um die Wahrheit herauszubringen, auf<br />

eigenartige Gedanken kommen:<br />

Die Süddeutsche Zeitung vom 7.8.2008 brachte zu einem<br />

solchen Fall folgenden kurzen Bericht:<br />

„Ein Richter des Münchner Amtsgerichts hat zugelassen,<br />

dass im Prozess gegen einen Drängler ein Doppelgänger auf<br />

der Anklagebank Platz genommen hat. Bei der Verhandlung<br />

erschien nicht der Angeklagte, sondern ein Bekannter, der<br />

ihm ähnlich sah. Der Richter hatte dem Double zugestimmt,<br />

nachdem der Beschuldigte vorgegeben hatte, damit die<br />

Glaubwürdigkeit des Zeugen prüfen zu wollen. Ein Jahr nach<br />

dem Vorfall auf der Autobahn ließ sich der Zeuge, ein<br />

Münchner Rechtsanwalt, von dem Doppelgänger täuschen<br />

und erkannte in ihm den Drängler. Daraufhin wurde der<br />

Sportwagenfahrer freigesprochen.<br />

Der Richter bestätigte dem Bayerischen Rundfunk den<br />

Fall, wollte sich dazu jedoch nicht näher äußern. Gleichwohl<br />

sieht er sich im Recht: Er habe den Zeugen zweimal gefragt,<br />

ob er den Drängler wiedererkenne. Zudem sei dadurch der<br />

Prozess abgekürzt worden, sagte er, denn der Angeklagte<br />

hätte nach einer Verurteilung sicher Revision eingelegt. Nach<br />

Meinung des Staatsanwalts hat der Kläger mit dem Prozess<br />

immerhin etwas erreicht: Er habe dem Angeklagten ,einige<br />

Scherereien’ bereitet. Als ,ungewöhnlich’ bezeichnete die<br />

Sprecherin des Münchner Amtsgerichts den Fall. Der Rollentausch<br />

sei vor Gericht keine gängige Praxis.<br />

Zu der Verhandlung war es gekommen, weil ein Münchner<br />

Rechtsanwalt dem Sportwagenfahrer vorgeworfen hatte,<br />

ihn 2007 auf der Autobahn zwischen Garmisch und München<br />

von der Fahrbahn gedrängt zu haben. Er sei beinahe mit der<br />

Leitplanke kollidiert, gab er als Zeuge an. Kurz darauf begegneten<br />

sich die Autofahrer in einem Stau wieder, dabei<br />

zeigte der Drängler angeblich noch den Mittelfinger. Der<br />

Rechtsanwalt erstattete Anzeige. Fünf Monate nach dem<br />

Vorfall identifizierte er den Sportwagenfahrer unter acht<br />

vorgelegten Fotografien mit ähnlich aussehenden Männern.<br />

Die Voraussetzung für einen Prozess war somit erfüllt.“<br />

Diese Vorgehensweise des Gerichts wirft eine Reihe von<br />

Fragen auf. Aber zunächst einmal: Man darf – wie sich zeigen<br />

wird – froh sein, dass eine solche Vorgehensweise des<br />

Gerichts „keine gängige Praxis“ beim Amtsgericht München,<br />

sondern „ungewöhnlich“ war, wie die Sprecherin des Gerichts<br />

erklärt hat 1 . Merkwürdig ist auch die Stellungnahme<br />

des Staatsanwalts, der offenbar von einem zu Unrecht ergangenen<br />

Freispruch ausgeht, indem er es begrüßt, dass der Angeklagte<br />

„einige Scherereien“ hatte; einem Unschuldigen<br />

dürften aber doch keine „Scherereien“ gemacht werden. Warum<br />

hat der Staatsanwalt gegen das Urteil kein Rechtsmittel<br />

eingelegt Wieso sollte dies aussichtslos sein, nur weil der<br />

Anzeigeerstatter als Zeuge vor Gericht auf einen „Trick“<br />

hereingefallen war<br />

Die Frage ist also, ob ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil<br />

Erfolg versprochen hätte. Dem sei hier nachgegangen:<br />

1. Nach der Schilderung der Süddeutschen Zeitung hatte<br />

nicht der Angeklagte, sondern sein „Doppelgänger“ auf der<br />

Anklagebank Platz genommen. Der Angeklagte war anscheinend<br />

überhaupt nicht im Sitzungssaal anwesend. Damit konnte<br />

gegen ihn auch nicht verhandelt werden; denn gemäß<br />

§ 230 Abs. 1 StPO findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten<br />

keine Hauptverhandlung statt. Das gilt unabhängig<br />

davon, ob der Richter mit der Abwesenheit des Angeklagten<br />

einverstanden ist oder nicht; denn § 230 Abs. 1 StPO ist eine<br />

1 Heribert Prantl bezeichnete in einem in derselben Ausgabe<br />

der Süddeutschen Zeitung (S. 4) abgedruckten Kommentar<br />

„Vorladung genügt“ dies als eine „seltsame Zeugeneinvernahme“<br />

und mutmaßte, der Richter hätte wohl „zu viel ins<br />

Nachmittags-TV, aber zu wenig in die Strafprozessordnung<br />

geschaut“.<br />

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Lutz Meyer-Goßner<br />

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zwingende Vorschrift (sofern das Gesetz nicht Ausnahmen,<br />

wie z.B. nach §§ 231 Abs. 2, 232, 233, 411 Abs. 2 S. 1 StPO,<br />

die hier nicht vorliegen, zulässt) 2 . Damit durfte gegen den<br />

„Doppelgänger“ als vermeintlichen Angeklagten nicht verhandelt<br />

werden. Der Teil der Verhandlung bis zu dem Zeitpunkt,<br />

als der Angeklagte im Sitzungssaal erschien und das<br />

Verfahren gegen ihn mit einem offenbar rasch nach einem –<br />

auf allseitigen Antrag – ergangenen Freispruch beendet<br />

wurde, war also unzulässig. Das bedeutet, dass schon aus<br />

diesem Grund das in Abwesenheit des „wahren“ Angeklagten<br />

erzielte Verhandlungsergebnis nicht verwertet werden durfte.<br />

Der Freispruch, der ersichtlich nur auf der als unzureichend<br />

erachteten, den Angeklagten als hinreichend entlastend gewerteten<br />

Zeugenaussage beruhte, hatte damit keine prozessual<br />

verwertbare Grundlage. Aber noch ein weiterer Gesichtspunkt<br />

stand der Verwertung der Aussage dieses Zeugen für<br />

das Urteil entgegen:<br />

Der Zeuge wurde bei seiner Vernehmung getäuscht, indem<br />

ihm vorgespiegelt wurde, der auf der Anklagebank sitzende<br />

„Doppelgänger“ sei der wahre Angeklagte. Der Zeuge<br />

ist auf diese Täuschung hereingefallen. Seine den Angeklagten<br />

im Ergebnis entlastende Aussage wurde somit durch eine<br />

Täuschung herbeigeführt. Solche durch eine Täuschung herbeigeführten<br />

Zeugenaussagen sind jedoch unverwertbar:<br />

Gemäß § 69 Abs. 3 StPO gilt die Vorschrift des § 136a<br />

StPO für die Vernehmung des Zeugen entsprechend. Nach<br />

§ 136a Abs. 1 S. 1 StPO darf die Freiheit der Willensentschließung<br />

und Willensbetätigung der vernommenen Person<br />

nicht durch Täuschung beeinträchtigt werden. Wird sie das,<br />

so ist die durch Täuschung erlangte Aussage nicht verwertbar,<br />

nach § 136a Abs. 3 S. 2 StPO auch dann nicht, wenn der<br />

Vernommene der Verwertung zustimmt (wobei anzunehmen<br />

ist, dass der Zeuge, wenn er dazu befragt worden wäre, der<br />

Verwertung nicht zugestimmt hätte).<br />

Da die Aussage des Zeugen somit sowohl wegen Verstoßes<br />

gegen § 230 Abs. 1 StPO als auch wegen Verletzung der<br />

§§ 69 Abs. 3, 136a Abs. 1 StPO unverwertbar war, hätte eine<br />

vom Staatsanwalt eingelegte (Sprung-)Revision (§§ 333, 335<br />

Abs. 1 StPO) mit zwei entsprechenden Verfahrensrügen<br />

Erfolg gehabt und zur Aufhebung des freisprechenden Urteils<br />

geführt.<br />

2. War aber die Idee des Amtsrichters, den „Doppelgänger“<br />

auftreten zu lassen, so schlecht Hätte auch eine prozessual<br />

einwandfreie Methode bestanden, den Zeugen die Frage<br />

beantworten zu lassen, ob der Angeklagte wirklich der Täter<br />

der verkehrswidrigen Taten – entweder einer Ordnungswidrigkeit<br />

nach der StVO oder sogar einer vorsätzlichen oder<br />

fahrlässigen Straftat nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 3 Nr. 1<br />

oder Nr. 2 StGB – sowie einer Beleidigung nach § 185 StGB<br />

war Nun, die StPO sieht in § 58 Abs. 2 durchaus eine Gegenüberstellung<br />

von Zeugen mit dem Beschuldigten vor,<br />

allerdings nur im Vorverfahren (Ermittlungsverfahren), nicht<br />

hingegen in der Hauptverhandlung. In der Hauptverhandlung<br />

wird der Zeuge bei seiner Vernehmung ohnehin dem Angeklagten<br />

„gegenübergestellt“. Auch in der Hauptverhandlung<br />

2 Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Aufl.<br />

2009, § 230 Rn. 1.<br />

lässt sich aber die Angeklagtenrolle gegenüber einem Zeugen<br />

zunächst verbergen, indem eine Gegenüberstellung in der Art<br />

durchgeführt wird, dass entweder der Angeklagte im Zuhörerraum<br />

zwischen anderen herbeigeholten, ihm – wenigstens etwas<br />

– ähnlich sehenden Personen (z.B. alles Brillen- und/oder Bartträger<br />

etwa gleichen Alters) Platz nimmt oder eine Reihe von<br />

Personen neben ihn auf die Anklagebank gesetzt wird und der<br />

Zeuge dann gebeten wird, den Täter unter diesen Personen zu<br />

identifizieren.<br />

Ob diese „Identifizierungsgegenüberstellung“ auf § 58<br />

Abs. 2 StPO zu stützen ist, ist allerdings umstritten. Der BGH<br />

hat dies bejaht. 3 Andere wollen die Rechtspflicht für den<br />

Zeugen, bei einer solchen Gegenüberstellung mitzuwirken,<br />

aus § 81b StPO herleiten. 4 Die wohl h.M. hält sie für eine<br />

körperliche Untersuchung nach § 81a StPO; 5 gegen diese<br />

Auffassungen hat sich jedoch mit Recht Welp 6 ausgesprochen.<br />

Die Frage, worauf die Rechtspflicht zur Duldung der<br />

Identitätsgegenüberstellung in der Hauptverhandlung rechtlich<br />

zu stützen ist, kann hier aber offen bleiben, da über das<br />

Ergebnis der Zulässigkeit der Gegenüberstellung Einigkeit<br />

besteht. Damit werden Einwände gegen ein solches „Wiedererkennungsexperiment“<br />

nicht erhoben. 7<br />

Die hier aufgezeigte Möglichkeit der Wahlgegenüberstellung<br />

zur Identifizierung aus einer Gruppe von mehreren Personen<br />

ist allerdings nur die zweitbeste Möglichkeit. Noch<br />

besser ist es, eine sequentielle (oder sukzessive) Gegenüberstellung<br />

vorzunehmen; 8 das bedeutet, dass dem Zeugen nacheinander<br />

eine Reihe von Personen gegenübergestellt wird,<br />

aus denen er den Täter identifizieren soll. Im konkreten Fall<br />

würden dem Zeugen also außer dem Angeklagten mehrere<br />

Personen nacheinander vorgestellt werden, aus denen er den<br />

Täter bestimmen soll. Selbstverständlich ist, dass der Angeklagte<br />

– ohne dass er als solcher kenntlich gemacht wird – bei<br />

allen einzelnen Gegenüberstellungen anwesend ist.<br />

Der Beweiswert einer solchen Identifizierungsgegenüberstellung<br />

in der Hauptverhandlung ist jedoch gering: Selbst<br />

wenn der Zeuge den Angeklagten als Täter wiedererkennt,<br />

kann und wird regelmäßig das Wiedererkennen durch das im<br />

Ermittlungsverfahren erfolgte vorangegangene Wiedererken-<br />

3 BGHSt 34, 39, 49; BGH, Urt. v. 20.7.1970 – 1 StR 653/70;<br />

vgl dazu Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 9.<br />

4 Rogall, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

44. Lieferung, Stand: August 2005, § 58 Rn. 35; Roxin,<br />

Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 33 Rn. 17; Schlüchter,<br />

Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 185.<br />

5<br />

Ignor/Bertheau, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/<br />

Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 2, 26. Aufl. 2008,<br />

§ 58 Rn. 12; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren,<br />

3. Aufl. 1992, S. 57 ff; ders., NStZ 1985, 434 m.w.N.<br />

6 Welp, JR 1994, 37, der aber auch die Anwendbarkeit von<br />

§ 58 Abs. 2 StPO verneint und damit eine Gesetzeslücke<br />

annimmt.<br />

7 Ignor/Bertheau (Fn. 5), § 58 Rn. 21 m.N. in Fn. 96.<br />

8 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 12a.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

520<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Der „falsche“ Angeklagte<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

nen beeinflusst sein. 9 Hat andererseits der Zeuge den Angeklagten<br />

nicht als Täter identifiziert, so kann dies – muss aber<br />

nicht unbedingt – gegen die Zuverlässigkeit der früheren<br />

Identifizierung 10 und damit gegen die Glaubwürdigkeit des<br />

Zeugen sprechen. Im hier behandelten Fall war dies jedenfalls<br />

keineswegs zwingend:<br />

Zum einen sah der Bekannte des Angeklagten diesem<br />

ähnlich; zum anderen hatte der Zeuge den Angeklagten fünf<br />

Monate nach der Tat unter acht vorgelegten Fotografien mit<br />

ähnlich aussehenden Männern identifiziert. Dass er in der<br />

Hauptverhandlung den ähnlich aussehenden, als Angeklagter<br />

auftretenden Bekannten des Angeklagten als Täter bezeichnet<br />

hatte, musste keineswegs zwangsläufig zum (wie dargelegt:<br />

prozessual unzulässigen) Freispruch des Angeklagten führen.<br />

Eine ganz andere Frage war es, ob bei der hier offenbar<br />

vorliegenden Konstellation „Aussage gegen Aussage“ den<br />

Angaben des Zeugen – allerdings eines Rechtsanwalts –<br />

gegenüber denen des angeklagten Sportwagenfahrers ohne<br />

weitere Beweisanzeichen der Vorzug hätte gegeben werden<br />

dürfen 11 .<br />

Wie auch immer: Das Vorgehen des Amtsgerichts mit<br />

Täuschung des Zeugen ist als prozessrechtswidrig zu beanstanden,<br />

brachte bei richtiger Betrachtungsweise auch kaum<br />

brauchbare Ergebnisse und wäre jedenfalls auch auf legalem<br />

Weg erreichbar gewesen. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens<br />

zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten ist aber<br />

nicht möglich, weil keiner der Wiederaufnahmegründe des<br />

§ 362 StPO gegeben ist; auch Nr. 3 des § 362 StPO kommt<br />

nicht in Betracht, weil der Richter sich jedenfalls nicht einer<br />

strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht<br />

hatte.<br />

III. Verurteilung eines „falschen“ Angeklagten<br />

Der geschilderte Fall dürfte – hoffentlich – einmalig gewesen<br />

sein. Eine andere Konstellation eines „falschen“ Angeklagten<br />

beschäftigt Rechtsprechung und Schrifttum hingegen schon<br />

seit Jahrzehnten. Es geht um den Fall, dass versehentlich ein<br />

anderer als der Angeklagte in der Hauptverhandlung für diesen<br />

auftritt oder als Angeklagter behandelt wird (zu diesen<br />

beiden Fällen näher unten) oder dass ein Angeklagter einen<br />

anderen – aus welchen Gründen auch immer (z.B. Angst vor<br />

Verhaftung oder schlicht Angst oder keine Lust, sich einer<br />

Hauptverhandlung zu unterziehen, oder Zeitmangel aus beruflichen<br />

Gründen, unentgeltlich oder gegen eine Belohnung)<br />

– zur Hauptverhandlung schickt und dieser bei der Präsenzfeststellung<br />

zu Beginn der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 1<br />

StPO) wahrheitswidrig bestätigt, er sei der Angeklagte. Er<br />

wird sodann in allen diesen Fällen nach durchgeführter<br />

Hauptverhandlung, bei der die Personenverwechslung unerkannt<br />

bleibt, als die angeklagte Person verurteilt (oder freigesprochen).<br />

Es stellt sich die Frage, ob das so ergangene Urteil<br />

Wirkung entfalten kann.<br />

Es gibt vier Denkmöglichkeiten:<br />

9 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 13 mit zahlreichen Nachw.<br />

aus der Rechtsprechung des BGH und der OLGe.<br />

10 Ignor/Bertheau (Fn. 5), § 58 Rn. 21 m.w.N. in Fn. 95.<br />

11 Vgl. dazu Meyer-Goßner (Fn. 2), § 261 Rn. 11a.<br />

1. Das Urteil wirkt gegen beide, also den „richtigen“ und<br />

den „falschen“ Angeklagten;<br />

2. es wirkt weder gegen den einen noch gegen den anderen;<br />

3. es wirkt nur gegenüber dem erschienenen „falschen“<br />

Angeklagten;<br />

4. es wirkt nur gegenüber dem nicht erschienenen „richtigen“<br />

Angeklagten.<br />

1. Die erste Möglichkeit wird – soweit ersichtlich – richtigerweise<br />

von niemandem vertreten; denn es kann und darf<br />

nur einen und nicht alternativ zwei Alleintäter einer angeklagten<br />

Straftat geben. Aber sonst findet jede der übrigen drei<br />

Möglichkeiten Anhänger in der Literatur. 12 Noch immer als<br />

h.M. wird die Auffassung bezeichnet, das Urteil sei völlig<br />

unwirksam, es könne weder gegenüber dem wirklich Gemeinten<br />

(nicht erschienenen Angeklagten) noch gegenüber<br />

dem (nicht angeklagten) Erschienenen Wirkung entfalten; es<br />

handele sich somit um ein nichtiges Urteil, das schlechthin<br />

unbeachtlich sei.<br />

In der Kommentarliteratur wird diese Ansicht etwa von<br />

Gmel 13 vertreten, wobei das Ergebnis aber nur behauptet,<br />

nicht weiter begründet wird. Im KMR fand sich diese Meinung<br />

sowohl in der Kommentierung von Paulus 14 als auch in<br />

der Einleitung von Sax 15 ; der neue Bearbeiter Eschelbach 16<br />

hat sie allerdings aufgegeben und sich der Ansicht angeschlossen,<br />

dass das Urteil gegen den wirklich Gemeinten<br />

wirksam sei. Auch Gollwitzer 17 hat an der überkommenen<br />

Auffassung festgehalten und ausgeführt, das Urteil müsse auf<br />

Rechtsmittel des „wirklich Angeklagten“ zwar aufgehoben<br />

werden, „unerlässlich“ sei die Anfechtung aber nicht, weil<br />

das Urteil weder gegen den Einen noch gegen den Anderen<br />

Wirkung haben könne; auch hier wird dieses Behauptung<br />

nicht begründet, sondern nur mit Literaturnachweisen 18 belegt.<br />

19 Eine Begründung für dieses Ergebnis hat hingegen<br />

Schlüchter gegeben. 20 Sie meinte, der Verstoß gegen den<br />

Anklagegrundsatz – also „die Verletzung grundlegender<br />

rechtsstaatlicher Prinzipien“ – wiege so schwer, dass von der<br />

12 Gute Zusammenstellung bei Rössner, 30 Probleme aus dem<br />

Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2007, S. 102 ff.<br />

13 Gmel, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur<br />

Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 230 Rn. 7 unter Übernahme<br />

der Kommentierungen von Treier – dort in der<br />

4. Aufl. und von Tolksdorf in der 5. Aufl.<br />

14 Bis zur 45. Ergänzungslieferung.<br />

15 Rn. 13 bis zur 38. Ergänzungslieferung.<br />

16 Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.),<br />

KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 46. Lieferung,<br />

Stand: April 2007, § 230 Rn. 22.<br />

17 Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 25.<br />

Aufl. 1997, § 230 Rn. 11.<br />

18 A.a.O. in Fn. 34.<br />

19 Außer den bereits Erwähnten in Karlsruher Kommentar<br />

und KMR noch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, § 55 I.;<br />

Roxin (Fn. 4), § 50 Rn. 30; Schlüchter, in: Rudolphi u.a. (Fn.<br />

4), § 230 Rn. 32.<br />

20 Schlüchter (Fn. 19).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

521


Lutz Meyer-Goßner<br />

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Nichtigkeit des Urteils ausgegangen werden müsse. Das<br />

betrifft aber nur den nicht angeklagten Erschienenen, während<br />

gegenüber dem wirklich Gemeinten der Anklagegrundsatz<br />

nicht verletzt worden ist.<br />

Auch in einigen Lehrbüchern wird heute noch diese Meinung<br />

vertreten. So wird die Personenverwechslung bei Beulke<br />

21 als Fall eines nichtigen Urteils angeführt (allerdings mit<br />

der Klammerbemerkung „str.“). Roxin 22 führt aus, das Urteil<br />

sei unwirksam, weil es hinsichtlich des „falschen“ Angeklagten<br />

an Anklage und Eröffnungsbeschluss fehle, hinsichtlich<br />

des „richtigen“ Angeklagten aber an „jeder personalen Beziehung“<br />

zwischen dem Gericht und dem Angeklagten 23 .<br />

Dass ein solches Fehlen Nichtigkeit des Urteils zur Folge<br />

haben muss, ist aber nicht zwingend; denn: Ist dies ein so<br />

schwerer Verstoß, dass ihm diese Wirkung beigemessen<br />

werden muss Es ist zwar eine Gesetzesverletzung – nämlich<br />

Nichtbeachtung des § 230 Abs. 1 StPO; aber solche Verstöße<br />

kommen auch sonst vor, wenn nämlich in fehlerhafter Weise<br />

ohne den Angeklagten verhandelt wurde, weil unrichtig die<br />

Voraussetzungen einer Verhandlungsmöglichkeit ohne ihn<br />

(z.B. nach §§ 231, 232, 233, 329, 411 StPO) bejaht wurde.<br />

Aber die Auffassung, das Urteil könne gegen keinen von<br />

beiden wirken, es sei überhaupt schlechthin unwirksam, steht<br />

und fällt mit der Annahme, dass es überhaupt nichtige – also<br />

schlechthin unbeachtliche – Urteile geben könne. Es ist erstaunlich,<br />

dass diese Auffassung auch heute immer noch<br />

vertreten wird, wobei es sich dabei zumeist um eine Art „prozessuales<br />

Geisterschiff“ handelt, das im Meer der strafprozessualen<br />

Erwägungen geheimnisvoll auftaucht, ohne aber in<br />

der Regel in die Wirklichkeit einzudringen. Auch der BGH<br />

hat leider diese „Rechtsfigur“ – wie üblich ohne sie im konkreten<br />

Fall anzuwenden – in früheren Entscheidungen bemüht:<br />

So ist in BGHSt 29, 351 (353) ausgeführt, dass wegen<br />

der „der Gesamtordnung des Strafverfahrensrechts zuwiderlaufenden<br />

Folgen“ (nämlich totale Unbeachtlichkeit einer<br />

auch rechtskräftigen Entscheidung) die Anerkennung der<br />

Gültigkeit einer Entscheidung „allenfalls“ zu versagen wäre,<br />

wenn sie wegen des „Ausmaßes und des Gewichts der Fehlerhaftigkeit<br />

für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich<br />

wäre“; mit ersichtlich noch leichtem Erstaunen stellt das<br />

Urteil dann aber fest, dass Sarstedt, JR 1955, 351 (352), sogar<br />

zu dem Ergebnis komme, dass es nichtige oder unbeachtliche<br />

Gerichtsentscheidungen nicht gebe. Diese Ansicht hat<br />

sich inzwischen aber weithin durchgesetzt 24 ; auch der BGH<br />

scheint sich nun von der früheren Meinung distanzieren zu<br />

wollen 25 . Es erscheint nämlich schlechthin ausgeschlossen,<br />

21 Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 507.<br />

22 Roxin (Fn. 4).<br />

23 Unter Bezugnahme auf Peters (Fn. 19).<br />

24 Meyer-Goßner (Fn. 2), Einl. Rn. 105a m.w.N.<br />

25 Im Beschluss vom 19.2.2009 – 3 StR 439/08 – heißt es:<br />

„Zwar hält es die wohl noch herrschende Meinung grundsätzlich<br />

für möglich, dass eine gerichtliche Entscheidung an<br />

derart schwerwiegenden Mängeln leidet, dass sie nicht nur<br />

rechtlich fehlerhaft, sondern nichtig und damit unwirksam<br />

und unbeachtlich ist. Aber auch nach dieser Auffassung kann<br />

dies nur in seltenen Ausnahmefällen [...] in Betracht kommen<br />

einem Urteil, das in einem ordnungsgemäßen Verfahren, in<br />

dem lediglich prozessuale oder materiell-rechtliche Fehler<br />

begangen wurden, erlassen wurde, die rechtliche Anerkennung<br />

zu verweigern. Die Phantasiefälle, dass etwa ein Gerichtswachtmeister<br />

ein Urteil erlässt oder in einem Urteil auf<br />

verbotene Leibesstrafen erkannt worden ist, kommen in einem<br />

Rechtsstaat nicht vor; sie können daher außer Betracht<br />

bleiben. So hat es der BGH in einer neueren Entscheidung<br />

auch immerhin offen gelassen, ob der Auffassung, es gebe<br />

nichtige Urteile, noch gefolgt werden könne; er hat aber<br />

zugleich aufgezählt, was alles dagegen spricht: 26<br />

„Das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit, das den<br />

Eintritt der Rechtskraft nach Ausschöpfung der formalisierten<br />

Rechtsbehelfe der Strafprozessordnung (einschließlich § 458<br />

StPO) fordert; die Funktion des Wiederaufnahmeverfahrens<br />

zur Beseitigung von (denkbaren) Fehlentscheidungen; die<br />

mögliche Beeinträchtigung der Schutzfunktion des Grundsatzes<br />

ne bis in idem; der Schutz der Verfassungsbeschwerde<br />

und das Fehlen praktikabler Abgrenzungskriterien.“<br />

Wenn man dies alles bedenkt, muss man die Unbeachtlichkeit<br />

von Strafurteilen ausschließen.<br />

Man stelle sich auch einmal vor, wie sich eine solche angenommene<br />

Urteilsnichtigkeit in der Praxis auswirken würde:<br />

Der Angeklagte könnte den Richter aufsuchen oder Berufung<br />

gegen das Urteil einlegen und dabei mitteilen, dass ein<br />

anderer als er in der Hauptverhandlung als Angeklagter aufgetreten<br />

ist. Ihm müsste dann gesagt werden, er brauche sich<br />

keine Gedanken zu machen, das Urteil sei nichtig und unbeachtlich,<br />

das Urteil werde abgelegt (oder in den Papierkorb<br />

geworfen). Soll sich ein Angeklagter damit zufrieden geben<br />

Lässt sich ausschließen, dass sich Urteilsabschriften an anderer<br />

Stelle befinden Lassen sich nicht Verwertungen des<br />

Urteils bei Gesamtstrafbeschlüssen usw. befürchten Nicht<br />

die Entscheidung als solche wäre für die Allgemeinheit „unerträglich“,<br />

sondern eine solche angenommene Nichtigkeit<br />

würde zu „unerträglichen“ formfreien Verhandlungen und<br />

möglicherweise weiteren unrichtigen Ergebnissen führen.<br />

Aber es ist ohnehin eine prozessual überholte und für einen<br />

Rechtsstaat nicht hinnehmbare Erwägung, ein prozessual ordnungsgemäßes<br />

– wenn auch mit Fehlern behaftetes – Verfahren<br />

könne „von selbst“, d.h. ohne eine ordnungsgemäße richterliche<br />

Entscheidung ihre Wirksamkeit verlieren. Dies ist allerdings<br />

jahrzehntelang auch für den Fall des Todes des Angeklagten<br />

während eines laufenden Strafverfahrens behauptet<br />

worden, indem gesagt wurde, das Verfahren ende dadurch<br />

„von selbst“. Dies hatte der BGH noch in seiner Entscheidung<br />

BGHSt 34, 148 so gesehen; erst durch BGHSt 45, 108<br />

hat der BGH von dieser verfehlten Sichtweise Abstand genommen<br />

und erklärt, dass auch in diesem Falle ein Einstel-<br />

[...]“. Ein solcher Ausnahmefall lag hier nach Auffassung des<br />

Senats schon deswegen nicht vor, weil es sich nur um eine<br />

fehlerhafte Zwischenentscheidung (Verweisung vom AG an<br />

das LG) gehandelt hatte.<br />

26 BGHSt 45, 58 (61).<br />

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522<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Der „falsche“ Angeklagte<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

lungsbeschluss erforderlich sei. Diese Ansicht hat sich inzwischen<br />

nahezu allgemein durchgesetzt. 27<br />

Eine Unwirksamkeit des Urteils kommt daher nicht in Betracht;<br />

von dieser immer noch weit verbreiteten Ansicht gilt<br />

es Abschied zu nehmen. Immerhin hat die Rechtsprechung –<br />

soweit ersichtlich – in einem solchen hier erörterten Fall auch<br />

nicht die Unwirksamkeit der Entscheidung angenommen, wie<br />

noch dargelegt werden wird.<br />

Es ist daher nun die Frage zu klären, ob das Urteil gegen<br />

den erschienenen Nicht-Angeklagten oder gegen den nicht<br />

erschienenen Angeklagten wirkt.<br />

2. Betrachten wir zunächst die Ansicht, das Urteil wirke<br />

(nur) gegen die erschienene Person. Dies ist allerdings eine<br />

absolute Mindermeinung. Sie wird – soweit ersichtlich – nur<br />

von Loos 28 und in einer Anmerkung zur Entscheidung des LG<br />

Lüneburg (dazu unter 3.) von Grobler 29 vertreten. Loos<br />

meint, es „ist wohl trotz falscher Bezeichnung im Urteil und<br />

fehlender Prozessvoraussetzungen (zugelassene Anklage) der<br />

Erschienene als abgeurteilt anzusehen“. Das überzeugt nicht:<br />

Das Gericht wollte gegen den Angeklagten verhandeln und es<br />

hat im Urteil – wie sich aus dem Urteilstenor ergibt – den<br />

Angeklagten abgeurteilt; daran ändert es doch nichts, dass<br />

sich ein anderer als der Angeklagte ausgegeben hat. Gegen<br />

den, dem Gericht namentlich unbekannten, Erschienenen<br />

sollte kein Urteil ergehen und ist kein Urteil ergangen. Die<br />

Situation ist der einer Aburteilung eines nicht erschienenen<br />

Angeklagten vergleichbar; es kann nicht unterschiedlich<br />

danach gewertet werden, ob überhaupt niemand, oder – für<br />

das Gericht unerkannt – eine andere Person erschienen war.<br />

Es ist demnach auch unrichtig, wenn Grobler sein Ergebnis<br />

damit begründet, die Kognitionspflicht des Gerichts in der<br />

Hauptverhandlung betreffe den tatsächlich Erschienenen. Das<br />

Gegenteil ist richtig: Nach Anklage und Eröffnungsbeschluss<br />

kann und will sich das Gericht nur mit dem Angeklagten und<br />

mit keiner anderen Person befassen. Demnach kann auch nur<br />

dieser abgeurteilt werden und wird (siehe Urteil) auch nur<br />

dieser abgeurteilt.<br />

Damit erweist sich auch diese Ansicht als unzutreffend<br />

und es verbleibt bei der letzten Möglichkeit: Das Urteil betrifft<br />

den (richtigen) Angeklagten, nicht die für ihn erschienene<br />

Person.<br />

3. Diese Auffassung hat sich auch im neueren Schrifttum<br />

und in der – bekannt gewordenen – Rechtsprechung durchgesetzt:<br />

a) Sie wird in der Kommentarliteratur von Kühne 30 vertreten,<br />

der die Ausführungen dazu von Rieß 31 wörtlich über-<br />

27 Vgl. Kühl, in: Eser (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie<br />

und Praxis, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag,<br />

2001, S. 715.<br />

28<br />

Loos, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare,<br />

Kommentar zur Strafprozeßordnung, Bd. 2, Teilbd. 2, 1993,<br />

Anhang zu § 264 Rn. 26.<br />

29 Grobler, MDR 1949, 768.<br />

30 Kühne, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/<br />

Ignor (Fn. 5), Bd. 1, 26. Aufl., Einl. Abschn. K Rn. 122.<br />

31 Rieß, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 17), Bd. 1, Einl. Abschn. J<br />

Rn. 133.<br />

nommen hat; hier wird darauf hingewiesen, dass sich der Fall<br />

nicht so wesentlich von demjenigen, in dem aus anderen<br />

Gründen unzulässigerweise in Abwesenheit des Angeklagten<br />

verhandelt wurde, unterscheide, dass demgegenüber eine<br />

andere Rechtsfolge (scil. Nichtigkeit) angenommen werden<br />

müsse. Ich vertrete 32 im Kommentar 33 schon seit der<br />

40. Auflage die Ansicht, dass das Urteil gegen den Gemeinten<br />

wirke. Auch in Lehrbüchern hat diese Ansicht Zustimmung<br />

gefunden: So führt Gössel 34 aus, das Urteil wirke gegen<br />

den in Rubrum und Formel Bezeichneten und sei durch<br />

diesen anfechtbar. Schroeder 35 erklärt, hier sei „ein Urteil in<br />

Abwesenheit des Angeklagten erfolgt, das dieser [...] mit<br />

Rechtsmitteln angreifen müsse“.<br />

b) Aus der veröffentlichten Rechtsprechung ist erstmals<br />

der Beschluss des LG Lüneburg vom 23.6.1949 bekannt<br />

geworden. 36 Dort ging es um folgenden Fall (den man entsprechend<br />

dem bekannten Fall Rose/Rosahl 37 als Fall Waller/Walther<br />

bezeichnen könnte):<br />

Das Amtsgericht verhandelte am 3.11.1947 gegen Hans<br />

Waller und verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe; das Urteil<br />

wurde ihm zugestellt und er erklärte, dass er es annehme.<br />

Vom Gericht und allen Verfahrensbeteiligten unerkannt, war<br />

jedoch am 3.11.1947 statt des Angeklagten Hans Waller der<br />

„gleichfalls im Gerichtsgebäude einsitzende“ Hans Walther<br />

vorgeführt worden, der ersichtlich auf den Irrtum nicht aufmerksam<br />

gemacht hatte!<br />

Am 5.11.1947 wurde Waller wegen einer anderen Tat erneut<br />

verurteilt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde aus<br />

beiden Strafen durch Beschluss eine Gesamtstrafe gebildet.<br />

Auch dieser Beschluss wurde rechtskräftig. Nachträglich<br />

beantragte die Staatsanwaltschaft den Gesamtstrafenbeschluss<br />

aufzuheben und Urteil und Protokoll „zu berichtigen“.<br />

Das Amtsgericht lehnte die Aufhebung des Gesamtstrafenbeschlusses<br />

ab; gegen diesen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft<br />

sofortige Beschwerde ein, die das LG Lüneburg<br />

in seiner hier besprochenen Entscheidung verworfen hat.<br />

Das LG Lüneburg hat zur Begründung ausgeführt, dass<br />

das Urteil gegen Waller und nicht gegen Walther wirke,<br />

„denn dessen Tat ist nach dem Willen des Richters und des<br />

Staatsanwalts gar nicht Gegenstand der Hauptverhandlung<br />

gewesen“. Das Urteil sei auch nicht nichtig, da die mangelnde<br />

Prozessvoraussetzung der Anwesenheit des Angeklagten<br />

lediglich die Anfechtbarkeit des Urteils herbeiführen könne<br />

nicht aber dessen Nichtigkeit.<br />

Weil das Urteil rechtskräftig geworden sei, sei auch der<br />

Gesamtstrafenbeschluss zu Recht erlassen worden. Es müsse<br />

lediglich das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit berichtigt<br />

werden, „als es Vorgänge und Erklärungen beurkundet, die<br />

32 Anders noch Meyer in der 39. Aufl., der ebenfalls von<br />

Unwirksamkeit des Urteils ausging.<br />

33 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 230 Rn. 27.<br />

34 Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, § 33 E. I. b) 3.<br />

35 Schroeder, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 331.<br />

36 LG Lüneburg MDR 1949, 767.<br />

37 Dazu Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,<br />

56. Aufl. 2009, § 16 Rn. 5.<br />

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523


Lutz Meyer-Goßner<br />

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mit der Tatsache der Nichtanwesenheit des Angeklagten<br />

Waller in der Hauptverhandlung in Widerspruch stehen“.<br />

AGRat Dr. Grobler hat in seiner Anmerkung 38 das Urteil<br />

kritisiert. Er meint, verurteilt sei „doch nur derjenige, der<br />

wirklich vor Gericht gestanden hat“. Aber gerade das Gegenteil<br />

ist richtig; denn das Gericht wollte doch nicht irgendjemand,<br />

der vor ihm erschienen ist, verurteilen, sondern den<br />

angeklagten Täter. Grobler ist der Ansicht, dies liefe auf eine<br />

„Kontumazierung von Waller hinaus, also auf die Verurteilung<br />

eines Abwesenden. Auch das ist nicht zutreffend, denn<br />

das Gericht wollte keinen Abwesenden verurteilen, sondern<br />

hat sich nur in der Person des Anwesenden geirrt. Grobler<br />

erkennt allerdings auch, dass hier „kein Schein- oder Nichturteil“<br />

vorliegt, meint aber, gegen Walther müsse eine neue<br />

Hauptverhandlung durchgeführt werden, in der das Verfahren<br />

eingestellt würde; dann könne gegen Waller neu verhandelt<br />

werden. Dazu ist zu sagen: Wenn gegen Walther ohne Anklage<br />

und Eröffnungsbeschluss ein Urteil ergangen wäre,<br />

müsste das Verfahren in der Tat – so jedenfalls die zutreffende<br />

Rechtsprechung des BGH 39 – eingestellt werden; 40 gegen<br />

Waller hätte aber auch ohne eine solche Einstellung sofort<br />

neu verhandelt werden können, weil das gegen ihn anhängige<br />

Verfahren nach dieser Ansicht ja noch nicht erledigt wäre.<br />

Aber auf dies alles kommt es nicht an, weil das Verfahren<br />

tatsächlich gegen Waller geführt und rechtskräftig beendet<br />

wurde; gegen Walther ist kein Verfahren durchgeführt worden,<br />

er ist von dem ergangenen Urteil nicht betroffen, sodass<br />

hinsichtlich seiner Person auch nichts unternommen werden<br />

muss.<br />

Das LG Lüneburg hat daher den Gesamtstrafenbeschluss<br />

zu Recht nicht beanstandet. Waller hätte gegen das Urteil<br />

Rechtsmittel einlegen müssen; wegen Verstoßes gegen § 230<br />

Abs. 1 StPO hätte dies zur Urteilsaufhebung und sowohl bei<br />

(Sprung-)Revision als auch – nach damaliger Rechtslage<br />

(§ 328 Abs. 2 S. 1 a.F. StPO) 41 – bei Berufung zur Zurückverweisung<br />

der Sache an das Amtsgericht geführt. 42 Ob Wal-<br />

38 Grobler, MDR 1949, 768.<br />

39 BGHSt 27, 115 (117); 46, 130 (135, 136) gegen die frühere<br />

teilweise andere Auffassung der OLGe: Zwar ist dann gar<br />

kein Verfahren gegen den Angeklagten anhängig, aber das<br />

ohne Anklage und Eröffnungsbeschluss durchgeführte gerichtliche<br />

Verfahren muss der Klarheit halber durch ausdrückliche<br />

Einstellung beendet werden.<br />

40 Was allerdings auch 1947 schon durch Beschluss außerhalb<br />

der Hauptverhandlung möglich gewesen wäre; denn<br />

damals galt schon die 1942 als § 206 in die StPO eingefügte<br />

Vorschrift, die durch das VereinhG in § 206a umnummeriert<br />

wurde.<br />

41 § 328 Abs. 2 S. 1 StPO lautete bis zur Aufhebung durch<br />

Art. 1 Nr. 25 StVÄG 1987 wie folgt: „Leidet das Urteil an<br />

einem Mangel, der die Revision wegen Verletzung einer<br />

Rechtsnorm über das Verfahren begründen würde, so kann<br />

das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils die Sache,<br />

wenn die Umstände des Falles es fordern, zur Entscheidung<br />

an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen.“<br />

42 Nach heutiger Rechtslage müsste das Landgericht nach<br />

§ 328 Abs. 1 StPO in der Sache selbst erkennen, weil eine<br />

ler – ebenso wie die Staatsanwaltschaft (vgl. § 365 StPO) –<br />

die Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten nach<br />

§ 359 Nr. 5 StPO erreichen könnte, ist fraglich: Zwar ist es<br />

eine „neue Tatsache“, dass nicht er, sondern Walther an der<br />

Verhandlung teilgenommen hatte; hinzukommen muss allerdings,<br />

dass diese neue Tatsache geeignet sein muss, die Freisprechung<br />

des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen<br />

Strafgesetzes eine geringere Bestrafung zu begründen;<br />

das wäre regelmäßig nur der Fall, wenn Waller die Tat<br />

glaubhaft bestreitet, was wiederum unwahrscheinlich ist, da<br />

er gegen das Urteil ja kein Rechtsmittel eingelegt hatte.<br />

Grobler meint am Schluss seiner Ausführungen, es sei<br />

„vom menschlichen und vom fachlichen Standpunkt aus zu<br />

bedauern, dass ein solchermaßen fehlerhaftes Urteil ergehen<br />

konnte“. Man fragt sich in der Tat, warum weder Waller noch<br />

Walther den Irrtum aufgeklärt haben. Sollten sie nach 12<br />

Jahren Nazi-Diktatur noch so „staatsgläubig“ gewesen sein,<br />

dass beide nicht wagten, gegen ein Gericht anzugehen Das<br />

erscheint doch wenig wahrscheinlich. Man kann nur spekulieren:<br />

Fand Waller das gegenüber Walther verhängte Urteil<br />

so milde, dass er keine neue Verhandlung riskieren wollte<br />

Lag Walther eine weitaus schwerere Straftat zur Last, so dass<br />

er laienmäßig hoffte, seine Strafsache sei mit der milden<br />

Strafe erledigt<br />

Es wird sich nicht mehr klären lassen. Jedenfalls hat das<br />

LG Lüneburg richtig entschieden, indem es Wirksamkeit des<br />

Urteils gegen den nicht-erschienenen Angeklagten Waller<br />

bejaht und gegen den erschienenen Nicht-Angeklagten Walther<br />

verneint hat.<br />

c) In derselben Weise hat auch das OLG Bamberg in einer<br />

kürzlich ergangenen Entscheidung 43 in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren<br />

judiziert: „Hält der Tatrichter irrtümlich<br />

eine andere Person für den Betroffenen und verurteilt<br />

diese unter dessen Personalien, entfaltet das Urteil gegenüber<br />

dieser an sich unbeteiligten Person keine Wirkung. Gegenüber<br />

dem wahren Betroffenen ist es wirksam und mit dem<br />

jeweiligen Rechtsmittel anfechtbar.“<br />

Auch hier ging es um einen reichlich skurrilen Fall:<br />

In der auf Grund Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid<br />

anberaumten Hauptverhandlung setzte sich statt des Betroffenen<br />

dessen Ehefrau neben den Dolmetscher auf die Anklagebank,<br />

während der Betroffene im Zuhörerraum Platz nahm.<br />

Wegen des scheinbar weiblichen Vornamens ging der Amtsrichter<br />

davon aus, dass es sich bei dem Betroffenen um eine<br />

Frau handele und verurteilte sie, die an Stelle ihres Ehemannes<br />

auf Fragen geantwortet und Angaben zur Sache gemacht<br />

hatte. Auch der Betroffene hatte sich allerdings an der<br />

Hauptverhandlung beteiligt.<br />

Zurückverweisung nach § 328 Abs. 2 StPO nur noch zulässig<br />

ist bei Unzuständigkeit des Erstgerichts und – nach der<br />

Rechtsprechung in entsprechender Anwendung der Vorschrift<br />

– in den Fällen, in denen das Amtsgericht keine Entscheidung<br />

in der Sache getroffen hatte (vgl. Meyer-Goßner [Fn. 2],<br />

§ 328 Rn. 4); auch schwere Verfahrensfehler des Amtsgerichts<br />

berechtigen nicht mehr zur Zurückverweisung.<br />

43 OLG Bamberg NStZ 2007, 292.<br />

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524<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Der „falsche“ Angeklagte<br />

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Der von der Staatsanwaltschaft zu Gunsten des Betroffenen<br />

gestellte – zulässige – Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde<br />

blieb ohne Erfolg. Das OLG Bamberg legte<br />

zunächst dar, dass das Urteil nur gegen den Betroffenen und<br />

nicht gegen seine Frau wirke. Es ließ sodann dahingestellt, ob<br />

die Staatsanwaltschaft überhaupt die Verletzung rechtlichen<br />

Gehörs rügen könne oder ob dieses nicht nur durch den Verletzten<br />

selbst möglich sei. Es verwarf den Antrag aber, weil<br />

die Staatsanwaltschaft – entgegen dem entsprechend anwendbaren<br />

§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO – nicht mitgeteilt hatte,<br />

was im Falle der Anhörung des Betroffenen geltend gemacht<br />

worden wäre. Im Übrigen lagen auch sonst die Voraussetzungen<br />

des § 80 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht vor.<br />

IV. Verurteilung unter falschem Namen<br />

Abschließend sei nur noch kurz der Fall erwähnt, dass der<br />

„richtige“ Angeklagte erschienen ist, er jedoch unter einem<br />

falschen Namen verurteilt wird. Dieser Fall ist problemlos:<br />

Das Urteil ist gegen den Angeklagten wirksam, denn das<br />

Gericht hat gegen den „gewollten“ Angeklagten verhandelt<br />

und er war tatsächlich auch anwesend; angeklagte und verurteilte<br />

Person sind also identisch. Dass der Angeklagte unter<br />

einem falschen Namen verurteilt wurde, ändert an der Wirksamkeit<br />

des Urteils nichts. 44 Hier wird lediglich nach Erkennen<br />

des Irrtums das Urteilsrubrum berichtigt.<br />

44 Allgemeine Meinung, vgl. nur Gmel (Fn. 13), 6. Aufl.<br />

2008, § 230 Rn. 7 mit Nachw. aus der Rechtsprechung.<br />

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Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen<br />

Lange Jahre gehörten die Absprachen – Kritiker sprechen<br />

lieber vom „Deal“, Befürworter gerne auch von „Verständigung“<br />

1 – zum zentralen Diskussionsstoff, nicht nur der Wissenschaft,<br />

sondern auch und gerade der Praxis. Die Strafprozessordnung<br />

sah bislang eine Verständigung über die zu<br />

verhängende Strafe nicht vor. Rechtstatsächlich gehören<br />

solche Verständigungen zum Alltagsgeschäft der Strafjustiz. 2<br />

Bemühungen des BGH um eine Verrechtlichung des tatsächlichen<br />

Phänomens der Absprachen standen immer schon in<br />

einem eklatanten Spannungsverhältnis zum Vorbehalt des<br />

Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG), der dem demokratisch legitimierten<br />

Gesetzgeber die Entscheidung wesentlicher Rechtsfragen<br />

aufgibt, zu denen auch die grundsätzliche Gestalt des<br />

Strafverfahrens gehört. 3 Mit dem am 4.8.2009 in Kraft getretenen<br />

Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren<br />

vom 29.7.2009 hat der Gesetzgeber die Ungesetzlichkeit<br />

der Praxis beendet. Das heißt aber nicht, dass damit die<br />

Debatte um die Absprachen beendet sein wird: Die Regelung<br />

treibt eine Fehlentwicklung voran und es ist abzusehen, dass<br />

sie einen erheblichen Verlust an Rechtsstaatlichkeit bewirken<br />

wird. 4<br />

I. Rückblick und aktueller Stand<br />

Es kann hier nicht – noch einmal – darum gehen, das Phänomen<br />

der Absprachen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen<br />

zu analysieren. 5 Grob gesprochen kennzeichnet den<br />

„Normalfall“ der Absprache eine Vereinbarung zwischen<br />

Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagtem (für den sein<br />

Verteidiger die Verhandlungsführung übernimmt) über die<br />

Höhe der zu erwartenden Strafe bei Ablegung eines Geständnisses.<br />

Es kann hier auch nicht darum gehen, die Geschichte der<br />

Absprachen erneut zu erzählen. 6 Aber die wichtigsten Stationen<br />

sind in Erinnerung zu rufen, weil sie den Hintergrund für<br />

den vorläufig letzten – und diesmal gesetzgeberischen – Akt<br />

bilden:<br />

1 Dies ist nun auch die Terminologie des Gesetzes.<br />

2<br />

Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, Die Praxis der<br />

Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, 2007, S. 53; Hassemer/Hippler,<br />

StV 1986, 360; Schünemann, Gutachten B für<br />

den 58. Deutschen Juristentag, 1990, B 17 ff.<br />

3 Dahs, NStZ 2005, 580; Duttge/Schoop, StV 2005, 421<br />

(423); Jahn, ZStW 118 (2006), 427 (429); Rieß, JR 2005, 435<br />

(438).<br />

4 Fischer, NStZ 2007, 433 (436); ders., StraFo 2009, 177<br />

(184); Harms, in: Griesbaum u.a. (Hrsg.), Festschrift für Kay<br />

Nehm zum 65. Geburtstag, 2006, S. 289; Kempf, StV 2009,<br />

269 (276).<br />

5 Z.B. Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, 1990, S. 27<br />

ff.<br />

6 Vgl. z.B. Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn. 2),<br />

S. 20 ff.; (für die Zeit nach 1997) Weichbrodt, Das Konsensprinzip<br />

strafprozessualer Absprachen, 2006, S. 174 ff.<br />

1982: „Fast jeder kennt es, fast jeder praktiziert es, nur<br />

keiner spricht darüber“ 7 . Absprachen sind danach längst,<br />

wohl seit Beginn der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts,<br />

8 gängige Praxis, werden aber durch die Beiträge von<br />

„Detlef Deal“ (Pseudonym für Hans-Joachim Weider) und<br />

Schmidt-Hieber 9 in die wissenschaftliche Diskussion gebracht.<br />

Die „Regeln“, nach denen Absprachen stattfanden,<br />

ergaben sich aus den individuellen Rollenverständnissen der<br />

Verfahrensbeteiligten und den von ihnen verfolgten Zielsetzungen.<br />

Die Praxis der Absprachen orientierte sich damit vor<br />

allem an pragmatischen, nicht an strafprozessualen Vorgaben.<br />

10 So war es für „Detlef Deal“ noch eine Selbstverständlichkeit,<br />

dass Absprachen strikt vertraulich zu behandeln und<br />

nicht für das Hauptverhandlungsprotokoll bestimmt waren. 11<br />

Entsprechend wurde auch die Bindungswirkung von Absprachen<br />

faktisch im Sinne eines „gentlemen’s agreement“, nicht<br />

rechtlich verstanden. 12<br />

1987: Mit Beschluss vom 27.1.1987 13 erkennt das BVerfG<br />

Absprachen grundsätzlich als verfassungsgemäß an, sofern<br />

der rechtsstaatliche Mindeststandard gewahrt sei und das<br />

Strafverfahrensrecht unter Beachtung des Fairnessgrundsatzes<br />

und des Willkürverbots ausgelegt werde. 14 Zur Rechtsstaatlichkeit<br />

gehöre als wesentlicher Bestandteil die „Idee der<br />

Gerechtigkeit“, deren Verwirklichung eine funktionstüchtige<br />

Strafrechtspflege diene. „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen,<br />

wenn sichergestellt ist, dass Straftäter im Rahmen<br />

der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten<br />

Bestrafung zugeführt werden“ 15 . Gericht und Staatsanwaltschaft<br />

seien deshalb gleichermaßen zur Ermittlung des<br />

7 Detlef Deal, StV 1982, 545.<br />

8 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs 16/12310,<br />

S. 7; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs 16/11736, S. 5; Schünemann, Gutachten B für den<br />

58. Deutschen Juristentag, 1990, B 16 (Mitte der 70er Jahre).<br />

9 Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017 (1020).<br />

10 Detlef Deal, StV 1982, 545 (549).<br />

11 Detlef Deal, StV 1982, 545 (549); ähnlich rückblickend<br />

Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884.<br />

12 So noch die frühe Rechtsprechung des BGH, dazu Weigend,<br />

in: Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof,<br />

Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 4, Strafrecht, Strafprozeßrecht,<br />

2000, S. 1011 (S. 1032).<br />

13 BVerfG NJW 1987, 2662; vgl. dazu mit weit. Nachw. aus<br />

der Literatur Rönnau (Fn. 5), S. 71 ff.<br />

14 BVerfG NJW 1987, 2662 (2663); nicht unberechtigt erscheint<br />

allerdings die von Schünemann, StraFo 2004, 293<br />

(295), aufgeworfene Frage, ob diese Kammerentscheidung<br />

auch nach dem heutigen Entwicklungsstand der Rechtsprechung<br />

des BVerfG mit Blick auf die Bedeutung der Absprachen<br />

für die Gestalt des Strafprozesses noch aufrechterhalten<br />

würde. Diese Frage hat sich freilich durch das Tätigwerden<br />

des Gesetzgebers erledigt.<br />

15 BVerfG NJW 1987, 2662 (2663).<br />

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526<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

wahren Sachverhalts verpflichtet, weil nur auf dessen Grundlage<br />

eine Entscheidung getroffen werden könne, die dem<br />

materiellen Schuldprinzip Rechnung trage. Diese Grundsätze<br />

schlössen es aus, „die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze<br />

der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung, die<br />

letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll,<br />

ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten<br />

und des Gerichts zu stellen“; ein „Handel mit der Gerechtigkeit“<br />

bleibe damit unzulässig. 16<br />

1990: Der Deutsche Juristentag befasst sich auf der Grundlage<br />

eines Gutachtens von Schünemann mit dem Thema „Absprachen<br />

im Strafverfahren Grundlagen, Gegenstände und<br />

Grenzen“ 17 . Die Beschlüsse empfahlen weder ein Verbot von<br />

Absprachen noch eine eigene Verfahrensordnung; allerdings<br />

solle der Gesetzgeber durch verdeutlichende Regelungen<br />

Auswüchse eindämmen und Unsicherheiten beseitigen. 18<br />

1997: Nachdem sich der BGH zuvor lediglich mit Einzelfragen<br />

beschäftigt, aber kein umfassendes Konzept zu den<br />

Absprachen vorgelegt hatte, 19 entwickelte der 4. Strafsenat<br />

mit Urteil vom 28.8.1997 erstmals allgemeine Grundsätze zu<br />

den Voraussetzungen wirksamer Absprachen. 20 Grundlagen<br />

hierfür seien das Rechtsstaatsprinzip und das Recht des Angeklagten<br />

auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Im Einzelnen<br />

setze eine wirksame Absprache die Beachtung folgender<br />

Gesichtspunkte voraus 21 :<br />

Die Aufklärungspflicht des Gerichts bleibe unangetastet.<br />

Grundlage des Urteils müsse der nach Überzeugung des<br />

Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sein. 22 Daraus<br />

wurde in der Folge dann auch abgeleitet, dass ein „inhaltsleeres<br />

Formalgeständnis“ nicht als Urteilsgrundlage ausreiche.<br />

23<br />

Absprachen über den Schuldspruch seien unzulässig. 24<br />

Die freie Willensentschließung des Angeklagten müsse<br />

gewahrt bleiben. Er dürfe deshalb nicht durch Drohung<br />

mit einer höheren Strafe oder durch das Versprechen eines<br />

gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils (wozu aber<br />

nicht der Hinweis auf die strafmildernde Bedeutung eines<br />

Geständnisses gehöre) zu einem Geständnis gedrängt<br />

werden (§ 136a StPO). 25<br />

Unzulässig sei die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts,<br />

da der Angeklagte dessen Tragweite vor Urteilsverkündung<br />

noch nicht überblicke. 26<br />

Die Absprache müsse in öffentlicher Hauptverhandlung<br />

erfolgen. Nicht ausgeschlossen seien aber „Vorgespräche“<br />

zwischen den Beteiligten zur Klärung der Gesprächsbereitschaft<br />

und der jeweiligen „Verhandlungspositionen“.<br />

<strong>Inhalt</strong> und wesentliche Ergebnisse solcher Vorgespräche<br />

seien aber vom Gericht in der Hauptverhandlung offen zu<br />

legen.<br />

Die Erörterung in öffentlicher Hauptverhandlung sichere<br />

zugleich die notwendige Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligten.<br />

Unzulässig seien insbesondere Absprachen<br />

ohne Beteiligung des Angeklagten oder der Schöffen.<br />

Das Ergebnis der Absprache sei als wesentlicher Verfahrensvorgang<br />

im Hauptverhandlungsprotokoll festzuhalten.<br />

Da das Gericht seine Überzeugung aus dem Inbegriff der<br />

Hauptverhandlung schöpfe (§§ 260, 261 StPO), sei eine<br />

verbindliche Zusage über die Höhe der zu verhängenden<br />

Strafe unzulässig. Erlaubt sei allerdings die Zusicherung<br />

einer Strafobergrenze, die es bei Ablegung eines glaubhaften<br />

Geständnisses nicht überschreiten werde. 27<br />

Der Strafausspruch dürfe den Boden schuldangemessenen<br />

Strafens nicht verlassen. Einem Geständnis dürfe aber<br />

auch dann strafmildernde Wirkung zugemessen werden,<br />

wenn es aus verfahrenstaktischen Gründen im Rahmen<br />

einer Absprache abgegeben werde.<br />

Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergebe sich,<br />

dass das Gericht an eine unter Beachtung dieser Vorgaben<br />

zustande gekommene Verständigung gebunden sei. Nur<br />

wenn sich nach der Absprache schwerwiegende neue<br />

Umstände ergeben, die dem Gericht zuvor unbekannt waren,<br />

könne es nach einem entsprechenden Hinweis (§ 265<br />

Abs. 1, 2 StPO) von der Absprache abweichen.<br />

Damit war die Verständigung grundsätzlich „institutionalisiert“<br />

28 . Der BGH präzisierte in der Folgezeit seine Grundsätze<br />

und entwickelte sie weiter. 29<br />

16 BVerfG NJW 1987, 2662 (2663).<br />

17 Schünemann, Gutachten B für den 58. Deutschen Juristentag,<br />

1990.<br />

18 Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentags, Bd. II,<br />

1990, S. L 213 f.<br />

19 Vgl. BGHSt 36, 210; 37, 10; 37, 99; 37, 298; 38, 102; 42,<br />

46; 42, 191; BGH NStZ-RR 1997, 173. Überblick über die<br />

Entwicklung der Rechtsprechung des BGH bei Weigend<br />

(Fn. 12), S. 1017 ff.<br />

20 BGHSt 43, 195.<br />

21 Vgl. dazu auch den Überblick bei Murmann, Prüfungswissen<br />

Strafprozessrecht, 2008, Rn. 256 ff.<br />

22 Beispielhaft für eine Missachtung dieser Vorgabe BGH<br />

StV 2009, 232.<br />

23 BGHSt (GrS) 50, 40 (49); BGH NStZ-RR 2006, 187.<br />

24 Beispielhaft für eine Missachtung dieser Vorgabe BGH<br />

StV 2009, 174.<br />

25 Beispielhaft für den Einsatz der „Sanktionsschere“ BGH<br />

StV 2000, 556; StraFo 2003, 97 mit Anm. Salditt; StV 2004,<br />

470 (471); StV 2007, 619; Hannich, DRiZ 2006, 276.<br />

26 Beispielhaft für eine Missachtung dieser Vorgabe BGHSt<br />

52, 165.<br />

27 Womit freilich auch die Entscheidungsfreiheit des Gerichts<br />

vor Abschluss der Hauptverhandlung eingeschränkt wird;<br />

zutreffend Lien, GA 2006, 129 (131); Weigend, NStZ 1999,<br />

57 (59).<br />

28 BGHSt (GrS) 50, 40 (47).<br />

29 Vgl. etwa BGH NStZ 2005, 526, NStZ 2008, 620 (Unzulässigkeit<br />

von Absprachen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung);<br />

NStZ 2001, 555; NStZ-RR 2006, 187<br />

(Unzulässigkeit von Absprachen über die Anwendung von<br />

Erwachsenenstrafrecht auf einen Heranwachsenden); NStZ<br />

2006, 586 (Verletzung der Subjektstellung des Angeklagten<br />

durch eine Absprache des <strong>Inhalt</strong>s, der Angeklagte habe sämt-<br />

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Uwe Murmann<br />

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2005: Nachdem Uneinigkeit zwischen den verschiedenen<br />

Strafsenaten über die Behandlung eines auf ein abgesprochenes<br />

Urteil hin erfolgten Rechtsmittelverzichts bestand, 30 wurde<br />

der Große Senat für Strafsachen mit den Absprachen<br />

befasst. In seinem Beschluss vom 3.3.2005 nutzte er zunächst<br />

die Gelegenheit, die „in der Entscheidung BGHSt 43, 195<br />

zusammengestellten Grenzen hervorzuheben und zu präzisieren“<br />

31 . Allerdings beließ es der Große Senat nicht dabei.<br />

Zunächst bemühte er sich um eine Legitimation für die richterliche<br />

Rechtsfortbildung. Diese folge aus der Pflicht zur<br />

Sicherstellung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, die<br />

von den Organen der Strafjustiz unter den gegebenen rechtlichen<br />

wie tatsächlichen Bedingungen ohne Absprachen nicht<br />

erfüllt werden könne. 32 Weiterhin sei im Unterschied zu den<br />

vom 4. Strafsenat aufgestellten Grundsätzen eine Abweichung<br />

von der Vereinbarung nicht nur wegen neuer Erkenntnisse,<br />

sondern auch dann zulässig, „wenn schon bei der Urteilsabsprache<br />

vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche<br />

Aspekte übersehen wurden“. Es sei nämlich „unvertretbar,<br />

das Gericht bei der Urteilsfindung entgegen § 261 StPO<br />

an einen maßgeblichen Irrtum allein aufgrund des im Rahmen<br />

einer Verständigung gesetzten Vertrauenstatbestandes zu<br />

binden, den es freilich auch und gerade in diesen Fällen durch<br />

entsprechende Hinweise beseitigen muss“ 33 .<br />

Auf der Linie der vorherigen Rechtsprechung liegt es,<br />

dass der Große Senat die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung<br />

durch die Institutionalisierung der Absprachen im dargestellten<br />

Rahmen nicht für überschritten hält. Deutlicher als<br />

zuvor macht der Große Senat aber darauf aufmerksam, dass<br />

„die Einführung eines Verständigungsverfahrens in das streng<br />

formalisiert ausgestaltete Strafverfahren durch die Rechtsprechung<br />

nahe an die Grenzen“ der richterlichen Rechtsfortbildung<br />

gerate. 34<br />

Hinsichtlich der Vorlegungsfragen hält der Große Senat<br />

die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts und jedes Mitwirken<br />

des Gerichts an einem solchen für unzulässig. 35 „Beteiligt<br />

sich hingegen das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache<br />

an der Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts oder<br />

drängt es gar die Rechtsmittelberechtigten hierzu, so lässt es<br />

erkennen, dass sein Urteil keiner revisionsgerichtlichen Kontrolle<br />

unterzogen werden soll. Das verletzt nicht nur die Würde<br />

liche zur Verfahrensbeschleunigung erforderlichen prozessualen<br />

Erklärungen abzugeben); NJW 2005, 519 (der Verstoß<br />

gegen das Erfordernis der Erörterung der Absprache in öffentlicher<br />

Hauptverhandlung könne zwar zur Unwirksamkeit<br />

der Absprache führen, begründe aber nicht den absoluten<br />

Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO). Überblick bei<br />

Weichbrodt (Fn. 6), S. 174 ff.<br />

30 Zu Einzelheiten vgl. den Vorlagebeschluss des 3. Strafsenats,<br />

BGH NJW 2004, 2536.<br />

31 BGHSt (GrS) 50, 40 (48).<br />

32 BGHSt (GrS) 50, 40 (53 f.); kritisch zu dieser Annahme<br />

eines „Staatsnotstands“ Fischer, NStZ 2007, 433 (434).<br />

33 BGHSt (GrS) 50, 40 (50); kritisch dazu Duttge/Schoop,<br />

StV 2005, 421 (422); Saliger, JuS 2006, 8 (9).<br />

34 BGHSt (GrS) 50, 40 (52).<br />

35 Einzelheiten bei Murmann (Fn. 21), Rn. 290 ff.<br />

des Gerichts und schadet seiner Autorität. Eine solche Verfahrensweise<br />

lässt ernsthaft besorgen, dass das Gericht es in<br />

der Erwartung, seine Entscheidung werde nicht mehr überprüft,<br />

bei der Urteilsfindung an der auch in diesem Verfahren<br />

notwendigen Sorgfalt bei der prozessordnungsgemäßen Ermittlung<br />

des Sachverhalts, bei seiner Subsumtion unter das<br />

materielle Strafrecht und bei der Bestimmung der schuldangemessenen<br />

Strafe fehlen lassen werde“ 36 . Zur Durchsetzung<br />

des Verbots der Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts sei<br />

auch der nach Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht<br />

unwirksam. 37 Das gelte zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten<br />

sogar immer schon dann, wenn es überhaupt<br />

zu einer Absprache gekommen ist, ganz gleich, ob Gegenstand<br />

dieser Absprache ein Rechtsmittelverzicht war oder<br />

nicht. 38 Um aber auch den Belangen der Rechtssicherheit<br />

Rechnung zu tragen, sei ein erklärter Rechtsmittelverzicht<br />

wirksam, wenn der Angeklagte zuvor eine qualifizierte Belehrung<br />

des <strong>Inhalt</strong>s erhalten habe, dass es ihm trotz der Urteilsabsprache<br />

frei stehe, Rechtsmittel einzulegen. Diese<br />

qualifizierte Belehrung sei als wesentliche Förmlichkeit zu<br />

protokollieren (§ 273 Abs. 1 StPO). 39<br />

Die Grundsätze zum Rechtsmittelverzicht sind ersichtlich<br />

von dem Bemühen getragen, abgesprochene Urteile der revisionsgerichtlichen<br />

Überprüfung zu erhalten. Aus ihnen spricht<br />

ein Misstrauen gegen die Instanzgerichte hinsichtlich der<br />

Einhaltung der vom BGH aufgestellten Grundsätze. Dieses<br />

Misstrauen wird in der Literatur 40 , auch von Praktikern 41 ,<br />

vielfach geteilt und hat in empirischen Untersuchungen 42 wie<br />

auch durch Instanzentscheidungen, die zur revisionsgerichtlichen<br />

Überprüfung gelangt sind, 43 eine gewisse Bestätigung<br />

gefunden. Zumindest ein Teil der Absprachen wird offenbar,<br />

ihrer Abstammung aus einer Vereinigung der Interessen von<br />

Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern gemäß, weniger<br />

von den Gesetzen der Strafprozessordnung beeinflusst, als<br />

vielmehr von den Gesetzen des Handels, deren Beherzigung<br />

36 BGHSt (GrS) 50, 40 (56).<br />

37 BGHSt (GrS) 50, 40 (60).<br />

38 BGHSt (GrS) 50, 40 (60 f.).<br />

39 BGHSt (GrS) 50, 40 (61). Freilich wird durch die Möglichkeit<br />

der qualifizierten Belehrung für die Instanzgerichte<br />

ein einfacher Weg eröffnet, doch den erstrebten wirksamen<br />

Rechtsmittelverzicht zu erlangen; kritisch insoweit z.B. Satzger,<br />

JA 2005, 684 (686).<br />

40 Erb, in: Krause u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang<br />

Blomeyer, 2004, S. 743 (S. 744); Hauer, Geständnis<br />

und Absprache, 2007, S. 65 ff. m.w.N.<br />

41 Fischer, NStZ 2007, 433 (434); ders., StraFo 2009, 177<br />

(178 f.); Harms (Fn. 4), S. 292 f.; Jähnke, ZRP 2001, 574<br />

(575 f.); Pfister, StraFo 2006, 349 (352); Schmitt, GA 2001,<br />

411 (425 f.); Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (368); Weider,<br />

StraFo 2003, 406 (407 f.).<br />

42 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn. 2), S. 312 ff.,<br />

331 ff.<br />

43 Z.B. BGH StV 2000, 556; StraFo 2003, 97 mit Anm. Salditt;<br />

StV 2004, 470 (471); NStZ 2004, 342; NStZ 2005, 279;<br />

StV 2007, 619. Vgl. auch die bei Erb (Fn. 40), S. 750 ff. und<br />

bei Kempf, StV 2009, 269 (271) wiedergegebenen Fälle.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

528<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Erfolge auf den Feldern der Arbeitseinsparung (Richter und<br />

Staatsanwälte) und der Strafzumessung (Verteidiger 44 ) verspricht<br />

45 .<br />

Möglicherweise war es auch die Hoffnung auf eine Beendigung<br />

der permanenten Desavouierung des BGH durch die<br />

Instanzgerichte, die den Großen Senat dazu veranlasst hat,<br />

sich abschließend an den Gesetzgeber zu wenden: „Der Große<br />

Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die<br />

Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen<br />

Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen<br />

gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers,<br />

die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens<br />

und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache<br />

unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei<br />

kommt ihm – auch von Verfassungswegen – ein beachtlicher<br />

Spielraum zu“ 46 .<br />

Dieser „Hilferuf“ 47 , der an verschiedentlich schon länger<br />

in der politischen Diskussion 48 sowie aus Praxis und Wissenschaft<br />

49 erhobene Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung<br />

anknüpft, konnte nicht mehr überhört werden. Bemühungen<br />

in Richtung auf eine gesetzliche Regelung wurden<br />

von unterschiedlicher Seite vorangetrieben: Die Generalstaatsanwältinnen<br />

und Generalstaatsanwälte formulierten am<br />

24.11.2005 „Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung von<br />

Verfahrensabsprachen vor Gericht“ 50 . Das Land Niedersachsen<br />

brachte unter dem 29.3.2006 einen Gesetzesantrag zu<br />

einem „Gesetz zur Regelung von Absprachen im Strafverfahren“<br />

ein, 51 in dessen Zentrum ein an die höchstrichterliche<br />

Rechtsprechung angelehnter neuer § 243a StPO stand. Ebenfalls<br />

an der Rechtsprechung orientiert war ein Referentenentwurf<br />

des Bundesjustizministeriums vom 18.5.2006. 52<br />

Gegenüber diesen beiden Entwürfen wie auch im Verhältnis<br />

zur Rechtsprechung zeichnet sich der Vorschlag der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

vom September 2005 53 durch das unumwundene<br />

Bekenntnis zu einer nur eingeschränkten Geltung<br />

des Aufklärungsgrundsatzes bei abgesprochenen Entscheidungen<br />

aus. 54 Das Strafverfahren müsse sich deshalb auf<br />

ein anderes legitimierendes Prinzip stützen, nämlich auf das<br />

Konsensprinzip, das „in einem engen Bezug zum Gedanken<br />

des Rechtsfriedens“ stehe. 55 Dieser, in unterschiedlichen<br />

Spielarten auch im Schrifttum vertretene Standpunkt 56 konnte<br />

sich aber nicht durchsetzen. 57<br />

Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums diente<br />

gleich lautenden Gesetzentwürfen der Bundesregierung 58<br />

und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD 59 als Grundlage.<br />

60 Im weiteren Gesetzgebungsverfahren konkurrierten<br />

diese Gesetzesentwürfe mit einem auf der Grundlage des<br />

Niedersächsischen Entwurfs fußenden Gesetzentwurf des<br />

Bundesrates 61 , der aber nicht angenommen wurde. 62<br />

44 Nach Weßlau, StV 2006, 357 (358), soll Verteidigern die<br />

rechtliche Qualität von Absprachen ohnedies gleichgültig<br />

sein dürfen.<br />

45 Vgl. Fischer, StraFo 2009, 177 (178). Die Interessenlage<br />

ist in Wahrheit freilich noch komplexer; vgl. Weigend<br />

(Fn. 12), S. 1011 f. Dass dazu befragte Richter und Staatsanwälte<br />

nicht die Arbeitsbelastung, sondern lieber eine schnellere<br />

und sachgerechte Verfahrenserledigung in den Vordergrund<br />

stellen (Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen<br />

[Fn. 2], S. 331), ist nicht weiter verwunderlich (muss aber<br />

auch nicht geglaubt werden).<br />

46 BGHSt (GrS) 50, 40 (64); kritisch zu diesem Appell und<br />

für eine Fortführung der richterlichen Rechtsfortbildung<br />

Meyer-Goßner, StV 2006, 485.<br />

47 Dahs, NStZ 2005, 580.<br />

48 Vgl. die „Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens“ der<br />

Regierungskoalition vom 6.4.2001, abgedruckt in StV 2001,<br />

314 und den „Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens“<br />

der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die<br />

Grünen des Deutschen Bundestages und des Bundesministeriums<br />

der Justiz vom Februar 2004, abgedruckt in StV 2004,<br />

228, der sich an der Entscheidung BGHSt 43, 193 orientierte.<br />

Dazu Landau, ZRP 2004, 146.<br />

49 Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072 (1080); Braun, StraFo<br />

2001, 77; Landau, ZRP 2004, 146 (150); Jähnke, ZRP 2001,<br />

574 (577); Pfeiffer/Hannich, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher<br />

Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, Einl. Rn.<br />

29h; Widmaier, NJW 2005, 1985; Pfister, DRiZ 2004, 178<br />

(183); Weigend, NStZ 1999, 57 (63). Ablehnend aber z.B.<br />

Kintzi, in: Ebert u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ernst-Walter<br />

Hanack zum 70. Geburtstag, 1999, S. 177 (S. 189); Marsch,<br />

ZRP 2007, 220 (222).<br />

50 Abrufbar über<br />

www.thueringen.de/olg/bodyinfothek40.html.<br />

51 BR-Drs. 235/06.<br />

52 www.bmj.bund.de/files/-/1234/RefE_Verständigung.pdf.<br />

53 Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Entwurf<br />

etwa Bittmann, DRiZ 2007, 22; Landau, ZRP 2005, 268;<br />

Meyer-Goßner, StV 2006, 485; Schünemann/Hauer, AnwBl<br />

2006, 439 (442 f.); mit starker Kritik ablehnend auch der<br />

Strafrechtsausschuss des DAV, abgedruckt in StraFo 2006,<br />

89; dazu Weßlau, StV 2006, 357.<br />

54 Vorschlag der BRAK, ZRP 2005, 235 (236), www.brak.de/<br />

seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/Stn25_05.pdf, S. 3.<br />

55 Vorschlag der BRAK, ZRP 2005, 235 (236), www.brak.de/<br />

seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/Stn25_05.pdf, S. 3 f.<br />

56 Vgl. etwa Jahn, ZStW 118 (2006), 427 (454 ff.); Matt/Vogel,<br />

in: Beulke u.a. (Hrsg.), Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses<br />

der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006,<br />

S. 391; Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187 (190 f.); Trüg, ZStW<br />

120 (2008), 331 (367 ff.); Volk, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Hannskarl Salger zum Abschied aus dem Amt als<br />

Vizepräsident des Bundesgerichtshofes, 1995, S. 411; Weichbrodt<br />

(Fn. 6), S. 46 ff.; Weßlau, Das Konsensprinzip im<br />

Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform, 2002,<br />

S. 65 ff.; Widmaier, NJW 2005, 1985 (1987).<br />

57 Kritisch etwa Duttge, ZStW 115 (2003), 539.<br />

58 BT-Drs. 16/12310.<br />

59 BT-Drs. 16/11736.<br />

60 Wobei die Gesetzentwürfe nicht unerheblich vom Referentenentwurf<br />

abweichen. So sollte z.B. nach dem Referentenentwurf<br />

die Revisibilität abgesprochener Urteile eingeschränkt<br />

sein (§ 337 Abs. 3 Referentenentwurf).<br />

61 BT-Drs. 16/4197.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

529


Uwe Murmann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Das Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren vom<br />

29.7.2009 ist schließlich am 4.8.2009 in Kraft getreten. 63 Die<br />

zentrale Vorschrift ist der neue § 257c StPO, der folgenden<br />

Wortlaut hat:<br />

fasst sind. 65 § 257b StPO regelt Entsprechendes für die<br />

Hauptverhandlung als solche.<br />

Die angestrebte Transparenz in der Hauptverhandlung<br />

soll der neue § 243 Abs. 4 StPO gewährleisten:<br />

„(1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten<br />

nach Maßgabe der folgenden Absätze über<br />

den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen.<br />

§ 244 Absatz 2 bleibt unberührt.<br />

(2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die<br />

Rechtsfolgen sein, die <strong>Inhalt</strong> des Urteils und der dazugehörigen<br />

Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene<br />

Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren<br />

sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil<br />

jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der<br />

Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung<br />

dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.<br />

(3) Das Gericht gibt bekannt, welchen <strong>Inhalt</strong> die Verständigung<br />

haben könnte. Es kann dabei unter freier Würdigung<br />

aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen<br />

auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe<br />

angeben. Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit<br />

zur Stellungnahme. Die Verständigung kommt zustande,<br />

wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des<br />

Gerichtes zustimmen.<br />

(4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt,<br />

wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände<br />

übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das<br />

Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in<br />

Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen<br />

ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten<br />

des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der<br />

Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist. Das<br />

Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet<br />

werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich<br />

mitzuteilen.<br />

(5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und<br />

Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht<br />

gestellten Ergebnis nach Absatz 4 zu belehren.“<br />

Flankiert wird diese Vorschrift durch weitere „kommunikationsfördernde“<br />

Regelungen schon im Ermittlungsverfahren,<br />

wonach die Staatsanwaltschaft „den Stand des Verfahrens mit<br />

den Verfahrensbeteiligten erörtern (kann), soweit dies geeignet<br />

erscheint, das Verfahren zu fördern“ (§ 160b StPO). Es<br />

besteht eine Verpflichtung, den wesentlichen <strong>Inhalt</strong> dieser<br />

Erörterung aktenkundig zu machen. 64 Eine entsprechende<br />

Möglichkeit der Verfahrensförderung sieht § 202a StPO für<br />

das Gericht im Zwischenverfahren und nach Eröffnung des<br />

Hauptverfahrens (§ 212 StPO) vor, womit auch Erörterungen<br />

außerhalb einer bereits begonnenen Hauptverhandlung um-<br />

62 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses<br />

vom 20.5.2009; BT-Drs. 16/13095.<br />

63 BGBl. I 2009, S. 2353.<br />

64 Dazu kritisch Fischer, StraFo 2009, 177 (186).<br />

„Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a,<br />

212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit<br />

einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn<br />

ja, deren wesentlichen <strong>Inhalt</strong>. Diese Pflicht gilt auch im weiteren<br />

Verlauf der Hauptverhandlung, soweit sich Änderungen<br />

gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung<br />

ergeben haben.“<br />

Aus dieser Vorschrift wird auch deutlich, dass die Erörterungen<br />

zur Verfahrensförderung im Stadium des Zwischenverfahrens<br />

und des Hauptverfahrens bereits auf eine Verständigung<br />

zielen können, ohne dass dies explizit in §§ 202a, 212<br />

StPO zum Ausdruck kommt. 66<br />

In das Hauptverhandlungsprotokoll sind sowohl der wesentliche<br />

Ablauf und <strong>Inhalt</strong> von Erörterungen nach § 257b<br />

StPO (§ 273 Abs. 1 S. 2 StPO) als auch der wesentliche Ablauf,<br />

der <strong>Inhalt</strong> und das Ergebnis einer Verständigung nach<br />

§ 257c StPO aufzunehmen (§ 273 Abs. 1a S. 1 StPO). Protokollierungspflichtig<br />

sind weiter die „Beachtung der in § 243<br />

Abs. 4, § 257c Abs. 4 S. 4 und Abs. 5 vorgeschriebenen Mitteilungen<br />

und Belehrungen“ (§ 273 Abs. 1a S. 2 StPO). Im<br />

Protokoll ist schließlich auch ggf. zu vermerken, dass eine Verständigung<br />

nicht stattgefunden hat (§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO).<br />

Die Verständigung muss in den Urteilsgründen Erwähnung<br />

finden (§ 267 Abs. 3 S. 5 StPO), und zwar auch im<br />

Falle des abgekürzten Urteils (§ 267 Abs. 4 S. 2 StPO).<br />

Das Erfordernis einer qualifizierten Belehrung ist für den<br />

Fall, dass dem Urteil eine Verständigung nach § 257c StPO<br />

vorausgegangen ist, in § 35 S. 3 StPO vorgesehen, wobei<br />

durch einen ausdrücklichen Verweis in § 44 S. 2 StPO auf<br />

„§ 35 S. 1 und 2“ klargestellt ist, dass die Fiktion fehlenden<br />

Verschuldens keine Anwendung auf den Fall findet, dass der<br />

Angeklagte nicht über seine trotz der Verständigung fortbestehende<br />

Rechtsmittelbefugnis belehrt worden ist. 67<br />

Ein Rechtsmittelverzicht nach vorangegangener Verständigung<br />

ist gemäß § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausgeschlossen. Die<br />

Entwürfe hatten die Unwirksamkeit noch auf die Fälle fehlender<br />

qualifizierter Belehrung beschränkt. 68 Die Änderung<br />

geht auf eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses<br />

65 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 12; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs 16/11736, S. 10.<br />

66 In diesem Sinne auch die Entwurfsbegründungen; siehe<br />

Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310, S. 9,<br />

12; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 7, 10.<br />

67 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 11; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 8 f.<br />

68 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310;<br />

Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-<br />

Drs. 16/11736.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

530<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zurück. 69 Es solle verhindert werden, „dass die Rechtmittelberechtigten<br />

nach einer Verständigung aufgrund tatsächlicher<br />

oder vermeintlicher Erwartungshaltungen vorschnell auf<br />

Rechtsmittel verzichten“. Vielmehr sollen „die Berechtigten<br />

in Ruhe und ohne Druck überlegen können, ob sie Rechtsmittel<br />

einlegen wollen oder nicht“.<br />

II. Bewertung der Entwicklung<br />

Der Gesetzgeber hat dem Appell des BGH Rechnung getragen,<br />

wenn auch nach seinen eigenen Maßstäben zu spät,<br />

wenn es in der Entwurfsbegründung heißt: „Es kann nicht<br />

sein, ein wesentliches Geschehen in den Gerichtssälen mit<br />

Unsicherheiten behaftet sein zu lassen und eine Regelung der<br />

höchstrichterlichen Rechtsprechung zu überlassen“ 70 – genau<br />

das war aber mehrere Jahrzehnte der Fall.<br />

Immerhin hat der Hilferuf des BGH dazu geführt, dass<br />

sich der Gesetzgeber seiner Aufgabe besonnen hat; andere<br />

Hilferufe an den Staat haben freilich weniger Gehör gefunden.<br />

So hat sich der BGH auch schon zu der Äußerung veranlasst<br />

gesehen, dass dem „Anliegen des Gesetzgebers, das<br />

Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des<br />

Rechts vor einer Erschütterung durch unangemessen milde<br />

Sanktionen zu bewahren […], im Bereich des überwiegend<br />

tatsächlich und rechtlich schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts<br />

nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare<br />

Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung getragen<br />

werden“ könne. 71<br />

Der Frage nach Alternativen zu einer gesetzlichen Zulassung<br />

von Verständigungen ist in den Entwürfen nur knapp<br />

angesprochen. Insbesondere kämen keine Einschränkungen<br />

von Verteidigungsrechten in Betracht. Diese würden keine<br />

Regelungen der Abspracheproblematik darstellen und seien<br />

mit Rücksicht auf die Verfahrensrechte des Angeklagten im<br />

Rahmen eines fairen Strafverfahrens auch grundsätzlich abzulehnen.<br />

72 Das ist so ganz sicher zu pauschal; 73 die Diskussion<br />

über diese Frage zu führen ist hier aber nicht der Ort.<br />

Hingewiesen werden soll immerhin auf folgende Punkte: Es<br />

ist klar, dass die geringe praktische Relevanz obstruktiver<br />

Formen der so genannten „Konfliktverteidigung“ kein Argument<br />

gegen deren Bedeutung für die Praxis der Absprachen<br />

69 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechsausschusses<br />

(6. Ausschuss), BT-Drs. 16/13095, S. 14. Der Rechtsausschuss<br />

des Bundesrates hatte (u.a.) diese Änderung zum Anlass<br />

genommen, dem Bundesrat die Anrufung des Vermittlungsausschusses<br />

gemäß Art. 77 Abs. 2 GG zu empfehlen;<br />

BR-Drs. 582/1/09.<br />

70 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 8; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 6.<br />

71 BGHSt 50, 299 (309); vgl. auch BVerfG StV 2006, 87<br />

(90); Pfister, DRiZ 2004, 178 (183).<br />

72 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 2; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs 16/11736, S. 2.<br />

73 Kritisch Fischer, StraFo 2009, 177 (188).<br />

ist. 74 Verfahrensobstruktion verträgt sich zwar nicht mit einer<br />

gelungenen Verständigung, aber sie kommt als Reaktion auf<br />

eine gescheiterte Absprache in Betracht. 75 Es geht also um<br />

die (konkludente) Drohung mit der Möglichkeit der Verfahrensobstruktion,<br />

die auf Gerichte und Staatsanwaltschaften<br />

motivierend wirken mag. 76 Kaum bestreitbar dürfte auch sein,<br />

dass die Verteidigung es regelmäßig in der Hand hat, Verfahren<br />

durch äußerlich prozessordnungsgemäßes Verhalten in<br />

die Länge zu ziehen, indem Partizipationsmöglichkeiten in<br />

zweckentfremdeter Weise eingesetzt werden. 77 Überhaupt<br />

wird sich ein Zusammenhang zwischen dem (bisherigen)<br />

gesetzlichen Programm des Strafprozesses und den Gründen<br />

für dessen Umgehung durch Absprachen kaum bestreiten<br />

lassen. Ob der Verfahrensfairness durch die gesetzliche Verständigungsregelung<br />

ein besserer Dienst erwiesen ist, erscheint<br />

jedenfalls noch nicht als ausgemacht. Immerhin beklagen<br />

auch Strafverteidiger den Verlust an Verteidigungsrechten<br />

durch den „aufgezwungenen Deal“ 78 . Dieses Problem<br />

dürfte sich in Zukunft noch verschärfen: Es liegt nicht fern,<br />

dass mancher Richter mit der gesetzlichen Verständigungsregelung<br />

im Rücken für den Wunsch nach einer vollständigen<br />

Beweisaufnahme noch weniger Verständnis haben wird als<br />

bisher. 79<br />

Zustimmung verdient der Gesetzgeber insoweit, als er das<br />

Konsensmodell zurückgewiesen hat. 80 Bei allen erkenntnistheoretischen<br />

und sozialwissenschaftlichen Einsichten in die<br />

Grenzen der Feststellung „wahrer“ Sachverhalte, führt für das<br />

Strafrecht kein Weg am Streben nach materieller Wahrheit<br />

vorbei. 81 Ein Konsens verbürgt die Feststellung materieller<br />

Wahrheit offensichtlich nicht. 82 Das gilt ganz besonders in<br />

der Situation des Strafprozesses, in der ein mehr oder minder<br />

aufgezwungener Einigungsdruck in Richtung auf eine (aus<br />

Sicht des Angeklagten: möglichst glimpfliche, aus Sicht der<br />

74 So aber Ministerialdirigent Eberhard Siegismund in der<br />

Debatte um die Neuregelung im Rahmen eines Kolloquiums<br />

des kriminalwissenschaftlichen Instituts der Universität Göttingen<br />

unter dem Oberthema „Recht ohne Regeln – Zur<br />

Entformalisierung des Strafrechts“ am 10.7.2009 (dazu demnächst<br />

der vom Verf. herausgegebene Tagungsband) unter<br />

Hinweis auf empirische Erhebungen im Auftrag des BMJ<br />

(vgl. zu diesen die Zusammenfassung in StV 2000, 174).<br />

75 Beispiel bei Fischer, StraFo 2009, 177 (179).<br />

76 Rönnau (Fn. 5), S. 46 ff.; B. Schmitt, GA 2001, 411 (418).<br />

77 Vgl. BGH NStZ 2005, 341; B. Schmitt, GA 2001, 411 (416<br />

ff.); eingehend Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess,<br />

2004, S. 251 ff.; speziell zum Missbrauch des Beweisantragsrechts<br />

Spiekermann, Der Missbrauch des Beweisantragsrechts,<br />

2001.<br />

78 Weider, StraFo 2003, 406; Kempf, StV 2009, 269.<br />

79 Fischer, StraFo 2009, 177 (186).<br />

80 Dazu gut Lien, GA 2006, 129 (135 ff.).<br />

81 BVerfGE 57, 250 (275); 63, 45 (61); BVerfG NJW 1987,<br />

2662 (2663); Gössel, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Lutz<br />

Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, 2001, S. 199.<br />

82 Lien, GA 2006, 129 (140); insofern zutreffend auch Weichbrodt<br />

(Fn. 6), S. 187.<br />

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531


Uwe Murmann<br />

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Justiz: möglichst schnelle) Erledigung herrscht. 83 Die von<br />

den Beteiligten verfolgten Interessen sind an die Feststellung<br />

materieller Wahrheit nicht gebunden; vielmehr kann im Gegenteil<br />

das bedingungslose Festhalten an einer jeweils für<br />

richtig gehaltenen „Wahrheit“ oder das Streben nach einer<br />

solchen dem Konsens und damit der Interessenverfolgung im<br />

Wege stehen. 84 Es bleibt die Überlegung, der Konsens schaffe<br />

eine von der materiellen Wahrheit gelöste Gerechtigkeit. 85<br />

Das damit angesprochene Verständnis von „Gerechtigkeit“<br />

ist offenbar das einer „Rechtsfriedens-Gerechtigkeit“, wie sie<br />

heute verbreitet propagiert wird. 86 Viel mehr als „juristische<br />

Kitschrhetorik“ 87 , die die erstrebte schnelle und günstige<br />

Verfahrenserledigung als Demokratisierung des Strafverfahrens<br />

verbrämt, ist damit nicht gewonnen. Soll das Schlagwort<br />

„Konsens schafft Frieden“ 88 mit <strong>Inhalt</strong> gefüllt werden, so<br />

müsste zumindest plausibel gemacht werden, dass Absprachen<br />

tatsächlich (faktisch und/oder normativ) Rechtsfrieden<br />

stiften. Gerade bezogen auf das Strafverfahren liegt es aber<br />

nicht fern, dass die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft jedenfalls<br />

bei gewichtigeren Vorwürfen als rechtsfriedensstiftend<br />

ein Verfahren ansehen, in dem nach sorgfältiger Sachverhaltsaufklärung<br />

und für den Fall, dass das Gericht aus dem<br />

Inbegriff der Hauptverhandlung die Überzeugung von der<br />

Schuld des Angeklagten gewonnen hat, eine schuldangemessene<br />

Strafe verhängt wird. Der Grund dafür ist einfach: In der<br />

Rechtsgemeinschaft dominiert (wohl) ein vergeltungstheoretisches<br />

Verständnis von Strafe, das mit der Akzeptanz eines<br />

ausgehandelten Verfahrensergebnisses nicht vereinbar ist. 89<br />

Die Aufklärung des tatsächlichen Geschehens als Grundlage<br />

des Schuldvorwurfs wäre damit auch zur Herstellung von<br />

Rechtsfrieden unerlässlich. Ist diese Annahme richtig, so<br />

wären die Konsequenzen auch vom Boden empirischer, d.h.<br />

an der tatsächlichen Wirkweise von Strafe orientierter, Präventionstheorien<br />

zu akzeptieren. 90 Die darüber hinaus auch in<br />

der Sache bestehende Berechtigung des vergeltungstheoreti-<br />

83 Dazu, dass auch der amerikanische Strafprozess als Vorbild<br />

nicht taugt, Kempf, StV 2009, 269 (271 ff.); Ransiek, <strong>ZIS</strong><br />

2008, 116; Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (364 ff.).<br />

84 Zutreffend Lien, GA 2006, 129 (142 f.).<br />

85 In diesem Sinne etwa Jahn, ZStW 118 (2006), 427 (455<br />

ff.); ders., GA 2004, 280 ff.; Weichbrodt (Fn. 6), S. 110 ff.<br />

86 Eingehende Kritik daran bei Murmann, GA 2004, 65 (69 f.,<br />

80 ff.).<br />

87 Strafrechtsausschuss des DAV, StraFo 2006, 92.<br />

88 So der Vorschlag der Bundesrechtsanwaltskammer, ZRP<br />

2005, 235 (236),<br />

www.brak.de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/Stn25_05.pdf,<br />

S. 4.<br />

89 Fischer, StraFo 2009, 177 (182) hat zu Recht darauf hingewiesen,<br />

dass das ausgehandelte Verfahrensergebnis vielfach<br />

auch nicht die Akzeptanz des Opfers finden wird. Es ist<br />

deshalb zumindest zu pauschal, wenn häufig das Interesse des<br />

Opfers, nicht als Zeuge auftreten zu müssen, für eine Verständigung<br />

ins Feld geführt.<br />

90 Vgl. zum Zusammenhang von Straftheorien und Absprachen<br />

Rönnau (Fn. 5), 1990, S. 61 ff.<br />

schen Ansatzes soll hier nicht weiter vertieft werden. 91 Dass<br />

damit keinem „staatsautoritären Wahrheits- und Gerechtigkeitsideal“<br />

92 gehuldigt, sondern im Gegenteil die Rechtsperson<br />

in ihrer Verantwortlichkeit ernst genommen und deshalb<br />

auf die schützenden Formen eines auf Sachverhaltsaufklärung<br />

gerichteten Verfahrens bestanden wird, soll aber gegen<br />

die sich modern gerierenden Konsenstheorien doch immerhin<br />

erwähnt werden.<br />

Der Gesetzgeber will also zu Recht an der Aufklärungspflicht<br />

und dem Schuldprinzip festhalten. 93 Mit der gesetzlichen<br />

Regelung der Verständigung wird sich das aber nicht<br />

realisieren lassen. 94 Die schon vom BGH vergeblich angemahnte<br />

Einhaltung der rechtlichen Grenzen von Absprachen<br />

wird in der Praxis nicht deshalb sehr viel größere Beachtung<br />

finden, weil diese Grenzen nunmehr gesetzlich geregelt<br />

sind. 95 Das liegt nicht (nur) an einer Bereitschaft der Gerichte<br />

und Verfahrensbeteiligten, interessenwidrige Einschränkungen<br />

zu ignorieren. 96 Es liegt vor allem daran, dass Verständigung<br />

auf der einen und Aufklärungspflicht und Schuldprinzip<br />

auf der anderen Seite schlechterdings nicht kompatibel sind. 97<br />

91 Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 43 ff.<br />

92 Trüg, ZStW 120 (2008), 331 (367).<br />

93 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 8; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 6.<br />

94 Dazu demnächst Murmann, in: Ders. (Hrsg.), Recht ohne<br />

Regeln Die Entformalisierung des Strafrechts.<br />

95 Zutreffend Fischer, NStZ 2007, 433 (435); etwas optimistischer<br />

Jähnke, ZRP 2001, 574 (577: „Ich vertraue darauf,<br />

dass eine gesetzliche Regelung auch eine Signalwirkung hat,<br />

weil unsere deutschen Richter sich ja wohl an das Gesetz<br />

halten werden, wenn die Regelung einmal im Gesetz steht“);<br />

Pfister, StraFo 2006, 349 (354).<br />

96 Eindrücklich der von verschiedenen Autoren zitierte Auftritt<br />

eines Vorsitzenden Richters, der unter dem tosenden<br />

Applaus der Teilnehmer des 18. Deutschen Richter- und<br />

Staatsanwaltstags 2003 der Rechtsprechung des BGH Wirklichkeitsferne<br />

vorwarf und meinte, der BGH brauche sich<br />

nicht zu wundern, wenn ihm die Praxis nicht folge; Fischer,<br />

NStZ 2007, 433 Fn. 8; Pfister, DRiZ 2004, 178. Vgl. auch<br />

Jähnke, ZRP 2001, 574 (576).<br />

97 Duttge/Schoop, StV 2005, 421 (422 f.); Fischer, StraFo<br />

2009, 177 (181 ff.); Hettinger, in: Jung/Luxenburger/Wahle<br />

(Hrsg.), Festschrift für Egon Müller, 2008, S. 277; Meyer-<br />

Goßner, Ergänzungsheft zur 52. Aufl. 2009, § 257c Rn. 3,<br />

17; Rieß, JR 2005, 435 (436); Schünemann, StraFo 2004, 293<br />

(295); Ders./Hauer, AnwBl. 2006, 439 (443); Weigend (Fn.<br />

12), S. 1013 ff.; ders., NStZ 1999, 57 (63). Insofern zutreffend<br />

die Begründung zum Vorschlag einer gesetzlichen Regelung<br />

der Urteilsabsprache im Strafverfahren des Strafrechtsausschusses<br />

der BRAK<br />

(www.brak.de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/Stn25_05.pdf),<br />

S. 3: „Naturgemäß wird auch und gerade der Aufklärungsgrundsatz<br />

durch das Institut der Urteilsabsprache zumindest<br />

faktisch relativiert. Die Auffassung, wonach der Aufklärungsgrundsatz<br />

von einer Urteilsabsprache unberücksichtigt<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

532<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Die Absprache zielt gerade darauf ab, Aufklärungsarbeit zu<br />

reduzieren. 98 Die Gegenleistung besteht in Abschlägen beim<br />

Strafmaß, die sich aus dem Geständnis nicht begründen lassen.<br />

99 Jüngere empirische Untersuchungen belegen Vorteile<br />

für den absprachewilligen Angeklagten 100 und damit auch<br />

deren Kehrseite, nämlich dass der gleiche Erfolg nicht auch<br />

durch ein von Absprachen unbeeinflusstes Geständnis erzielt<br />

werden kann, 101 obwohl ein aus freien Stücken und ohne<br />

vorangegangenes Feilschen abgelegtes Geständnis unter<br />

Strafzumessungsaspekten allemal einen Mehrwert gegenüber<br />

dem abgesprochenen Geständnis aufweist. Auch unter den<br />

Aspekten der Verfahrensbeschleunigung, des Opferschutzes<br />

oder der rechtsfriedensstiftenden Wirkung ist das außerhalb<br />

einer Absprache abgelegte Geständnis dem abgesprochenen<br />

mindestens ebenbürtig, wohl regelmäßig sogar überlegen. Es<br />

ist bis zur Peinlichkeit trivial, dass die Interessen der Verhandlungsführer<br />

– vor allem Arbeitsentlastung auf Seiten der<br />

Justiz und günstiges Strafmaß auf Seiten des Angeklagten 102<br />

– und das Gewicht der Verhandlungspositionen – z.B. Komplexität<br />

eines Prozesses, Arbeitsbelastung des Gerichts,<br />

Kompetenz 103 und Bereitschaft des Gerichts zur Führung<br />

einer „streitigen“ Verhandlung – das Prozessergebnis zuminbleiben<br />

müsse, erscheint wirklichkeitsfremd und unpraktikabel“.<br />

98 Spätestens mit der Annahme, die Funktionstüchtigkeit der<br />

Rechtspflege könne die Absprachen legitimieren (BGH [GrS]<br />

50, 40 [53 f.]), hat sich auch die Rechtsprechung von der<br />

Vereinbarkeitsthese stillschweigend verabschiedet; dieser<br />

Gedanke findet sich angedeutet bei Lien, GA 2006, 129 (130)<br />

Fn. 5.<br />

99 Zutreffend Erb (Fn. 40), S. 745 ff.; Fischer, StraFo 2009,<br />

177 (181 f.); Hettinger (Fn. 97), S. 278; Lien, GA 2006, 129<br />

(133); Rönnau (Fn. 5), S. 96 ff.; Weigend, NStZ 1999, 57 (60<br />

f.); a.A. Hauer (Fn. 40), S. 164 ff. (mit Einschränkungen<br />

hinsichtlich der real existierenden Absprachenpraxis S. 170<br />

ff.).<br />

100 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen (Fn. 2), S. 53 ff.<br />

101 Haller, DRiZ 2006, 277: „Das ‚Einvernehmen’ (genauer:<br />

der ‚Leistungsaustausch’) wird sich daher regelmäßig auf<br />

Vergünstigungen beziehen, die auf anderem – gesetzmäßigem<br />

– Wege nicht zu erreichen wären“.<br />

102 So auch die Entwurfsbegründungen; Gesetzentwurf der<br />

Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310, S. 7; Gesetzentwurf der<br />

Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16/11736, S. 5.<br />

103 Diese Kompetenz ist in einem von Absprachen geprägten<br />

Rechtsalltag keine Selbstverständlichkeit mehr; Nehm, StV<br />

2007, 549: „Mangel an forensischer Souveränität“; ähnlich<br />

BGH StV 2007, 619 zu den verzweifelt anmutenden Versuchen<br />

eines Vorsitzenden, den Angeklagten unter dem Druck<br />

der Sanktionsschere zu einem Geständnis zu bewegen: Wenn<br />

hierdurch der Eindruck entstehe, „dass sich ein Gericht nicht<br />

mehr in der Lage sieht, das Verfahren ohne Geständnis zu<br />

beenden“, müsse ein solcher Vorgang „Anlass zu ernster<br />

Sorge über den Zustand der Strafjustiz geben“. Vgl. auch<br />

Pfister, StraFo 2006, 349 (351 f.) zu der „Erfahrung, dass die<br />

Urteile, die wir zur Überprüfung bekommen, in der Qualität<br />

nachgelassen haben“.<br />

dest mitbestimmen, 104 ohne dass diese Gesichtspunkte auch<br />

nur den leisesten Bezug zum Schuldvorwurf aufweisen. Man<br />

kann sich schlecht einerseits auf den Standpunkt des Realisten<br />

stellen, der von einer praktischen Bedürfnissen nach Entlastung<br />

geschuldeten Entwicklung ausgeht und andererseits<br />

so tun, als würde mit der Anerkennung dieser Entwicklung<br />

im Strafprozess alles beim Alten bleiben. 105<br />

Dass weiterhin auch vom Grundsatz der Öffentlichkeit<br />

der Hauptverhandlung nicht mehr viel übrig bleibt, entspricht<br />

bereits dem Konzept des BGH. Nicht umsonst ist in den<br />

Entwurfsbegründungen die Rede von einer „Unterrichtung<br />

der Öffentlichkeit“ 106 . Diese Unterrichtung über „den wesentlichen<br />

<strong>Inhalt</strong>“ von Verständigungsgesprächen (§ 243 Abs. 4<br />

StPO) ist naturgemäß ein kümmerliches Surrogat für den<br />

Verhandlungsvorgang in seinen Einzelheiten. 107 Freilich wäre<br />

die Auferlegung einer Pflicht zur Führung aller Verständigungsgespräche<br />

im Rahmen der Hauptverhandlung auch<br />

nicht realistisch gewesen: Das Gezerre um die Strafhöhe<br />

wäre kaum geeignet, das Vertrauen in die Rechtspflege zu<br />

stärken. Es liegt in der Natur von Absprachen, dass deren<br />

Zustandekommen nicht für die Ohren der Öffentlichkeit<br />

bestimmt ist. Deshalb hätte sich eine Stärkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes<br />

auch praktisch nicht durchsetzen lassen.<br />

Diese Überlegung gibt Anlass, zumindest am Rande auf<br />

eine Besonderheit in der Diskussion um die Absprachen<br />

hinzuweisen 108 : Die Frage nach der praktischen Durchsetzbarkeit<br />

von an die Gerichte gerichteten gesetzlichen Regeln<br />

sollte eigentlich leicht zu beantworten sein: Selbstverständlich<br />

orientieren sich die Gerichte am Gesetz. Dass diese<br />

Selbstverständlichkeit bei den Absprachen längst keine mehr<br />

ist, 109 ist wohl Folge der rechtsfernen Entstehung der Absprachen<br />

und hängt damit zusammen, dass die Gerichte mit den<br />

Absprachen durchaus auch eigene Interessen verfolgen. Dass<br />

hier eine Gefahr für den Primat des demokratisch legitimierten<br />

Gesetzgebers liegt, sollte immerhin einmal festgehalten<br />

werden. Wenn der gesetzgeberische Spielraum von der Befolgungsbereitschaft<br />

der Gerichte definiert wird, dann sind<br />

der Gesetzesvorbehalt und die dahinter stehenden Sinngehalte<br />

– Demokratieprinzip, Gewaltenteilung – ernsthaft beschädigt.<br />

104 Zutreffend Lien, GA 2006, 129 (137 ff.).<br />

105 Zutreffend Weigend (Fn. 12), S. 1013.<br />

106 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 8; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 6.<br />

107 Zutreffend B. Schmitt, GA 2001, 411 (423 f.); Schünemann,<br />

ZRP 2009, 104 (106); Ders./Hauer, AnwBl. 2006, 439<br />

(442); Weigend (Fn. 12), S. 1015 f.; ders., NStZ 1999, 57<br />

(60).<br />

108 Siehe auch Schünemann, ZRP 2009, 104.<br />

109 Vgl. Bittmann, DRiZ 2007, 22 (27) der unverhohlen davon<br />

ausgeht, dass mit Missbrauch zu rechnen sei, wenn die<br />

gesetzlichen Regelungen den Vorstellungen der Praxis nicht<br />

entsprächen. Ähnlich bezogen auf die Beachtung der Grundsätze<br />

des BGH Fischer, NStZ 2007, 433 (434); Jähnke, ZRP<br />

2001, 574 (575 f.); Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187; B.<br />

Schmitt, GA 2001, 411 (425 f.); Widmaier, NJW 2005, 1985.<br />

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533


Uwe Murmann<br />

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Der Erhalt sämtlicher Rechtsmittel nach der Neuregelung<br />

ist grundsätzlich positiv zu beurteilen. Das Anliegen ist berechtigt:<br />

Die Missbrauchsanfälligkeit einvernehmlicher Verfahrenserledigung<br />

verlangt nach der Möglichkeit voller revisionsgerichtlicher<br />

Überprüfung. 110 Zu glauben, damit eine<br />

auch nur halbwegs zuverlässige Kontrolle von Vereinbarungen<br />

und deren Umsetzung zu erreichen, ist aber günstigstenfalls<br />

naiv: Das Zusammenwirken aller Beteiligten ist im Regelfall<br />

der Garant dafür, dass Rechtsmittel von keiner Seite<br />

eingelegt werden. 111 Und je weiter sich eine Absprache von<br />

den gesetzlichen Vorgaben entfernt, desto mehr wird man<br />

darauf bedacht sein, die Vereinbarung so zu treffen und mit<br />

den Beteiligten abzusprechen, dass ein Rechtsmittel tatsächlich<br />

nicht eingelegt wird. 112 Da Verständigungen, wie Geschäftsbeziehungen<br />

sonst auch, in besonderem Maße auf<br />

Vertrauen angewiesen sind, bedarf es überdies keiner allzu<br />

blühenden Phantasie, um sich auszumalen, dass die professionellen<br />

Akteure ein hohes Interesse daran haben, sich als<br />

verlässliche Partner einen Namen zu machen. Ein erwartungswidriges<br />

Abweichen von dem erwünschten Verhalten<br />

wird – ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Rechtsmitteleinlegung<br />

– informell sanktioniert. 113<br />

Soweit es das Recht zur Rechtsmitteleinlegung anbelangt,<br />

ist die gesetzliche Regelung allerdings in einem Punkt in<br />

paternalistischem Eifer über das zum Schutz des Angeklagten<br />

Erforderliche hinaus gegangen: Der Ausschluss der Möglichkeit<br />

des Rechtsmittelverzichts nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO<br />

lässt sich gegenüber einem qualifiziert belehrten Angeklagten,<br />

der über sein Rechtsmittelrecht folglich orientiert ist,<br />

nicht rechtfertigen. 114 Für eine an der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen<br />

Entscheidung orientierte Theorie prozessrechtlicher<br />

Handlungsfähigkeit 115 stellt diese Einschränkung der<br />

Dispositionsfreiheit einen systemwidrigen Fremdkörper dar.<br />

110 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 9; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 7. Siehe auch schon oben I.<br />

111 Jähnke, ZRP 2001, 574 (576).<br />

112 Weshalb es auch nicht den Punkt trifft, wenn Jahn, ZStW<br />

118 (2006), 427 (429), meint, es seien gerade die „unspektakulären<br />

Fälle gelungener Verständigung“, die die Rechtsmittelinstanz<br />

nicht erreichen. Ob eine Absprache „gelungen“ ist,<br />

hängt nach dem Selbstverständnis der rechtsmittelberechtigten<br />

Akteure nicht von der Einhaltung des Rechts ab, sondern<br />

davon, ob die Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden sind.<br />

113 Fischer, StraFo 2009, 177 (179); Harms (Fn. 4), S. 293;<br />

Jähnke, ZRP 2001, 574 (576); Weider, StraFo 2003, 406<br />

(411).<br />

114 Zutreffend BGHSt (GrS) 50, 40 (62): „Die Erklärung des<br />

qualifiziert belehrten Betroffenen, auf ein Rechtsmittel zu<br />

verzichten, ist wirksam und unwiderruflich, weil sie in voller<br />

Kenntnis von Bedeutung und Tragweite des Verzichts abgegeben<br />

worden ist“. Kritisch dagegen Saliger, JuS 2006, 8 (10,<br />

11). Zur Gesetzgebungsgeschichte und zur Begründung der<br />

Regelung siehe oben I.<br />

115 Dazu Frisch, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer<br />

Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

62. Lfg., Stand: Juli 2009, § 302 Rn. 14.<br />

Die Bevormundung wiegt umso schwerer, als der Angeklagte<br />

möglicherweise berechtigte eigene Interessen verfolgt, wenn<br />

er daran mitwirken möchte, einem Urteil zur Rechtskraft zu<br />

verhelfen.<br />

III. Einzelprobleme der gesetzlichen Regelung<br />

Stehen Verständigung einerseits und Prozessmaximen andererseits,<br />

insbesondere Aufklärungspflicht und Schuldprinzip,<br />

in Widerspruch zueinander, dann ist ein Gesetz, dass den<br />

Einklang von beidem behauptet, schlicht eine die Wirklichkeit<br />

verfehlende Heuchelei. Dass vor diesem Hintergrund ein<br />

sachgerechter Umgang mit der gesetzlichen Regelung – also<br />

die Aufrechterhaltung der genannten Maximen bei Inanspruchnahme<br />

der prozessökonomischen Vorteile der Absprachen<br />

– weder theoretisch noch praktisch zu leisten ist, liegt<br />

auf der Hand. Der Gesetzgeber hat den Weg zur „Lösung“<br />

der Antinomie schon vorgezeichnet: Unter verbaler Aufrechterhaltung<br />

der Prozessmaximen werden die Prinzipien<br />

material aufgegeben oder zumindest ausgehöhlt. Eine konsistente<br />

Interpretation des Gesetzes kann vor diesem Hintergrund<br />

nicht ernsthaft erwartet werden. Das soll beispielhaft<br />

an einigen Regelungen verdeutlicht werden:<br />

Schon die Frage, was man sich unter für eine Verständigung<br />

„geeigneten Fällen“ (§ 257c Abs. 1 S. 1 StPO) vorzustellen<br />

hat, ist ohne systematische Friktionen nicht zu beantworten.<br />

Der Wortlaut gibt keine Auskunft über die maßgeblichen<br />

Kriterien. Nach der Gesetzesbegründung hänge die<br />

Geeignetheit „von den konkreten Umständen ab“ 116 . Näheren<br />

Aufschluss über die Vorstellungen des Gesetzgebers geben<br />

die Entwurfsbegründungen zur Anwendung der Verständigungsregeln<br />

im Rahmen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten.<br />

Dort gebe es „in der Regel keine ’geeigneten Fälle‘“,<br />

und zwar deshalb, weil „nur sehr selten besonders schwierige<br />

und langwierige Beweisaufnahmen erforderlich“ seien,<br />

„weshalb z.B. auch einem Geständnis des Betroffenen oder<br />

dessen Verzicht auf die Stellung von Beweisanträgen in der<br />

Regel eine geringe Bedeutung im Hinblick auf eine zügige<br />

Verfahrenserledigung zukommt“ 117 . Kurz: Geeignet sind<br />

Fälle, bei denen eine Verständigung Beschleunigungspotential<br />

bietet.<br />

Dieses Ergebnis ist nicht weiter erstaunlich und fügt sich<br />

ganz ein in die Logik der Absprachen: Für Staatsanwaltschaften<br />

und Gerichte ist die Arbeitsentlastung das erstrebte Ziel,<br />

das sich naturgemäß nur bei solchen Verfahren erreichen<br />

lässt, die nach den herkömmlichen Regeln aufwändig zu<br />

werden drohen. Mit dem Grundsatz der Verhängung schuldangemessener<br />

Strafen ist die Gewährung von Strafrabatten<br />

116 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 13; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 11; Gieg, GA 2007, 471 f. (zum Referentenentwurf<br />

des BMJ und zum Gesetzesantrag des Landes<br />

Niedersachsen): Die „Kardinalfrage“ jeder dogmatischwissenschaftlichen<br />

Absprachepraxis bleibe „weitgehend<br />

unbeantwortet“; vgl. auch Hettinger (Fn. 97), S. 280.<br />

117 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 15; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 13.<br />

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534<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

als Gegenleistung für die Verfahrensverkürzung dagegen<br />

nicht vereinbar. Denn sanktionenrechtlich gibt es keinen<br />

überzeugenden Grund für eine Privilegierung solcher Beschuldigter,<br />

deren Verfahren besonders komplex zu werden<br />

drohen. 118<br />

Es lohnt sich auch ein Blick auf die verbleibenden, für eine<br />

Verständigung ungeeigneten Fälle, 119 die bei klarer Beweislage<br />

tatsächlich und rechtlich einfach sind. Die solcher<br />

Taten Beschuldigten kommen so wenig in den Genuss einer<br />

Verständigung wie solche Beschuldigte, die echtes Bedauern<br />

oder auch mangelnde Routine im Umgang mit den Strafverfolgungsbehörden<br />

zu einem frühen Geständnis bewegt haben.<br />

Ihnen allen bleibt die Wohltat der Absprache versperrt – weil<br />

sie nichts (mehr) zu bieten haben.<br />

Neben dem klar zutage liegenden, wenn auch mit den<br />

Prozessmaximen nicht kompatiblen Kriterium des drohenden<br />

Verfahrensumfangs, wird in der Praxis weiteren Kriterien<br />

Bedeutung zukommen, die ebenfalls mit dem erhobenen<br />

Schuldvorwurf nichts zu tun haben. Insbesondere wird es<br />

einen wesentlichen Unterschied machen, ob ein Beschuldigter<br />

durch einen Rechtsanwalt verteidigt ist oder nicht. Das ist<br />

insofern offensichtlich, als der Beschuldigte kaum von sich<br />

aus Verständigungsgespräche eröffnen wird. Aber auch<br />

Staatsanwaltschaft und Gericht werden mit dem Beschuldigten<br />

meist nicht in Gespräche eintreten, da er für sie kein<br />

kompetenter Verhandlungspartner ist. So kann der Beschuldigte<br />

nicht die Qualität des Angebots einschätzen, weil er<br />

weder über die üblichen Strafen noch über die Angemessenheit<br />

der in Aussicht gestellten Milderung im Falle eines Geständnisses<br />

orientiert ist. Er kann ferner seine eigene prozessuale<br />

Lage (unter Berücksichtigung seines Beweisantragsrechts,<br />

seines Rechts zur Richterablehnung usw.) nicht einschätzen<br />

und wird – trotz Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO<br />

– die Risiken einer Abweichung des Gerichts nicht realistisch<br />

beurteilen können. Kurz: Der Beschuldigte kann sich allenfalls<br />

in die Hand des Gerichts begeben – seine Position ist<br />

dann aber keine andere als bei bedingungsloser Ablegung<br />

eines Geständnisses.<br />

An dieser grundsätzlichen Ungleichbehandlung von verteidigten<br />

und unverteidigten Beschuldigten ändert es auch<br />

nichts, dass vielfach die aufgrund ihrer Komplexität für Verständigungen<br />

geeigneten Verfahren solche sein werden, in<br />

denen der Beschuldigte einen Verteidiger hat (§ 140 Abs. 2<br />

StPO). Immerhin erscheint es nahe liegend, mit Blick auf die<br />

dargestellte Inkompetenz des Beschuldigten zur Verhandlungsführung<br />

einen Fall notwendiger Verteidigung in für eine<br />

Verständigung geeigneten Fällen zumindest dann anzunehmen,<br />

wenn das Gericht grundsätzlich verständigungsbereit ist<br />

(zum Fehlen einer diesbezüglichen Pflicht des Gerichts<br />

sogleich) 120 . Der verteidigte Beschuldigte bleibt aber jedenfalls<br />

auch in Fällen nicht notwendiger Verteidigung im Vor-<br />

118 Dazu schon oben II.<br />

119 Weigend (Fn. 12), S. 1012.<br />

120 Vgl. etwa Lüderssen/Jahn, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/Ignor<br />

(Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />

Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd.<br />

4, 26. Aufl. 2007,§ 140 Rn. 77.<br />

teil: Ein Verteidiger wird es nämlich vielfach in der Hand<br />

haben, auch einen Fall von geringem Schwierigkeitsgrad<br />

langwierig und mühsam zu gestalten. Stellt ein Verteidiger<br />

dem Gericht ein solches Prozessverhalten in Aussicht, so<br />

kann er dadurch aus einem Fall, der beim unverteidigten<br />

Beschuldigten für eine Verständigung ungeeignet wäre, einen<br />

geeigneten Fall machen. Von den hehren Worten der Entwurfsbegründung,<br />

dass die Gleichbehandlung von verteidigtem<br />

und nicht verteidigtem Beschuldigten (wie auch die Einbeziehung<br />

amtsgerichtlicher Verfahren) einer sonst zu befürchtenden<br />

„Zwei-Klassen-Justiz“ vorbeuge 121 , bleibt also<br />

bei praktischer Betrachtung nicht mehr viel übrig. 122<br />

Mit der Einschränkung auf „geeignete Fälle“, in denen<br />

sich das Gericht um eine Verständigung bemühen „kann“, hat<br />

der Gesetzgeber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass eine<br />

Gleichbehandlung aller Beschuldigten im Sinne eines Anspruchs<br />

zumindest auf ein Angebot zur Führung von Verständigungsgesprächen<br />

nicht besteht. In der Diskussion wird<br />

dagegen verschiedentlich der Standpunkt vertreten, eine<br />

solche Regelung verstoße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3<br />

GG), 123 sei mithin verfassungswidrig. Das ist auf den ersten<br />

Blick nicht unplausibel: Verständigungen führen zu einer<br />

geringeren Strafe, weshalb diejenigen Angeklagten, die nicht<br />

einmal Zugang zu der für sie günstigeren Verfahrensform<br />

erhalten, im Nachteil sind. Zum Fehlen eines sachlichen<br />

Differenzierungskriteriums wird etwa auf „die Gefahr einer<br />

schuldunabhängigen Ungleichbehandlung von Angeklagten<br />

aus verschiedenen Deliktsbereichen“ hingewiesen. 124 Im<br />

Vorstehenden sind bereits weitere schuldunabhängige Differenzierungskriterien<br />

genannt worden. Die Argumentation aus<br />

dem Gleichheitssatz bezieht ihre Überzeugungskraft freilich<br />

einmal mehr aus der Annahme, die Verständigung verfolge<br />

lediglich auf anderem Wege die Verwirklichung von Aufklärungspflicht<br />

und schuldangemessener Strafe. Geht man dagegen<br />

– zutreffend – davon aus, dass der Aufklärungspflicht<br />

wie auch dem Grundsatz schuldangemessenen Strafens ohne<br />

Verfahrensabsprache besser gedient ist, kann dem Gericht die<br />

Führung eines Verfahrens ohne Verständigung wohl kaum<br />

verwehrt sein: Wenn auch § 257c StPO nun klarstellt, dass<br />

bei Ablegung eines abgesprochenen Geständnisses der Aufklärungspflicht<br />

genüge getan sein kann, heißt dies doch nicht,<br />

dass damit auch das Aufklärungsrecht des Gerichts nicht<br />

mehr besteht. Es steht dem Gericht danach frei, ob es in den<br />

„geeigneten“ Fällen die Entlastungsmöglichkeiten der Verständigung<br />

in Anspruch nimmt oder sich um der besseren<br />

121 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 2; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 2.<br />

122 Vgl. auch Hettinger (Fn. 97), S. 261 ff.<br />

123 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (72, 78);<br />

Nehm, StV 2007, 549 (550); vgl. auch Weßlau, StV 2006,<br />

357 (360); Kintzi (Fn. 49), S. 189: „Die Einführung eines<br />

konsensualen Verfahrensgangs würde zudem die Wahlfreiheit<br />

des Gerichts einengen und letztlich zu einem rechtlich<br />

überprüfbaren ‚Anspruch’ der Verfahrensbeteiligten auf eine<br />

konsensorientierte Einigung führen“.<br />

124 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71 (78).<br />

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535


Uwe Murmann<br />

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Verwirklichung der strafprozessualen Prinzipien willen gegen<br />

eine Verständigung entscheidet. Es ist dann gerade das Zurückbleiben<br />

der Verständigung hinter den Prinzipien des<br />

Strafprozesses, die dafür spricht, die Führung des „Normalverfahrens“<br />

jederzeit zuzulassen, auch wenn eine Verständigung<br />

dem Angeklagten Vorteile versprochen hätte. Mit dem<br />

gesetzgeberischen Leitbild, wonach diese Prinzipien keine<br />

Einschränkungen erleiden, ist diese Begründung freilich nicht<br />

vereinbar.<br />

Aus dem Vorstehenden folgt bereits, dass auch aus dem<br />

Beschleunigungsgrundsatz eine Pflicht zu Verständigungsbemühungen<br />

nicht folgt. Das gilt auch in den „geeigneten<br />

Fällen“, in denen eine Verständigung Aussichten auf eine<br />

schnellere Erledigung bietet. Denn das Bemühen um Aufklärung<br />

durch eine Beweisaufnahme und die Verhängung einer<br />

schuldangemessenen Strafe kann nicht als rechtsstaatswidrige<br />

Verfahrensverzögerung aufgefasst werden. Auch diese<br />

Begründung würde freilich zweifelhaft, wenn man der Behauptung<br />

des Gesetzgebers Glauben schenken wollte, die<br />

Qualität des Verfahrens leide nicht unter der Verständigung.<br />

Dann wäre tatsächlich kaum noch einzusehen, weshalb auch<br />

in „geeigneten Fällen“ keine Pflicht des Gerichts bestehen<br />

soll, sich um eine Verständigung zu bemühen.<br />

Eine letzte zentrale Regelung, die hier mit Blick auf die<br />

unüberwindbaren Widersprüche zwischen Prozessmaximen<br />

und Verständigung angesprochen werden soll, ist der Wegfall<br />

der Bindung des Gerichts an eine Verständigung nach § 257c<br />

Abs. 4 StPO. Der Referentenentwurf war noch von dem Bemühen<br />

getragen, der Aufklärungspflicht in möglichst weitem<br />

Umfang Rechnung zu tragen: 125 Eine Abweichung sollte<br />

danach bereits möglich sein, wenn das Gericht „seine Bewertung<br />

der Sach- oder Rechtslage im Verlauf der Hauptverhandlung<br />

ändert“ 126 . 127 Einer Verwertung der Aussage des<br />

Angeklagten sollte die Abweichung nicht grundsätzlich entgegenstehen.<br />

Die Kritik an dieser Regelung war vorhersehbar:<br />

„Der zuvor ein Geständnis ablegende Angeklagte wird<br />

durch die aus seiner Sicht nahezu voraussetzungslose, jedenfalls<br />

nicht vorhersehbare Möglichkeit der Aufhebung der<br />

gerichtlichen Bindung an die eigene Strafrahmenzusage gerichtlichem<br />

Wankelmut schutzlos ausgeliefert. Mit dem Verfahrensgrundrecht<br />

auf ein faires Verfahren ist dies schlechterdings<br />

nicht vereinbar“ 128 . Der Entwurf der Bundesregie-<br />

125 www.bmj.bund.de/files/-/1234/RefE_Verständigung.pdf.<br />

126 Ähnlich der Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 16/<br />

4197 in § 243a Abs. 5 S. 2: „wesentliche Änderung der Bewertung<br />

der Sach- und Rechtslage durch das Gericht“.<br />

127 Darüber noch hinausgehend Bittmann, DRiZ 2007, 22 (23<br />

f.), der für eine einseitige Lösung der Absprache ohne Begründungsanforderungen<br />

plädiert (weil diese Streitigkeiten<br />

nach sich ziehen könnten). Garant für die Einhaltung von<br />

Absprachen sei das Eigeninteresse des Gerichts am Fortbestand<br />

der erreichten Verständigung. Damit werden aber die<br />

Gesetze des Marktes an die Stelle überprüfbarer Rechtlichkeit<br />

des Verfahrens gesetzt.<br />

128 Gieg, GA 2007, 469 (480); ähnlich Schünemann/Hauer,<br />

AnwBl. 2006, 439 (443).<br />

rung 129 und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD 130 löste<br />

sich insofern vom Referentenentwurf, als Folge der Abweichung<br />

die Unverwertbarkeit des Geständnisses sein sollte. 131<br />

Schon damit war freilich eine Einschränkung der Aufklärungspflicht<br />

zu Gunsten des verständigungstypischen Elements<br />

des Vertrauensschutzes verbunden. Festgehalten wurde<br />

aber zunächst noch daran, dass schon eine Bewertungsänderung<br />

des Gerichts ein Abweichen von der Vereinbarung erlauben<br />

sollte. In den Entwurfsbegründungen heißt es dazu:<br />

„Der Grund für diese Regelung besteht darin, dass das Ergebnis<br />

des Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil<br />

sein muss“ 132 . Diese Einsicht wurde schließlich aufgegeben<br />

auf Grundlage der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses,<br />

wie sie dann auch Gesetz geworden ist. Ausreichend ist<br />

nun nicht mehr eine bloße Bewertungsänderung, sondern<br />

erforderlich ist, dass „rechtlich oder tatsächlich bedeutsame<br />

Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben<br />

haben“. Eine „schlichte Meinungsänderung“ soll nach der<br />

Begründung des Rechtsausschusses nicht ausreichen. 133 Das<br />

führt freilich zu einer Konsequenz, die die früheren Entwürfe<br />

gerade vermeiden wollten, nämlich zur Bindung des Gerichts<br />

an eine nach später gewonnener Einsicht unangemessene<br />

Vereinbarung. Das Gericht kann mithin gezwungen sein, eine<br />

nun aufgrund geänderter Wertung als unangemessen empfundene<br />

Strafe auszusprechen, wenn es keine konkreten Umstände<br />

übersehen hat. Mit der Bindung des Gerichts an das<br />

materielle Strafrecht (Art. 20 Abs. 3 GG) ist dies nicht zu<br />

vereinbaren. Besonders problematisch ist die Bindung an die<br />

Vereinbarung dann, wenn das Gericht zuvor bekannte Umstände<br />

einer Neubewertung unterzieht, die nach Anwendung<br />

eines anderen Straftatbestands verlangt, es also etwa ein<br />

bestimmtes Verhalten nunmehr als bandenmäßige Begehung<br />

wertet oder einen bestimmten Beweggrund als niedrig. Soll<br />

das Gericht wirklich an eine zugesagte zeitige Freiheitsstrafe<br />

gebunden sein, wenn es das Verhalten nunmehr als Mord<br />

wertet Oder sollte die Verständigung hier unwirksam sein,<br />

weil die Vereinbarung einer zeitigen Freiheitsstrafe zumindest<br />

konkludent eine unzulässige Vereinbarung über den<br />

Schuldspruch beinhaltet (§ 257c Abs. 2 S. 3 StPO). Letzteres<br />

wird man kaum annehmen können, sofern eine Verurteilung<br />

aus § 211 StGB zunächst gar nicht im Raum stand und dem-<br />

129 BT-Drs. 16/12310.<br />

130 BT-Drs. 16/11736.<br />

131 Anders der Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 16/<br />

4197 in § 243a Abs. 6 S. 3.<br />

132 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310,<br />

S. 14; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD,<br />

BT-Drs. 16/11736, S. 12. Ähnlich die Begründung zum Gesetzentwurf<br />

des Bundesrates, BT-Drs. 16/4197, S. 10: „Aber<br />

auch eine bloße Änderung der Bewertung der Sach- und<br />

Rechtslage durch das Gericht bei unveränderter Erkenntnisgrundlage<br />

muss zu einem Wegfall der Bindung an den mitgeteilten<br />

Strafrahmen führen. Von dem Gericht kann nicht<br />

erwartet werden, sehenden Auges ein aus seiner Sicht falsches<br />

Urteil zu sprechen“.<br />

133 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses,<br />

BT-Drs. 16/13095, S. 14.<br />

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536<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Reform ohne Wiederkehr – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

entsprechend auch nicht Verhandlungsgegenstand sein konnte.<br />

Zudem geht diese Erwägung jedenfalls dann fehl, wenn<br />

der vereinbarte Strafrahmen sich noch innerhalb des gesetzlichen<br />

Strafrahmens des vom Gericht nunmehr für einschlägig<br />

gehaltenen Tatbestands bewegt. Diskutabel erscheint ein<br />

Abweichen des Gerichts von der getroffenen Vereinbarung<br />

aufgrund eines extensiven Verständnisses der „rechtlich oder<br />

tatsächlich bedeutsamen Umstände“, wonach etwa vom Gericht<br />

zum Verständigungszeitpunkt noch nicht zur Kenntnis<br />

genommene Literatur und Rechtsprechung, die für die Neubewertung<br />

des Falles eine Rolle spielt, als rechtlich bedeutsame<br />

Umstände anzuerkennen wären. Auch die Existenz<br />

eines vom Gericht übersehenen Qualifikationstatbestandes als<br />

rechtlich bedeutsamen Umstand anzusehen, wäre eine zwar<br />

peinliche, aber immerhin mögliche Interpretation. Dagegen<br />

erlauben Wortlaut und Sinngehalt der Regelung es eindeutig<br />

nicht, auch die Bewertung als solche als „Umstand“ im Sinne<br />

des § 257c Abs. 4 S. 1 StPO zu interpretieren – gerade in<br />

diesem Punkt sollte ja von den Entwürfen abgewichen werden.<br />

Allerdings entfaltet die Grenzziehung zwischen Meinungsänderungen<br />

aufgrund der Kenntnisnahme von Judikaten<br />

einerseits und bloßem Nachdenken andererseits keine große<br />

Überzeugungskraft. Es ist festzuhalten: Die fast schon in<br />

letzter Minute eingeführte „Präzisierung“ 134 der Regelung<br />

aufgrund der Empfehlung des Rechtsausschusses enthält<br />

erhebliche Sprengkraft. Deutlich ist jedenfalls, dass sich<br />

insoweit die Logik der Verständigung, nämlich die Gewährung<br />

von Vertrauensschutz, durchgesetzt hat.<br />

Es ist zweifelhaft, inwiefern sich der Gesetzgeber mit der<br />

jetzigen Regelung nicht nur von den früheren Entwürfen,<br />

sondern auch von den Grundsätzen des Großen Senats für<br />

Strafsachen des BGH entfernt hat. Nach letzteren sollte eine<br />

Abweichung von der Vereinbarung zulässig sein, „wenn<br />

schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche<br />

oder rechtliche Aspekte übersehen wurden“. Es sei<br />

nämlich „unvertretbar, das Gericht bei der Urteilsfindung<br />

entgegen § 261 StPO an einen maßgeblichen Irrtum allein<br />

aufgrund des im Rahmen einer Verständigung gesetzten<br />

Vertrauenstatbestandes zu binden“ 135 . Sowohl die Begrifflichkeit<br />

(„rechtliche Aspekte“ 136 ) 137 als auch die Begründung<br />

aus der anzustrebenden Entscheidungsrichtigkeit 138 lassen<br />

134 So die irreführende, die Tragweite der Änderung verkennende<br />

Begründung in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses,<br />

BT-Drs. 16/13095, S. 14. Die Gründe, die für<br />

die Fassung des Referentenentwurfs wie auch des Regierungsentwurfs<br />

und des Entwurfs der Fraktionen der CDU/<br />

CSU und SPD maßgeblich waren, werden vom Rechtsausschuss<br />

nicht einmal erwogen.<br />

135 BGHSt (GrS) 50, 40 (50); dazu schon oben I.<br />

136 Vgl. etwa Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 23. Aufl.<br />

2004: Aspekt als „Ansicht, Gesichtspunkt“.<br />

137 Genau gegenläufig lässt sich freilich darauf hinweisen,<br />

dass die Formulierung „rechtliche Aspekte übersehen“ Bewertungsänderungen<br />

ausschließt, weil man eine Bewertung<br />

schlecht „übersehen“ kann.<br />

138 Freilich lässt sich auch hier gegenläufig mit der Zielrichtung<br />

des Großen Senats argumentieren, im Unterschied zu<br />

sich dafür anführen, dass es der Große Senat – in Einklang<br />

mit dem Referentenentwurf und den Entwürfen der Bundesregierung<br />

und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – für<br />

ein Abweichen von der Vereinbarung ausreichen lassen wollte,<br />

wenn das Gericht zu einer geänderten Bewertung kommt 139 .<br />

Im Verhältnis zur Rechtsprechung des 4. Strafsenats des<br />

BGH (und insofern in Einklang mit dem Beschluss des Großen<br />

Senats vom 3.3.2005 140 ) hat das Erfordernis der Schuldangemessenheit<br />

der Strafe allerdings eine gewisse Bestätigung<br />

erfahren. Denn der 4. Strafsenat erlaubte eine Abweichung<br />

von einer Absprache nur bei neuen Umständen 141 ,<br />

während es nach § 257c Abs. 4 S. 1 StPO einer Abweichung<br />

nicht entgegensteht, wenn die Umstände bereits zum Zeitpunkt<br />

der Vereinbarung zu Tage lagen, vom Gericht aber<br />

übersehen worden sind.<br />

Es ist abzusehen, dass gerade diese, dem Erfordernis der<br />

Schuldangemessenheit der Strafe Rechnung tragende Neuregelung,<br />

wiederum mit Blick auf das gegenläufige Ziel der<br />

Verständigung Probleme aufwirft. 142 Denn der Vertrauens-<br />

BGHSt 43, 195 keine neuen Umstände zu fordern, ohne deshalb<br />

auch die Art des Bezugspunkts der geänderten Vorstellung<br />

abweichend bestimmen zu wollen.<br />

139 Anders allerdings die Stellungnahmen des Sachverständigen<br />

Dierlamm vom 24.3.2008<br />

(www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse/a06/anhoerungen/<br />

49_Deal/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Dierlamm.pdf),<br />

S. 3 f. sowie (gleich lautend) die Stellungnahme der BRAK<br />

vom März 2009<br />

(www.bundestag.de/bundetag/ausschuesse/a06/anhoerungen/<br />

49_Deal/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Ignor.pdf), S. 3<br />

f., zur Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages<br />

am 25.3.2009, wo die im Text zitierte Formulierung des<br />

Großen Senats („rechtliche Aspekte übersehen“) ohne weiteres<br />

dahingehend interpretiert wird, dass die Rechtsprechung<br />

ein Abweichen von einer Absprache aufgrund einer bloßen<br />

Bewertungsänderung nicht zugelassen habe. Dieser Rechtsprechung<br />

zustimmend wird dann eine gesetzliche Regelung<br />

gefordert, die das Abweichen vom Übersehen „wesentlicher<br />

Umstände“ abhängig macht. Es wird hier kurzerhand so getan,<br />

als seien „Aspekte“ und „Umstände“ gleichbedeutend.<br />

Diese Gleichsetzung findet sich auch sonst, etwa bei Beulke,<br />

Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 396. Insgesamt ist<br />

festzuhalten, dass – soweit ersichtlich – die im Text aufgeworfene<br />

Frage zur Reichweite des Abweichungsrechts auf<br />

der Grundlage der Entscheidung des Großen Senats bislang<br />

eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Eine in die Einzelheiten<br />

gehende Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags<br />

sprengen.<br />

140 BGHSt (GrS) 50, 40 (50).<br />

141 BGHSt 43, 195 (210); vgl. dazu etwa Ioakimidis, in:<br />

Heghmanns/Scheffler (Hrsg.), Handbuch zum Strafverfahren,<br />

2008, VIII. Rn. 123 ff. Kritisch zu einem Abgehen von der<br />

Rechtsprechung des BGH Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187<br />

(189 f.).<br />

142 So nun schon für das neue Recht Meyer-Goßner (Fn. 97),<br />

§ 257c Rn. 26. Vgl. zur Bindungswirkung auch ders., ZRP<br />

2004, 187 (189 f.); Nehm, StV 2007, 549 (551).<br />

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537


Uwe Murmann<br />

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schutz des Angeklagten wird beträchtlich reduziert. Letztlich<br />

erlaubt jede Schludrigkeit des Gerichts bei der Aktenlektüre<br />

die Lösung von der Verständigung unter Hinweis auf übersehene<br />

Umstände. Das Risiko solcher Nachlässigkeiten wird<br />

zudem in „Abspracheverfahren“ drastisch erhöht: Während<br />

die Vorbereitung auf eine „streitige“ Verhandlung sorgfältige<br />

Aktenlektüre des Gerichts erfordert, scheint nach Auffassung<br />

mancher Richter für eine Absprache schon die Kenntnis der<br />

Anklageschrift auszureichen. 143 Mit Blick auf die Risikoverteilung<br />

zu Lasten des Angeklagten wird man annehmen müssen,<br />

dass die Pflicht zur sorgfältigen Aktenlektüre nicht nur<br />

im Interesse der Rechtspflege besteht, sondern als Ausfluss<br />

der Fürsorgepflicht des Gerichts auch gegenüber dem Angeklagten<br />

(und möglicherweise auch gegenüber durch das Geständnis<br />

belasteten Mitbeschuldigten). Der Streit um Kompensationspflichten<br />

bei Nachlässigkeiten des Gerichts ist<br />

damit vorprogrammiert. 144 Erkennt man den Vertrauensschutz<br />

als tragendes Element jeder Verständigung an, so erfolgt<br />

die Inanspruchnahme dieses Vertrauens durch ein unsorgfältig<br />

arbeitendes Gericht in einem Maße, das den berechtigten<br />

Erwartungshorizont der Beteiligten überschreitet.<br />

Die in § 257c Abs. 4 S. 3 StPO angeordnete Unverwertbarkeit<br />

des Geständnisses wird in diesem Fall als Kompensation<br />

nicht immer ausreichen. 145 Das gilt etwa dann, wenn das<br />

Geständnis weitere Beweismittel erschlossen hat, die nach<br />

überwiegender Auffassung grundsätzlich nicht im Rahmen<br />

einer „Fernwirkung“ dem Verwertungsverbot unterfallen. 146<br />

Hier kommt dann die ausnahmsweise Anerkennung einer<br />

Fernwirkung ebenso in Betracht wie eine Kompensation bei<br />

der Strafhöhe bzw. der Strafvollstreckung.<br />

zudem auch deshalb nicht berechtigt sein, weil die nunmehr<br />

gesetzlich eingeräumte Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung<br />

sogleich zum Anlass genommen werden wird, den<br />

Erledigungsdruck anzupassen. 148 Mit einem Verlassen des<br />

eingeschlagenen Holzwegs ist wohl allenfalls dann zu rechnen,<br />

wenn der politische Preis für die Prinzipienlosigkeit zu<br />

hoch wird, weil das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafrechtspflege<br />

schwindet.<br />

IV. Fazit<br />

Die nähere Betrachtung einzelner Vorschriften des neuen<br />

Gesetzes bestätigt dessen grundsätzlichen Mangel, nämlich<br />

das inkompatible Nebeneinander der überkommenen Prozessmaximen<br />

einerseits und der Verständigungsregeln andererseits,<br />

und lässt erahnen, welche Schwierigkeiten in der<br />

Rechtsanwendung drohen. Freilich liegt es in der Logik der<br />

Verständigung, dass diese Friktionen – trotz formell eröffneten<br />

Zugangs – die Revisionsgerichte allenfalls zögerlich<br />

erreichen werden. 147 Der Gesetzgeber hat den Instanzgerichten<br />

das Angebot zur Aushöhlung der Prozessmaximen bei<br />

deren gleichzeitiger verbaler Aufrechterhaltung gemacht. Die<br />

Hoffnung, dass die Instanzgerichte dieses Angebot ausschlagen,<br />

entspricht nicht den bisherigen Erfahrungen und dürfte<br />

143 Fischer, StraFo 2009, 177 (179).<br />

144 Indiskutabel erscheint dagegen die von Saliger, JuS 2006,<br />

8 (10), vorgeschlagene Lösung, bei Verschulden des Gerichts<br />

eine Bindung an die Absprache anzunehmen. Auch ein Fehler<br />

des Gerichts kann dieses nicht dazu verpflichten, ein unrichtiges<br />

Urteil zu fällen (Art. 20 Abs. 3 GG).<br />

145 Klarstellend: Diese Überlegungen bewegen sich im Rahmen<br />

der Logik von Verfahrensverständigungen. Von der<br />

Aufklärungspflicht und dem Schuldprinzip entfernen sie sich<br />

folglich.<br />

146 Überblick bei Murmann (Fn. 21), Rn. 229 ff.<br />

147 Dazu oben II.<br />

148 Vgl. B. Schmitt, GA 2001, 411 (418 f.) Auf das Einsparpotential<br />

der Verständigungsregeln weist auch Harms (Fn. 4),<br />

S. 297 hin: Für eine Verständigung bedürfe es keiner voll<br />

besetzten Strafkammern mehr, ein Einzelrichter sei ausreichend.<br />

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538<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Möglichkeiten zur Entlastung der Berufungskammern – Zugleich eine Kritik der<br />

Annahmeberufung<br />

Von Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Heinz Gössel, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a.D.,<br />

München<br />

Im ewigen Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis<br />

leiden Vorschläge aus der Praxis auch im Strafverfahrensrecht<br />

nicht selten daran, dass z.B. in einseitiger Blickverengung<br />

auf einzelne Fragestellungen die Auswirkungen solcher<br />

Vorschläge auf das gesamte Verfahrensrecht aus Gründen<br />

wirtschaftlicher Effizienz unbeachtet bleiben, wie zuletzt bei<br />

der Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit gröblich missachtenden<br />

Einführung einer im Wesentlichen regellosen, außerhalb<br />

der Verfahrensöffentlichkeit stattfindenden und verharmlosend<br />

als „Absprachen“ bezeichneten Mauschelei<br />

allein zur Vermeidung von Arbeit und Kosten, und dies nicht<br />

selten gegen die Interessen des Beschuldigten. 1 Sind derartig<br />

schwerwiegende Verstöße gegen rechtsstaatliche Verfahrensweisen<br />

glücklicherweise sehr selten, so führt aber die<br />

erwähnte Blickverengung doch häufiger dazu, dass die Auswirkungen<br />

auf andere strafverfahrensrechtliche Problemfelder<br />

gar nicht erst erkannt werden: So etwa die rechtswidrigen<br />

Kompetenzverlagerungen vom Richter auf die Polizei bei<br />

einigen Modellen des Beschleunigten Verfahrens 2 und weiter<br />

auch bei der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen<br />

Strafbefehl, bei der ungeregelt geblieben ist, ob im wiederaufgenommenen<br />

Verfahren entweder nach § 408 StPO oder<br />

nach § 411 StPO zu verfahren ist oder ob das Verfahren<br />

durch den Wiederaufnahmebeschluss nach § 370 Abs. 2 StPO<br />

in das normale Verfahren überführt wird. Gleiches dürfte<br />

auch für die mit dem Ziel der Entkriminalisierung betriebenen<br />

Abschaffung der Straftatkategorie der Übertretungen und<br />

folglich auch des Strafverfügungsverfahrens gelten; Näheres<br />

dazu unten III.<br />

In diesem Zusammenhang ist auch die so genannte Annahmeberufung<br />

(§ 313 StPO) zu nennen, die durch das Gesetz<br />

zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. I<br />

S. 50) eingeführt wurde. Leidet auch sie durchaus an einigen<br />

der soeben genannten Mängel, die Vorschlägen aus der Praxis<br />

anhaften können, so dürfte sich dieses Institut doch vor<br />

allem dadurch kennzeichnen lassen, dass dessen negative<br />

Auswirkungen, insbesondere dessen Systemwidrigkeit (vgl.<br />

dazu unten I.), mit einer äußerst geringen praktischen Bedeutung<br />

einhergehen (unten II.): Die möglichst baldige Abschaffung<br />

der Annahmeberufung dürfte sich deshalb empfehlen,<br />

wie aber auch die Einführung einer neuen Verfahrensart für<br />

Bagatelldelikte, mit der das vom Gesetzgeber mit der Einführung<br />

der Annahmeberufung verfolgte Ziel einer Steigerung<br />

der Effizienz der Strafverfolgung durch Entlastung der Landgerichte<br />

3 besser erreicht werden können dürfte (unten III.).<br />

1 Näheres dazu z.B. bei Gössel, in: Weßlau u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag, 2008, S. 495.<br />

2 Näheres dazu bei Gössel, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-<br />

Scheerer/Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 7, 26. Aufl.<br />

2009, Vor § 417 Rn. 12 ff., 22.<br />

3 BT-Drs. 12/1217, S. 38.<br />

I. Rechtliche Mängel der Annahmeberufung<br />

Die Unterscheidung zwischen der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs<br />

und dessen Begründetheit ist eine ausnahmslos geltende<br />

Regel auch des Rechtsmittelrechts: Erst die Zulässigkeit<br />

eines Rechtsmittels, von der Statthaftigkeit über die<br />

Rechtsmittelberechtigung bis hin zur Wahrung von Form und<br />

Frist, eröffnet den Weg zur Prüfung der „Erfolgsaussicht“ des<br />

jeweiligen Rechtsmittels 4 und damit einer inhaltlichen Nachprüfung<br />

dahingehend, ob die je angefochtene Entscheidung<br />

aufrechterhalten werden kann oder aber aufzuheben ist. Nun<br />

verlangt aber das Gesetz ausdrücklich als Voraussetzung der<br />

Zulässigkeit der Berufung deren Annahme (so § 313 Abs. 1<br />

S. 2 StPO), die ihrerseits voraussetzt, dass dieses Rechtsmittel<br />

„nicht offensichtlich unbegründet ist“ (§ 313 Abs. 2<br />

StPO): Damit aber hat der Gesetzgeber den grundlegenden<br />

Unterschied zwischen Zulässigkeit und Begründetheit von<br />

Rechtsmitteln aufgehoben und die Begründetheit (die Unbegründetheit<br />

sei nun offensichtlich oder nicht), zur Voraussetzung<br />

der Zulässigkeit erhoben – wenn damit zugleich der<br />

Hoffnung Ausdruck gegeben wird, „der Begriff der offensichtlichen<br />

Unbegründetheit“ sei „im Hinblick auf die zu<br />

§ 349 Abs. 2 StPO bestehende langjährige Rechtspraxis soweit<br />

konkretisiert und präzisiert, daß mit einer einheitlichen<br />

Zulassungspraxis der Berufungskammern gerechnet werden“ 5<br />

könne, so offenbart der Gesetzgeber damit ein weitgehendes<br />

Unverständnis nicht nur der für das gesamte Rechtsbehelfsrecht<br />

grundlegenden Begriffe der Zulässigkeit und der Begründetheit,<br />

sondern auch der sich daraus ergebenden Konsequenzen<br />

für das Verhältnis zwischen der Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

der Berufungsannahme in § 313 StPO und der<br />

Zulässigkeit der Berufung als Voraussetzung der Zulässigkeit<br />

einer Sprungrevision 6 (§ 335 Abs. 1 StPO). Hatte der Gesetzgeber<br />

ursprünglich diese Fragestellung durchaus gesehen und<br />

durch die ersatzlose Streichung des § 335 StPO zu lösen<br />

versucht, so hat er trotz der Einführung des § 313 StPO im<br />

Laufe des Gesetzgebungsverfahrens dennoch das Institut der<br />

Sprungrevision in § 335 StPO beibehalten, wobei indessen<br />

die Problematik des Verhältnisses beider Vorschriften zueinander<br />

übersehen 7 wurde. Damit hat der Gesetzgeber selbst<br />

die Grundlage zu jenem bekannten Streit darüber gelegt, ob<br />

die Zulässigkeit der Sprungrevision in den Fällen des § 313<br />

Abs. 1 StPO von der Annahme der Berufung nach § 313<br />

Abs. 2 StPO abhängig ist. Auch wenn dieser Streit in der<br />

Rechtsprechung unter teilweiser Zustimmung des Schrifttums<br />

inzwischen überwiegend dahingehend als entschieden gelten<br />

kann, dass § 335 Abs. 1 StPO unter „Zulässigkeit“ stets<br />

„Statthaftigkeit“ versteht und also die Zulässigkeit (Statthaf-<br />

4 Vgl. dazu BT-Drs. 12/3832, S. 41.<br />

5 BT-Drs. 12/3832, S. 41.<br />

6 Rieß, in: Albrecht u.a. (Hrsg.), Festschrift für Günther Kaiser<br />

zum 70. Geburtstag, 1998, S. 1461 (1476 f.).<br />

7 Meyer-Goßner, NStZ 1998, 19 (20).<br />

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539


Karl Heinz Gössel<br />

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tigkeit) der Sprungrevision die Annahme der Berufung nicht<br />

voraussetzt, so schwelt dieser Streit 8 doch weiter, der durch<br />

den Verzicht entweder auf die Annahmeberufung (besser)<br />

oder aber auf die Sprungrevision leicht zu vermeiden gewesen<br />

wäre, hätte der Gesetzgeber ihn nur bedacht.<br />

Neben dieser systemwidrigen „Vermengung von Zulässigkeit<br />

und Begründetheit“ 9 ist eine weitere zu beklagen: Die<br />

Verbindung der dem Rechtsmittel der Revision eigenen<br />

Überprüfung der angefochtenen Entscheidung mit der auf<br />

eine völlige Neuverhandlung angelegten Berufung, die auf<br />

eine Überprüfung der mit diesem Rechtsmittel angelegten<br />

Entscheidung auf irgendwelche Verstöße gegen materiellrechtliche<br />

oder prozessuale Vorschriften gerade verzichtet.<br />

Während Prüfungsgrundlagen der Revision „ausschließlich<br />

die Urteilsgründe und die mit der Verfahrensrüge geltend<br />

gemachten und mit Tatsachen belegten Verfahrensumstände“<br />

10 bilden, wird der Gegenstand des Berufungsverfahrens<br />

ausschließlich durch die Anklage in der Form des Eröffnungsbeschlusses<br />

bestimmt und begrenzt. 11 Die von § 313<br />

Abs. 2 StPO verlangte inhaltliche Überprüfung des Rechtsmittels<br />

der Berufung auf seine „offensichtliche Unbegründetheit“<br />

im schriftlichen Beschlussverfahren (§ 322a StPO) setzt<br />

nun aber eine inhaltliche Überprüfung der angefochtenen<br />

Entscheidung auf materiellrechtliche wie verfahrensrechtliche<br />

Fehler voraus, die diesem „Beschlussverfahren strukturell<br />

einen anderen Charakter als das normale Berufungsverfahren“<br />

12 verleiht; auch hier lässt die amtliche Begründung 13<br />

nicht erkennen, dass der Gesetzgeber diese Problematik bedacht<br />

hätte. Dieser schon deshalb evidente „legislatorische<br />

Mißgriff“ 14 führt zudem zu einer erheblichen Beschränkung<br />

der mit dem Rechtsmittel verfolgten Rechtsschutzinteressen<br />

des Berufungsführers. Über die Annahme der Berufung nach<br />

§ 313 Abs. 2 StPO entscheidet nach § 76 Abs. 1 GVG allein<br />

der Vorsitzende der Kleinen Strafkammer durch Beschluss<br />

(§ 322a S. 2 StPO) außerhalb der Hauptverhandlung 15 im<br />

Rahmen einer unsicheren Prognose, der zwar einer Begründung<br />

bedarf (argumentum e contrario; § 34 StPO), die aber<br />

im Hinblick auf die in § 322a S. 2 StPO ausdrücklich angeordnete<br />

Unanfechtbarkeit im Wesentlichen ohne Bedeutung<br />

ist und allenfalls einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung<br />

auf die Verfassungsbeschwerde des Betroffenen standhalten<br />

muss – auf die willkürlicher Entscheidung entgegenstehenden<br />

Regeln des § 349 Abs. 2 StPO, der dem § 313 StPO als Vorbild<br />

dient, wird damit verzichtet: Weder ist ein dahingehender<br />

Antrag der Staatsanwaltschaft Verwerfungsvoraussetzung<br />

noch bedarf es einer berufsrichterlichen Kollegialentscheidung<br />

auf den sicheren Grundlagen des mit der Revision ange-<br />

8 Vgl. zu diesem Streit z.B. Kuckein, in: Hannich (Hrsg.),<br />

Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl.<br />

2008, § 335 Rn. 16<br />

9 So treffend Rieß (Fn. 6), S. 1465.<br />

10 Rieß (Fn. 6), S. 1466.<br />

11 Gössel, JR 1982, 270; vgl. dazu schon RGSt 62, 130 (132).<br />

12 Fezer, NStZ 1995, 265 (267).<br />

13 BT-Drs. 12/3832, S. 41.<br />

14 So zutreffend Rieß (Fn. 6), S. 1467.<br />

15 Gössel (Fn. 2), Bd. 7, 25. Aufl. 2003, § 322a Rn. 8.<br />

fochtenen Urteils oder der formgerecht erhobenen Verfahrensrügen,<br />

wie in § 122 Abs. 1 GVG für die Verwerfung<br />

einer Revision 16 als offensichtlich unbegründet vorgesehen.<br />

II. Die praktische Bedeutungslosigkeit der Annahmeberufung<br />

Neben den soeben unter I. erwähnten schwerwiegenden Mängeln<br />

der Annahmeberufung spricht für deren Abschaffung<br />

überdies, dass das vom Gesetzgeber mit der Einführung dieses<br />

Rechtsinstituts verfolgte Ziel nicht erreicht wird. Erstrebt<br />

wurde „eine Entlastung der Strafjustiz […] im Hinblick auf<br />

die Notwendigkeit, rasch personelle Kapazitäten“ 17 zum<br />

„Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Ländern“<br />

18 freizusetzen. Dass diese im Rechtsmittelzug zu erreichende<br />

Entlastung der Landgerichte ausgeblieben ist, konnte<br />

schon den diesbezüglichen statistischen Daten der Rechtspflegestatistik<br />

für die Jahre 1994 bis 2000 entnommen 19 werden,<br />

zeigt sich indessen unmittelbar deutlich in der amtlichen<br />

Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamtes 20 seit<br />

dem Jahre 2002, welche die genauen Zahlen der nicht angenommenen<br />

und durch Beschluss nach §§ 313 Abs. 2, 322a<br />

StPO verworfenen Annahmeberufungen ausweist.<br />

Allein schon die Zahl der erledigten und nach § 313 StPO<br />

eingeleiteten Berufungen und deren prozentualer Anteil an<br />

allen erledigten Berufungsverfahren zeigt die geringe praktische<br />

Bedeutung der Annahmeberufung auf: Zunächst von<br />

544 (0,99%) im Jahre 2002 kontinuierlich auf 355 (0,63%)<br />

im Jahre 2005 absinkend, ist sie nunmehr ebenso kontinuierlich<br />

bis zum Jahre 2008 wieder auf 758 (1,39%) angewachsen.<br />

Trotz dieser in den letzten Jahren zunehmenden Zahlen<br />

dürfte dies kaum dazu berechtigen, die Annahmeberufung für<br />

eine bedeutsame praktische Entlastung zu halten: Durchschnittlich<br />

wird jedes der im Jahre 2008 bestehenden 116<br />

Landgerichte 21 nur um etwa 6,5 Verfahren entlastet. Selbst<br />

wenn man darin aber einen Vorteil der Annahmeberufung<br />

erblicken wollte, bleibt doch zu berücksichtigen, dass es<br />

allein die nichtangenommenen und sogleich durch Beschluss<br />

zu verwerfenden Annahmeberufungen sind, die zu einer<br />

Entlastung führen können – und daran fehlt es nach den der<br />

Tabelle 2 (unten S. 541) zu entnehmenden Daten über die<br />

tatsächlich nach §§ 313 Abs. 2; 322a StPO verworfenen Berufungen.<br />

Seit dem Jahre 2003 (nach einem zunächst geringfügigen<br />

Anstieg vom Jahre 2002 auf das Jahr 2003) sind die<br />

Zahlen der nach § 313 Abs. 2 StPO verworfenen Berufungen<br />

von 537 (0,96% aller erledigten Berufungsverfahren) kontinuierlich<br />

auf 375 (0,69%) im Jahre 2008 abgesunken: Im<br />

16 Gössel (Fn. 15), § 313 Rn. 2; Rieß (Fn. 6), S. 1467.<br />

17 BT-Drs. 12/1217, S. 37.<br />

18 BT-Drs. 12/1217, S. 19.<br />

19 Vgl. dazu Gössel (Fn. 15), § 313 Rn. 3 f.<br />

20 Fachserie 10, Reihe 2.3 Rechtspflege Strafgerichte, Tabellenteil<br />

5.1 und 5.2 (vor dem Landgericht in der Berufungsinstanz<br />

erledigte Verfahren).<br />

21 Rechtpflegestatistik des Statistischen Bundesamtes, Fachserie<br />

10, Reihe 1, Ausgewählte Zahlen für die Rechtspflege<br />

2008, Tabellenteil 1, S. 9. Angaben über die Zahl der Kleinen<br />

(Berufungs-)Strafkammern weist die Statistik nicht aus.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

540<br />

<strong>ZIS</strong> 10/2009


Möglichkeiten zur Entlastung der Berufungskammern – Zugleich eine Kritik der Annahmeberufung<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Durchschnitt wird damit jedes der im Jahre 2008 bestehenden<br />

116 Landgerichte 22 durch etwa drei Verfahren „entlastet“.<br />

Dass die Zahl der entlastenden Verwerfungen nach § 313<br />

Abs. 2 StPO trotz einer geringfügig steigenden Zahl der Annahmeberufungen<br />

zurückgegangen ist, dürfte seine Erklärung<br />

in den leicht steigenden Zahlen der Erledigung der Berufungsverfahren<br />

durch Urteil (von 49,10% im Jahre 2002 auf 50,43%<br />

im Jahre 2008) und durch Zurücknahme der Berufung (von<br />

35,81% im Jahre 2002 auf 36,54% im Jahre 2008) finden.<br />

Tab. 1: Erledigte Berufungen im Offizialverfahren<br />

Jahr Sa. § 313 Abs. 2 StPO: n %<br />

2002 54.976 544 0,99<br />

2003 56.159 523 0,93<br />

2004 56.980 439 0,77<br />

2005 56.708 355 0,63<br />

2006 56.380 486 0,86<br />

2007 54.102 683 1,26<br />

2008 54.544 758 1,39<br />

2002-08 389.849 3.788 0,97<br />

Tab. 2: Art der Erledigung der Berufungen im Offizialverfahren<br />

durch % von durch % von durch Verwerfung % v.<br />

Jahr Summa: Urteil: n Sa. Zurücknahme: n Sa. nach § 313 Abs. 2 Sa.<br />

2002 54.976 26.995 49,1 19.688 35,81 501 0,91<br />

2003 56.159 28.042 49,93 19.642 34,98 537 0,96<br />

2004 56.980 28.476 49,98 19.743 34,65 536 0,94<br />

2005 56.708 28.310 49,92 19.686 34,71 473 0,83<br />

2006 56.380 28.067 49,78 19.822 35,16 490 0,87<br />

2007 54.102 27.164 50,21 19.005 35,13 400 0,74<br />

2008 54.544 27.509 50,43 19.931 36,54 375 0,69<br />

2002-08 389849 194563 49,91 137517 35,27 3312 0,85<br />

III. Entlastung durch Einführung eines Verfahrens für<br />

Bagatelldelikte<br />

Mit der Annahmeberufung hat der Gesetzgeber ein mit der<br />

Systematik der strafprozessualen Rechtsbehelfsregelungen<br />

unvereinbares Institut geschaffen, welches zudem das Recht<br />

des Berufungsführers auf eine angemessene Kontrolle des ihn<br />

belastenden Urteils durch eine neue Hauptverhandlung unvertretbar<br />

beeinträchtigt – eine Kontrolle, die auch durch<br />

§ 33a StPO nicht ausreichend gewährleistet ist und durch eine<br />

unanfechtbare Entscheidung eines einzelnen Richters, de<br />

facto ohne (bis auf die verfassungsgerichtliche) Willkürkontrolle,<br />

verhindert 23 wird. Dies allein schon sollte den Gesetzgeber<br />

zur alsbaldigen Abschaffung der Annahmeberufung<br />

veranlassen, dies umso mehr, als der mit der Einführung<br />

dieses Instituts erstrebte Entlastungseffekt ausgeblieben ist.<br />

Statt dessen sollte versucht werden, das richtige Ziel einer<br />

Entlastung der Rechtsmittelgerichte auf eine mit der Systematik<br />

des deutschen Strafverfahrensrechts vereinbare Weise<br />

unter Verzicht auf unvertretbare Beeinträchtigungen der<br />

Rechtsmittelführer zu erreichen: Durch die Einführung einer<br />

neuen besonderen Verfahrensart für Bagatelldelikte, die hier<br />

nur in groben Strichen skizziert 24 werden kann.<br />

22 S. Fn. 21.<br />

23 Vgl. dazu Rieß (Fn. 6), S. 1473.<br />

24 Vgl. dazu schon meinen Vorschlag in meinem Gutachten C<br />

zum 60. DJT 1994 in Münster, S. C 37 ff.<br />

Zunächst sei daran erinnert, dass die mit dem Wegfall der<br />

Straftatkategorie der „Übertretungen“ beabsichtigte Entkriminalisierung<br />

auch in ihr Gegenteil verkehrt wurde: Wenn<br />

auch viele dieser Übertretungen als Ordnungswidrigkeiten zu<br />

bloßem Ordnungsrecht herabgestuft wurden, wurde aber doch<br />

ein nicht unerheblicher Teil zu Vergehen heraufgestuft, wie<br />

z.B. der Mundraub (§ 370 Abs. 1 Nr. 5 a.F. StGB). Damit<br />

wurde zugleich das für die Bagatellkriminalität der Übertretungen<br />

vorgesehene vereinfachte Strafverfügungsverfahren<br />

gegenstandslos, in dem der Strafrichter ohne notwendige<br />

Beteiligung der Staatsanwaltschaft und ohne Hauptverhandlung<br />

u.a. eine Strafe festsetzen, das Verfahren einstellen oder<br />

auch durch Strafbefehl entscheiden konnte (§ 413 a.F. StPO).<br />

Mit dem Wegfall der Übertretungen entstand nicht nur eine<br />

zu große Lücke zwischen der niedrigsten Straftatkategorie<br />

des Vergehens und bloßem Ordnungsunrecht, belastete vielmehr<br />

die Justiz durch den Wegfall des vereinfachten Strafverfügungsverfahrens<br />

damit, auch Bagatellstraftaten grundsätzlich<br />

im normalen Strafverfahren zu verfolgen, wenn auch<br />

die Möglichkeit einer Einstellung aus Opportunitätsgründen<br />

erhalten blieb und auch die Verfolgung im Strafbefehlsverfahren<br />

möglich wurde. Gleichwohl dürfte das alte Strafverfügungsverfahren,<br />

wenn auch seine Wiedereinführung nicht<br />

empfehlenswert erscheint, zur Ausfüllung der erwähnten<br />

Lücke zur Einführung eines modernen Verfahrens zur Behandlung<br />

der Bagatellkriminalität anregen.<br />

Zur Einführung eines derartigen Verfahrens wird zunächst<br />

eine materiellrechtliche Bestimmung von kriminellem Bagatellunrecht<br />

als einer dritten Straftatkategorie (§ 12 StGB)<br />

notwendig sein, die formal an eine Höchststrafdrohung von<br />

bis zu etwa 30, höchstens aber 90 Tagessätzen Geldstrafe<br />

(wegen der Grenze des § 32 Abs. 2 Nr. 5 lit. a BZRG) anknüpfen<br />

könnte, die inhaltlich von Art, Ausmaß und Intensität der<br />

jeweiligen Rechtsgutsbeeinträchtigung abhängig gemacht<br />

werden könnte, z.B. also etwa bei Straftaten gegen materielle<br />

Rechtsgüter von einer Schadenshöhe von etwa 50 €.<br />

Verfahrensrechtlich könnten solche Straftaten aufgrund<br />

einer Hauptverhandlung mit einer Strafverfügung abgeschlossen<br />

werden, die mit ausdrücklicher Zustimmung des<br />

Beschuldigten nach dessen richterlicher Anhörung auch im<br />

schriftlichen Verfahren als Beschluss ergehen kann. Gegen<br />

diese Strafverfügung sollte allein, dem Vorbild der §§ 79 ff.<br />

OWiG entsprechend, die Rechtsbeschwerde zum Strafsenat<br />

am Oberlandesgericht statthaft sein, wodurch eine Entlastung<br />

der Landgerichte erreicht werden und dennoch deshalb keine<br />

Mehrbelastung der Strafsenate entstehen dürfte, weil diese<br />

schon heute mit Revisionen gegen Berufungsurteile auch in<br />

Bagatellsachen ebenso befasst sind wie mit entsprechenden<br />

Sprungrevisionen gegen amtsgerichtliche Entscheidungen.<br />

§§ 410 Abs. 3 und 373a StPO sollten entsprechend anwendbar<br />

sein. Endlich sollte dem Bagatellcharakter dieser Straftaten<br />

auch registerrechtlich eine gegenüber § 46 BZRG verkürzte<br />

Tilgungsfrist von zwei Jahren Rechnung getragen<br />

werden – entgegen § 45 Abs. 2 BZRG mit realer Tilgung.<br />

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541


Die gescheiterte Reform des reformierten Strafprozesses<br />

Liberale Prozessrechtslehre zwischen Paulskirche und Reichsgründung*<br />

Von Privatdozent Dr. Arnd Koch, Augsburg<br />

I. Einführung<br />

Im Dezember 1918, wenige Monate vor seinem Tod, befasste<br />

sich Franz v. Liszt mit den Folgen der November-Revolution<br />

für das Strafrecht und Strafverfahrensrecht. Der Moment für<br />

eine „folgerichtige Durchführung des Anklageprozesses“ sei<br />

nunmehr gekommen, „die Zeit der Kompromisse vorüber“.<br />

Überall, so v. Liszt weiter, sei „mit den Resten des inquisitorischen<br />

Prinzips aufzuräumen“. 1<br />

v. Liszt steht mit seinen Forderungen in einer Traditionslinie<br />

zu Autoren, welche die vor 130 Jahren in Kraft getretene<br />

Reichsstrafprozessordnung als unvollkommenes, auf halbem<br />

Wege stehen gebliebenes Reformwerk betrachteten. 2 Entgegen<br />

einem verbreiteten Missverständnis wurde der Inquisitionsprozess<br />

nicht durch den reformierten Strafprozess abgelöst.<br />

3 Das Ergebnis der Verfahrensreformen des 19. Jahrhunderts<br />

lässt sich vielmehr, so Ignor, als „reformierter Inquisitionsprozess“<br />

charakterisieren. 4<br />

Der folgende Beitrag skizziert Entstehung, Grundstruktur<br />

und Alternativen dieses bis in die Gegenwart gültigen Verfahrensmodells<br />

(unten I.). Er erinnert an die strafprozessuale<br />

Reformdiskussion der Jahrzehnte zwischen Paulskirche und<br />

Reichsgründung (unten II.). Hierbei wird deutlich, dass sich<br />

liberale Prozessualisten wie Julius Glaser 5 , Rudolf v. Gneist 6 ,<br />

Carl Joseph Anton Mittermaier 7 oder Heinrich Albert Zacha-<br />

* Ich danke meiner Mitarbeiterin, Frau cand. iur. Sarah<br />

Schmitz, für ihre wertvolle Unterstützung bei der Fertigstellung<br />

dieses Beitrages.<br />

1 Sämtliche Zitate in v. Liszt, JW 1918, 786. Vgl. auch ders.,<br />

Die Reform des Strafverfahrens, 1906, S. 36: „Dieses stete<br />

Zurückgreifen auf die Protokolle, dieses Kleben an den Ergebnissen<br />

des Vorverfahrens ist der Krebsschaden unserer<br />

heutigen Hauptverhandlung“; hierzu und zu weiteren Stimmen<br />

unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges Herrmann,<br />

Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach<br />

dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens,<br />

1971, S. 83 ff.<br />

2 Herrmann (Fn. 1), S. 60 ff., 72 ff.<br />

3 Missverständlich etwa Rüping/Jerouschek, Grundriss der<br />

Strafrechtsgeschichte, 5. Aufl. 2007, Rn. 243.<br />

4 Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-<br />

1846, 2002, S. 16; auch Vormbaum, Einführung in die moderne<br />

Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 92.<br />

5 Zu Julius Glaser (1831-1885): Kleinheyer/Schröder, Deutsche<br />

und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten,<br />

5. Aufl. 2008, S. 499.<br />

6 Zu Rudolf v. Gneist (1816-1895): Hahn, Rudolf von Gneist,<br />

1995; ders. (Hrsg.), Briefwechsel Karl Josef Anton Mittermaier<br />

– Rudolf von Gneist, 2000; Kleinheyer/Schröder<br />

(Fn. 5), S. 161 ff.<br />

7 Zu Carl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867): Best/Weege,<br />

Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter<br />

Nationalversammlung 1848/49, 1998, S. 240 f.; Engeriae<br />

8 nicht als Ahnherren unseres heutigen Strafverfahrens<br />

vereinnahmen lassen; vielmehr zeigten sie in aller Deutlichkeit<br />

die Gebrechen auf, an denen der deutsche Strafprozess<br />

bis heute laboriert. 9<br />

II. Die Etablierung des sog. reformierten Strafprozesses<br />

nach 1848<br />

1. Grundstruktur des reformierten Strafprozesses<br />

Die Ereignisse des Jahres 1848 gaben den Anstoß für eine<br />

grundlegende, aus vormärzlicher Perspektive geradezu „revolutionäre“<br />

Umwälzung des Strafverfahrensrechts. 10 Waren<br />

zuvor sämtliche Versuche einer umfassenden Reform gescheitert,<br />

erließen die deutschen Partikularstaaten nunmehr in<br />

rascher Abfolge provisorische Einführungsgesetze oder vollständige<br />

Strafprozessordnungen, die einen öffentlich-mündlichen<br />

Anklageprozess sowie zumeist das Geschworenengericht<br />

fest schrieben. 11 In Bayern und Preußen gelang es trotz<br />

umfassender Vorarbeiten nicht, ein landeseinheitliches Prozessrecht<br />

zu verabschieden. Während in den dortigen linksrheinischen<br />

Territorien weiterhin der Code d´Instruction<br />

hausen, in: Ders./Kohnle (Hrsg.), Gelehrte in der Revolution<br />

– Heidelberger Abgeordnete in der deutschen Nationalversammlung<br />

1848/49, 1998, S. 93 ff.; Hettinger, ZRG GA 107<br />

(1990), 433; Koch, ZNR 22 (2000), 167; Küper (Hrsg.), Carl<br />

Joseph Anton Mittermaier, 1988; Moritz/K.-P. Schroeder<br />

(Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, 2009; K.-P. Schroeder,<br />

JA 2009, 433.<br />

8 Zu Heinrich Albert Zachariae (1806-1875): Bandemer,<br />

Heinrich Albert Zachariae, 1985; Best/Weege (Fn. 7), S. 369;<br />

Kleinheyer/Schröder (Fn. 5), S. 545.<br />

9 Zur Kritik, auch unter Einbeziehung historischer Aspekte,<br />

Schünemann, ZStW 114 (2002), 1; ders., in: Schüler-Springorum<br />

(Hrsg.), Festschrift für Hisao Kato, 2008, S. 49.<br />

10 Zur Reformdiskussion im Vormärz umfassend Ignor<br />

(Fn. 4), S. 231 ff.; zu den strafprozessualen Bestimmungen in<br />

der Frankfurter Reichsverfassung Laufs, Recht und Gericht<br />

im Werk der Paulskirche, 1978, S. 29 ff.; Limbach, Das<br />

Strafrecht der Paulskirchenverfassung, 1995, S. 37 ff.;<br />

Urban, Die Stellung der Paulskirche zu Gerichtsverfassung<br />

und Strafverfahren, 1946.<br />

11 Detaillierte Nachweise zur Partikulargesetzgebung sowie<br />

zur zeitgenössischen Literatur bei Binding, Grundriß des<br />

Strafproceßrechts, 1881, S. 15 und Glaser, in: v. Holtzendorff<br />

(Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafprozessrechts,<br />

Bd. 1, 1879, S. 69 ff. Die Gesetzgebungen sind gesammelt<br />

bei Haeberlin, Sammlung der neuen deutschen Strafprocessordnungen,<br />

1852 und Sundelin, Sammlung der neuen deutschen<br />

Gesetze über Gerichtsverfassung und Strafverfahren,<br />

1861. Einzig in Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, Mecklenburg-Strelitz<br />

und Mecklenburg-Schwerin blieb der gemeinrechtliche<br />

Inquisitionsprozess bis zum Inkrafttreten der<br />

Reichsstrafprozessordnung in Geltung.<br />

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Die gescheiterte Reform des reformierten Strafprozesses<br />

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Criminelle Anwendung fand, blieben in den übrigen Landesteilen<br />

die unmittelbar nach 1848 erlassenen Einführungsgesetze<br />

bis 1879 die maßgebliche Rechtsgrundlage. 12<br />

Trotz der Vielzahl der zwischen 1848 und 1869 erlassenen<br />

Verfahrensgesetze entstand, ungeachtet aller Divergenzen<br />

in Einzelfragen, ein gemeinsamer Grundtyp des reformierten<br />

deutschen Strafprozesses; die Rechtseinheit auf dem<br />

Gebiet des Strafverfahrens überdauerte insofern den Wegfall<br />

des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses. Die Gesetzgeber<br />

rezipierten das aus dem linksrheinischen Deutschland<br />

vertraute, zudem kodifizierte und wissenschaftlich bearbeitete<br />

französisch-rheinische Prozessrecht; nicht ernsthaft in<br />

Erwägung gezogen wurde hingegen die Etablierung eines<br />

kontradiktorischen Verhandlungsmodells nach englischem<br />

Vorbild. 13 Das Ergebnis war im Urteil der Zeitgenossen ein<br />

Verfahren, das mit der „accusatorischen Form eine öffentlich<br />

mündliche Hauptverhandlung und die Einrichtung der<br />

Schwurgerichte [verband]“ 14 . Als „akkusatorisch“ galt der<br />

reformierte Prozess, weil die Anklageerhebung durch ein<br />

besonderes Organ, die Staatsanwaltschaft, erfolgte. Die Pflicht<br />

des Richters, „alle seine Kräfte aufzubieten“, um die materielle<br />

Wahrheit unabhängig vom Parteivorbringen zu ermitteln,<br />

blieb unangetastet. 15 Entsprechend akzentuierte das<br />

Schrifttum die Kontinuität zum gemeinrechtlichen Prozess<br />

und erblickte im Untersuchungsprinzip die fortgeltende<br />

Grundmaxime des Strafverfahrens; lediglich „Ausartungen“,<br />

wie die Herabwürdigung des Angeklagten zum Gegenstand<br />

zwangsweiser Untersuchung, seien durch die Reformen beseitigt<br />

worden. 16 Ausnahmslos normierten die neuen Verfahrensgesetze<br />

die Prinzipien der Öffentlichkeit und Mündlichkeit.<br />

Die Gerichtstüren standen grundsätzlich allen Erwach-<br />

12 Für Preußen: „Verordnung vom 3. Januar 1849 über die<br />

Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit<br />

Geschworenen in Untersuchungssachen“ (bei Haeberlin<br />

[Fn. 11] S. 183 ff.), modifiziert durch das „Gesetz vom<br />

3. Mai 1852 betreffend die Zusätze zu der Verordnung vom<br />

3. Januar 1849“ (ebenda, S. 232 ff.); für Bayern: „Gesetz<br />

vom 10. November 1848 die Abänderung des zweiten Theiles<br />

des Strafgesetzbuches vom Jahre 1813 betreffend. Gesetz<br />

über die Schwurgerichte“ (ebenda, S. 233 ff.). Die Weiterarbeit<br />

an einem 1870 vorgelegten bayerischen Reformentwurf<br />

wurde aufgrund der sich anbahnenden Rechtsvereinheitlichung<br />

in Deutschland eingestellt.<br />

13 Zu den Gründen Vormbaum (Fn. 4), S. 89; Wohlers, Entstehung<br />

und Funktion der Staatsanwaltschaft, 1994, S. 132 ff.<br />

14 Stemann, GS 5 (1853), 211.<br />

15 Bayern 1848, Art. 141; vgl. Küper, Die Richteridee der<br />

Strafprozessordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen,<br />

1967, S. 195 ff.<br />

16 Hinsichtlich des mit „Anklage-Prozess“ überschriebenen<br />

§ 1 der preußischen VO vom 3. Januar 1849: Stenglein, Darstellung<br />

des Preussischen Strafverfahrens, 1858, S. 9 ff.;<br />

v. Tippelskirch, GA 2 (1854), 27; weitere Nachweise zum<br />

„Inquisitionsprozess in akkusatorischer Form“ Küper (Fn. 7),<br />

S. 195 ff. sowie Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und<br />

Prozessstruktur, 2008, S. 111 ff.<br />

senen offen; den im Vormärz vieldiskutierten Ausschluss von<br />

Frauen kannte allein die österreichische Strafprozessordnung<br />

von 1853. 17 In den gemeinsam mit der öffentlich-mündlichen<br />

Hauptverhandlung eingeführten Schwurgerichten hatten die<br />

Geschworenen aufgrund freier Beweiswürdigung über die<br />

ihnen vom Gerichtspräsidenten vorgelegten Fragen zu befinden.<br />

Die Befugnis des Berufsrichters, „nach seiner freien, aus<br />

dem Inbegriffe der vor ihm erfolgten Verhandlung geschöpften<br />

Überzeugung zu entscheiden“ blieb dagegen grundsätzlich<br />

auf Gerichte unterer und mittlerer Ordnung beschränkt. 18<br />

Die Verfahrensreform ließ das Vorverfahren weitgehend<br />

unberührt; das neue öffentlich-mündliche Hauptverfahren<br />

wurde mit diesem verbunden, „wie man einem alten Gebäude<br />

ein neues Stockwerk aufsetzt“ 19 . Die preußische und bayerische<br />

Gesetzgebung erklärten insofern die grundsätzliche<br />

Fortgeltung der Criminalordnung von 1805 bzw. des Strafgesetzbuchs<br />

von 1813. 20 Die Untersuchungshandlungen fanden<br />

weiterhin unter Ausschluss des Verdächtigen und der Öffentlichkeit<br />

statt. Obwohl die neuen Verfahrensgesetze körperlichen<br />

Zwang, Drohungen und Versprechungen untersagten,<br />

blieb es das Ziel des richterlichen Verhörs, den auf sich allein<br />

gestellten Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen.<br />

Entsprechend dem Inquisiten des gemeinen Strafverfahrens<br />

stand dem Verdächtigen des reformierten Prozesses kein<br />

Schweigerecht zu. Der Untersuchungsrichter hatte ihn zu<br />

Beginn des Verhörs zu ermahnen, „bestimmt, deutlich und<br />

der Wahrheit gemäß“ zu antworten. 21 Verweigerte er die<br />

Mitwirkung, so waren ihm die nachteiligen Folgen seines<br />

Verhaltens vor Augen zu führen. Als weiteres Druckmittel<br />

17 Sachliche Einschränkungen bestanden neben zu erwartenden<br />

„Verletzungen des Schamgefühls“ für Geldfälschungsund<br />

Münzdelikte, bei denen die Wirkung der Öffentlichkeit<br />

als „Schule des Verbrechens“ Wirklichkeit zu werden drohte.<br />

Nach Obsiegen der Reaktion ermöglichte zudem in zahlreichen<br />

Verfahrensgesetzen eine vermeintliche Gefahr für die<br />

„öffentliche Sicherheit und Ordnung“ bzw. „sonstige Interessen<br />

des Staates“ den Öffentlichkeitsausschluss bei politischen<br />

Verbrechen. Zu den partikularrechtlichen Beschränkungen<br />

Alber, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren,<br />

1974, S. 153 f.; Zachariae, Handbuch des deutschen<br />

Strafprocesses, Bd. 1, 1861, S. 60 ff.<br />

18 Preußen, VO 1849, § 22; nahezu wortgleich für Geschworene<br />

§ 110; Bayern 1848, Art. 323 i.V.m. Art. 171. Nur in<br />

den wenigen Staaten, die – wie Sachsen-Altenburg, Sachsen<br />

und Lübeck – die öffentlich-mündliche Hauptverhandlung<br />

eingeführt hatten, ohne der Forderung nach Schwurgerichten<br />

nachzugeben, wurde das bis in die 1840er Jahre hinein Undenkbare<br />

Wirklichkeit. Die Entscheidung über Leben und<br />

Tod des Angeklagten unterstand der freien Beweiswürdigung<br />

beamteter Richter.<br />

19 Glaser (Fn. 11), S. 166.<br />

20 Bayern 1848, Art. 30; Preußen VO 1849, § 43.<br />

21 So z.B. Bayern 1848, Art. 36; ähnlich Sachsen 1855, Art.<br />

165; Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd.<br />

2, 1868, S. 238, bezeichnete dies als „moralische Einwirkungen“<br />

zur Geständniserlangung.<br />

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gegen beharrlich schweigende oder Gebrechen vortäuschende<br />

Verdächtige gestatteten vereinzelte Verfahrensgesetze die<br />

Anordnung von Untersuchungshaft bzw. deren Schärfung<br />

durch das Setzen auf Wasser und Brot. 22 Ein Recht auf formelle<br />

Verteidigung bestand während des Vorverfahrens nicht;<br />

erst nach dessen Abschluss bzw. nach Erhebung der Anklage<br />

besaß selbst der in Untersuchungshaft befindliche Beschuldigte<br />

die Möglichkeit, sich eines Verteidigers zu bedienen. 23<br />

Die im Vorverfahren bestehenden Verteidigungsmöglichkeiten<br />

blieben somit hinter denen des gemeinen Strafverfahrens<br />

zurück, in welchem insbesondere die defensio zur Abwendung<br />

der Spezialinquisition sowie zur Verhinderung bzw.<br />

Abmilderung der Tortur herausragende Bedeutung erlangt<br />

hatte. 24 Eine abweichende Konzeption verfolgte allein die<br />

braunschweigische Strafprozessordnung von 1850, die nicht<br />

nur mit Blick auf die Verteidigung eine Sonderstellung unter<br />

den nach 1848 erlassenen Verfahrensgesetzen einnahm.<br />

2. „Der Geist des Anklageprozesses“: Die braunschweigische<br />

Strafprozessordnung<br />

Während die übrigen deutschen Staaten glaubten, dem Anklageprinzip<br />

durch die Einführung der Staatsanwaltschaft<br />

Genüge getan zu haben, leitete allein die braunschweigische<br />

Strafprozessordnung aus diesem Grundsatz weitreichende<br />

Beschuldigtenrechte ab. Der mehrfach beschworene „Geist<br />

des Anklageprozesses“ gebiete es, den Beschuldigten als<br />

„Partei, mithin nicht als Objekt, sondern als Rechtssubject<br />

mit wesentlich gleichen processualen Rechten und Pflichten“<br />

zu betrachten. 25 Auswirkungen hatte das hierdurch ausgesprochene<br />

Gebot der „Waffengleichheit“ zwischen Anklage<br />

und Verteidigung vor allem für das Vorverfahren. So gestattete<br />

§ 7 BrschwStPO dem Beschuldigten, sich in jedem Verfahrensstadium<br />

eines Verteidigers zu bedienen und mit diesem<br />

zu den Verhören zu erscheinen. 26 Zudem gewährte § 8<br />

22 Sachsen 1855, Art. 171. Im gemeinen Prozess folgte auf<br />

beharrliches Schweigen des Inquisiten die Anordnung der<br />

Tortur „ad extorquendam responsionem“.<br />

23 Bayern 1848, Art. 118; Preußen VO 1849, § 16; Gesetzesübersicht<br />

bei Zachariae (Fn. 17), S. 280, Fn. 14 und Krattinger,<br />

Die Strafverteidigung im Vorverfahren, 1964, S. 36 ff.<br />

24 Zu den Verteidigungsmöglichkeiten im gemeinrechtlichen<br />

Verfahren Falk, ZRG GA 117 (2000), 395 (406 ff.); Ignor<br />

(Fn. 4), S. 110 ff.; Koch, in: Steinberg (Hrsg.), Festschrift für<br />

Hinrich Rüping zum 65. Geburtstag, 2008, S. 395. Ohne<br />

Beistand blieb der Inquisit jedoch während des „artikulierten<br />

Verhörs“ im Rahmen der Spezialinquisition – „factum inquisitus<br />

scit, non advocatus“, so Brunnemann, Tractatus Juridicus<br />

de Inquisitionis Processu, 1714, Membrum I, Cap. V, n.<br />

73.<br />

25 Plenum des Herzoglichen Obergerichts zu Wolfenbüttel,<br />

Die Principien des Braunschweigischen Strafprocesses, 1872,<br />

S. 21; zum „Geist des Anklageprozesses“ Degener, Die größeren<br />

Justizorganisationsgesetze für das Herzogthum Braunschweig<br />

aus den Jahren 1849 und 1850, Bd. 2, 1850, S. 47 f.<br />

26 Vgl. dagegen etwa Bayern 1848, Art. 118, wonach der<br />

Beschuldigte nach Anklageerhebung „mit dem Rechte, sich<br />

BrschwStPO dem Verteidiger bereits im Vorverfahren das<br />

Akteneinsichtsrecht. Während die übrigen der nach 1848<br />

erlassenen Verfahrensrechte ausdrücklich oder stillschweigend<br />

von einer Pflicht des Verdächtigen zur wahrheitsgemäßen<br />

Antwort ausgingen, normierte § 43 BrschwStPO ein<br />

Schweigerecht. Der Untersuchungsrichter hatte den Verdächtigen<br />

ausdrücklich darüber zu belehren, dass er „zu keiner<br />

Antwort oder Erklärung auf die ihm vorgelegten Fragen<br />

gehalten sei“ 27 . Erklärtes Ziel dieser Anordnung war es, einer<br />

Geständniserlangung durch unlautere Methoden vorzubeugen<br />

und auf diese Weise das Vertrauen in die Strafjustiz zu sichern.<br />

28 In einem Gutachten, das die Reichsregierung im<br />

Zuge der anstehenden Rechtsvereinheitlichung angefordert<br />

hatte, fasste das Herzogliche Obergericht zu Wolfenbüttel die<br />

Regelungen des Vorverfahrens zusammen, um ebenso apodiktisch<br />

wie folgenlos zu resümieren: „Der Unbefangene wird<br />

gestehen, dass jede andere Procedur den Namen eines richterlichen<br />

Verfahrens nicht verdient“ 29 .<br />

Die Bestimmungen der braunschweigischen Strafprozessordnung<br />

fanden keine Aufnahme in die Reichsstrafprozessordnung.<br />

Bis heute stellen sie ein nicht in vollem Umfange<br />

eingelöstes rechtspolitisches Desiderat dar. Das in Braunschweig<br />

zum Ausdruck gebrachte materielle Verständnis des<br />

Anklagegrundsatzes gab jedoch den Anstoß für die wenige<br />

Jahre nach 1848 einsetzende Diskussion um die Weiterentwicklung<br />

des reformierten Strafprozesses.<br />

II. Reformdiskussion nach 1848<br />

1. Die Reform des reformierten Strafprozesses<br />

Mit der Einführung des öffentlich-mündlichen Anklageprozesses<br />

war die Diskussion über eine grundlegende Reform<br />

des Strafverfahrens nicht abgeschlossen. 30 Aus Sicht maßgeblicher<br />

Autoren blieben die nach 1848 eingeleiteten Reformen<br />

unvollendet. Zwar habe die eilige Übernahme des französischen<br />

Verfahrensmodells einige Verbesserungen bewirkt,<br />

wesentliche Missstände des alten Inquisitionsprozesses seien<br />

jedoch beibehalten worden. Mittermaier äußerte wenige Jahre<br />

nach der vermeintlichen strafprozessualen Epochenwende:<br />

„Uns scheint, daß damit den gerechten Forderungen nicht<br />

entsprochen, den Klagen nicht abgeholfen und eine gründlieinen<br />

Vertheidiger zu wählen, bekannt zu machen (ist)“. Die<br />

Hinzuziehung eines Verteidigers im Vorverfahren – nicht<br />

aber dessen Anwesenheit während der Befragung – gestatten<br />

auch Art. 70 ff. des nassauischen Gesetzes über die Einführung<br />

des mündlichen und öffentlichen Verfahrens von<br />

1849/1850 sowie Art. 212 Abs. 1 der württembergischen<br />

Strafprozeßordnung von 1868.<br />

27 Die Vornahme der Belehrung war im Protokoll zu vermerken<br />

und vor Fortgang des Verfahrens von dem Untersuchungsrichter,<br />

dem Protokollführer und dem Beschuldigten<br />

zu unterschreiben.<br />

28 Degener (Fn. 25), S. 48.<br />

29 Plenum des Herzoglichen Obergerichts zu Wolfenbüttel,<br />

(Fn. 25), S. 21.<br />

30 Hierzu Haas (Fn. 16), S. 102 ff.<br />

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che Verbesserung des Strafverfahrens nicht angebahnt ist“. 31<br />

Andere Autoren konstatierten, dass der in den Partikularstrafprozessordnungen<br />

normierte „Inquisitionsprozess mit Anklageform“<br />

im Grunde nichts weiter als den alten „Untersuchungsprozess<br />

mit accusatorischen Beigaben“ verkörpere 32 .<br />

Um zu einer Weiterentwicklung des reformierten Strafprozesses<br />

zu gelangen, richtete sich der Blick in den Jahren<br />

nach 1848 zunehmend auf das anglo-amerikanische Verfahrensrecht<br />

33 . Das kontradiktorische Verfahrensmodell lieferte<br />

in den folgenden Jahren Anregungen und Argumente, um das<br />

erklärte Ziel, „die folgerichtige Durchführung des öffentlichmündlichen<br />

Anklageprocesses“ 34 , zu verwirklichen. Im Mittelpunkt<br />

der Diskussion standen die Neugestaltung der weiterhin<br />

inquisitorisch geführten Voruntersuchung (unten 2.),<br />

die Reform der Hauptverhandlung (unten 3.) sowie die Frage<br />

nach Funktion und Form der Laienbeteiligung im reformierten<br />

Strafprozess (unten 4.).<br />

2. Umgestaltung der Voruntersuchung<br />

Die Kritik der Wissenschaft entzündete sich zunächst an der<br />

rechtlichen Ausgestaltung der Voruntersuchung, in der Gneist<br />

„die alte Inquisition auf unveränderter, unhaltbarer Grundlage“<br />

wieder zu erkennen glaubte. 35 Nicht allein der mittelbare<br />

Geständniszwang war den Reformern suspekt 36 , auch die<br />

konsequente Umsetzung der neuen Verfahrensprinzipien<br />

schien gefährdet. So sah man die Öffentlichkeitsmaxime<br />

darin verletzt, dass die Voruntersuchung weiterhin hinter<br />

verschlossenen Türen stattfand; überdies unterlaufe das inquisitorische<br />

Vorverfahren die proklamierte Mündlichkeit der<br />

Hauptverhandlung, weil der Vorsitzende Kenntnis der Untersuchungsakten<br />

erhalte. 37 Der in einem geheimen inquisitorischen<br />

Verfahren gewonnene Akteninhalt werde gewissermaßen<br />

aus Angeklagten und Zeugen „herausexaminiert“ 38 ; das<br />

Verhör des Präsidenten sei letztlich nichts anderes als, wie<br />

Mittermaier treffend herausstellte, „eine Suggestion der in<br />

der Voruntersuchung gegebenen Antworten“ 39 .<br />

Um die auf das Hauptverfahren ausstrahlenden Mängel<br />

der Voruntersuchung von Grund auf zu beseitigen, forderten<br />

manche Autoren, das Vorverfahren kontradiktorisch, öffentlich<br />

und mündlich auszugestalten. 40 Schreckte man vor einem<br />

solchen Traditionsbruch zurück, zielten die Reformvorschläge<br />

auf Zulassung der formellen Verteidigung im Vorverfahren.<br />

41 Als Vorbild dienten insofern die gemeinrechtliche<br />

Prozedur sowie die preußische Criminalordnung von 1805,<br />

die sich hinsichtlich der Verteidigungsrechte als weniger<br />

engherzig erwiesen hatten als der reformierte Strafprozess.<br />

Ergänzend plädierten einige Autoren für die ausdrückliche<br />

Normierung eines Schweigerechts für den Verdächtigen. 42<br />

Nicht zu den Forderungen derjenigen, die an einer grundsätzlich<br />

inquisitorisch geführten Voruntersuchung festhielten,<br />

gehörten hingegen die weitergehenden Beschuldigtenrechte<br />

der braunschweigischen Strafprozessordnung. Vereinzelte<br />

Vorschläge, wonach dem Angeklagten zumindest in der<br />

Hauptverhandlung zu eröffnen sei, dass er „zu einer Beantwortung<br />

an ihn gerichteter Fragen nicht verpflichtet [ist]“,<br />

verhallten ungehört. 43 Den Verdächtigen über sein Schweigerecht<br />

zu belehren, wurde ebenso abgelehnt wie die Befugnis,<br />

mit einem Verteidiger, einem „Souffleur im Verhöre“,<br />

zur Vernehmung zu erscheinen. 44<br />

3. Umgestaltung der Hauptverhandlung<br />

Die Kritik der Rechtswissenschaft beschränkte sich nicht auf<br />

das von den Reformen des Jahres 1848 weitgehend ausgesparte<br />

Vorverfahren. Auch in der Ausgestaltung des öffentlich-mündlichen<br />

Hauptverfahrens lebten nach Ansicht maßgeblicher<br />

Autoren Elemente des überkommenen Prozesses<br />

fort, die mit den neuen Verfahrensprinzipien unvereinbar<br />

waren. Die Bedenken richteten sich vor allem gegen die Stellung<br />

des Gerichtspräsidenten, dem die neuen Gesetze die<br />

Verfahrensleitung, das Verhör der Angeklagten und der Zeugen,<br />

die Zusammenfassung der Beweisaufnahme, die Formu-<br />

31 Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über<br />

Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung, 1856, S. 279.<br />

32 Planck, Systematische Darstellung des Deutschen Strafverfahrens<br />

auf der Grundlage der neueren Strafprozeßordnungen<br />

seit 1848, 1857, S. 157.<br />

33 Vgl. etwa Glaser, Archiv des Criminalrechts 1851, 70;<br />

auch 19 f., 46 ff.; Mittermaier (Fn. 31), S. 279 f.; Planck (Fn.<br />

32), S. 156; v. Tippelskirch, GA 2 (1854), 25, 319; Zachariae<br />

(Fn. 17), S. 46 ff.; ders. (Fn. 21), S. 203 f.; umfassend hierzu<br />

Herrmann (Fn. 1), S. 52 ff.<br />

34 Gneist, Vier Fragen zur Deutschen Strafproceßordnung mit<br />

einem Schlußwort über die Schöffengerichte, 1874, S. 9.<br />

35 Gneist (Fn. 34), S. 82.<br />

36 Mittermaier (Fn. 31), S. 285, sah hierin „eine Art Folter“.<br />

37 v. Bar, Kritik der Principien des Entwurfs einer Deutschen<br />

Strafproceßordnung, 1873, S. 28, 41; Glaser (Fn. 11), S. 53;<br />

Gneist (Fn. 34), S. 7.<br />

38 v. Bar (Fn. 37), S. 41.<br />

39 Mittermaier, GS 11 (1862), 40.<br />

40 v. Bar (Fn. 37), S. 23 ff.; Gneist (Fn. 34), S. 82 ff.; auf dem<br />

11. DJT des Jahres 1873 erwies sich ein von Gneist formulierter<br />

Vorschlag als mehrheitsfähig, wonach das Vorverfahren<br />

zumindest parteiöffentlich stattzufinden habe; 11. DJT<br />

(1873), Bd. 2, S. 228, 359; Gneist (Fn. 34), S. 216; auch<br />

schon 3. DJT (1862), S. 350, 326 (Glaser).<br />

41 Mittermaier (Fn. 31), S. 378; Planck (Fn. 32), S. 51;<br />

v. Stemann, GS 5 (1853), 214; v. Tippelskirch, GA 2 (1854),<br />

330 f.; Zachariae (Fn. 21), S. 282.<br />

42 v. Bar (Fn. 37), S. 23 ff.; Mittermaier (Fn. 31), S. 285 ff.<br />

43 Auf dem 7. Deutschen Juristentag (1868) vermochte sich<br />

ein entsprechender Vorstoß von Glaser (7. DJT [1868], Bd.<br />

1, S. 90 f.) nicht durchzusetzen. Zustimmung fand lediglich<br />

der Antrag, wonach der Angeklagte in der Hauptverhandlung<br />

zu keiner Aussage verpflichtet sei (Bd. 2, S. 122). In<br />

Deutschland empfinde man die richterliche „Warnung vor<br />

dem Geständnis“ angesichts jahrhundertelanger abweichender<br />

Übung als Pflichtverstoß, so mit Blick auf die Voruntersuchung<br />

v. Tippelskirch, GA 2 (1854), 327.<br />

44 Sundelin, Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 1865,<br />

Sp. 298.<br />

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lierung der Fragen an die Geschworenen sowie, gemeinsam<br />

mit den übrigen Berufsrichtern, die Strafzumessung aufbürdeten.<br />

45 Der Richter erscheine angesichts der Vielzahl der<br />

ihm übertragenen Aufgaben als ein „Lastträger“, der „weit<br />

eher Mitleid als Respekt einflöß[e]“ 46 .<br />

In den folgenden Jahren erhoben sich zahlreiche Stimmen,<br />

die die Ersetzung der richterlichen Vernehmung durch<br />

ein kontradiktorisches Verfahren einforderten. 47 Nach neuem<br />

Recht stehe der Gerichtspräsident nicht über den Parteien,<br />

wie es dem Wesen und der Würde des Richteramtes entspräche,<br />

sondern er trete als ein „coram publico verhandelnder<br />

Inquirent“ 48 , als ein „zweiter Ankläger“ 49 in Erscheinung. Im<br />

Vergleich zum gemeinrechtlichen Verfahren schien sich die<br />

Situation für den Angeklagten gar noch verschlechtert zu<br />

haben, weil „der Inquirent in das erkennende Gericht selbst<br />

aufgenommen“ worden war. 50<br />

In der richterlichen Aufgabenakkumulation sah man nicht<br />

allein einen Widerspruch zum Akkusationsprinzip, auch die<br />

Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit seien verletzt,<br />

weil der Präsident durch das Studium der Untersuchungsakten<br />

unweigerlich befangen sei. 51 Für die Beseitigung<br />

des richterlichen Zeugenverhörs ließ sich zudem anführen,<br />

dass ein Kreuzverhör nach englischem Vorbild effektiver und<br />

sicherer in der Lage sei, die materielle Wahrheit zu ermitteln.<br />

52 Der pragmatische Aspekt, vereint mit dem Bedürfnis<br />

der neu errichteten Staatsanwaltschaften nach Erweiterung<br />

ihrer Aufgaben, gab schließlich den Ausschlag dafür, dass<br />

auf dem 11. Deutschen Juristentag (1873) die Mehrheit der<br />

Delegierten für den Antrag votierte, wonach „das Kreuzverhör<br />

dem Verhör durch den Präsidenten vorzuziehen“ sei. 53<br />

Als nicht mehrheitsfähig erwiesen sich hingegen Überlegungen,<br />

den Richter von jeglicher inquirierenden Tätigkeit freizustellen<br />

und ihm auch die richterliche Vernehmung des<br />

Angeklagten zu entziehen. Der Juristentag brachte das fortlebende,<br />

dem inquisitorischen Verfahrensmodell verhafteten<br />

Richterbild zum Ausdruck, indem er feststellte, „es sei und<br />

bleibe das sittliche officium des Richters, den Angeklagten<br />

zum Bekenntnis seiner Schuld zu bringen, ihm Gelegenheit<br />

zu geben, durch reumüthiges Bekenntnis seinen Frieden zu<br />

machen mit seinem Gotte“ 54 .<br />

4. Funktion und Form der Laienbeteiligung<br />

a) Die Errichtung von Schwurgerichten<br />

Nahezu ausnahmslos hatten die deutschen Partikularstaaten<br />

gemeinsam mit dem öffentlich-mündlichen Strafprozess das<br />

Schwurgericht eingeführt. Die sachliche Zuständigkeit der<br />

Laiengerichte erstreckte sich auf die Aburteilung schwerer<br />

Delikte, worunter nach preußischer Gesetzgebung solche<br />

Verbrechen fielen, „welche in den Gesetzen mit einer härteren<br />

als dreijährigen Freiheitsstrafe bedroht sind“ 55 . Zwölf<br />

Geschworenen oblag es, nach ihrer „freien aus dem Inbegriffe<br />

der vor [ihnen] erfolgten Verhandlungen geschöpften gewissenhaften<br />

Überzeugung“ über das Schicksal des Angeklagten<br />

zu entscheiden. 56 Die Geschworenen antworteten auf<br />

die ihnen vom Vorsitzenden unterbreiteten Tatfragen; Rechtsfragen<br />

sowie die Strafzumessung blieben den Berufsrichtern<br />

vorbehalten. Für eine Verurteilung verlangten die Partikulargesetzgebungen<br />

überwiegend eine Stimmenmehrheit von<br />

zwei Dritteln; allein Braunschweig forderte, hierin erneut<br />

dem englischen Vorbild folgend, die Einstimmigkeit. 57 Ebenso<br />

wie für die rheinische Jury des Vormärz wäre es auch für<br />

die nach 1848 errichteten Schwurgerichte verfehlt, von einer<br />

Beteiligung „des Volkes“ an der Strafjustiz zu sprechen. Von<br />

vornherein kamen ausschließlich Männer als Laienrichter in<br />

Betracht. Vor allem aber knüpften die meisten Gesetzgebungen<br />

die Zulassung an ein derart rigides Zensus- und Kapazitätensystem,<br />

dass bereits weite Teile des Mittelstandes ausgeschlossen<br />

blieben. 58<br />

45 Bayern 1848, Art. 141; Preußen VO 1849, § 100; Ges.<br />

1852, Art. 76.<br />

46 v. Tippelskirch, GA 4 (1856), 5.<br />

47 Hierzu umfassend Herrmann (Fn. 1), S. 55 ff.<br />

48 Gneist (Fn. 34), S. 6; ähnlich Zachariae (Fn. 21), S. 239:<br />

„Inquirent im alten Styl“.<br />

49 v. Bar (Fn. 37), S. 35.<br />

50 Planck (Fn. 32), S. 156.<br />

51 Glaser, Archiv des Criminalrechts 1851, 192 f.; ders., 7.<br />

DJT (1868), Bd. 1, S. 86 ff.; ders. (Fn. 11), S. 51 ff.<br />

52 Auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte abhebend Sundelin,<br />

GS 11 (1859), 161; auch Glaser, Archiv des Criminalrechts<br />

1851, 204, wonach keine Übersicht über den Sachverhalt<br />

erhalte, wer sich „im Getümmel“ der Beweisaufnahme befinde.<br />

53 11. DJT (1873), Bd. 2, S. 169 f.; der Beschluss folgte dem<br />

Gutachten v. Stemanns, Ist im Strafverfahren das Verhör<br />

durch den Präsidenten oder das Kreuzverhör vorzuziehen,<br />

Bd. 1, S. 3 ff. sowie dem begleitenden Referat von Stenglein,<br />

Bd. 2, S. 137 ff.<br />

54 Hierzu Gneist (Fn. 34), S. 81.<br />

55 Preußen VO 1849, § 60; zu den Zuständigkeiten Landau,<br />

in: Schioppa (Hrsg.), The trial jury in England, France, Germany<br />

1700-1900, 1987, S. 284.<br />

56 Preußen, VO 1849, § 110; Ges. 1852, Art. 95.<br />

57 Gesetzesübersicht bei Landau (Fn. 55), S. 283 f.; Zahlreiche<br />

Verfahrensordnungen gewährten dem Richterkollegium<br />

zudem ein Kassationsrecht. Gelangten die Berufsrichter übereinstimmend<br />

zu der Auffassung, dass „die Geschworenen<br />

einen Nichtschuldigen für schuldig erklärt haben“, oblag es<br />

ihnen, den Urteilsspruch aufzuheben und die Sache zur erneuten<br />

Verhandlung an ein anderes Schwurgericht zu verweisen,<br />

Preußen VO 1849, § 116; Ges. 1852, Art. 99. Ein Kassationsrecht<br />

für unberechtigte Freisprüche bestand hingegen<br />

nicht.<br />

58 Für Preußen: Collin, ZNR 23 (2001), 195 (206); Landau<br />

(Fn. 55), S. 273 f.; so besaßen beispielsweise 1855 in München<br />

lediglich zwei Prozent der Einwohner die Befähigung<br />

zum Geschworenenamt, Overath, in: Berding/Klippel/Lottes<br />

(Hrsg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten, 1999,<br />

S. 175.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009


Die gescheiterte Reform des reformierten Strafprozesses<br />

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b) Das Schwurgericht in der Defensive<br />

Mit Beginn der Restauration geriet das Schwurgericht in die<br />

Defensive. Österreich und Sachsen schafften es bereits 1853<br />

bzw. 1855 ab; andere Staaten beseitigten seine Zuständigkeit<br />

für Pressevergehen und politische Delikte, einschließlich der<br />

im Vereins- und Versammlungsrecht enthaltenen Strafandrohungen.<br />

59 Bald nach 1848 meldeten sich in der Literatur<br />

Stimmen zu Wort, die eine deutliche Abkühlung der Schwurgerichtsbegeisterung<br />

feststellten oder das Institut, das seine<br />

Einführung den Ereignissen des Jahres 1848 verdankte, als<br />

gefährliches „Vehikel der Demokratie“ verwarfen. 60 Das<br />

wesensimmanente Hauptübel des Schwurgerichts erblickten<br />

die Kritiker in der Teilung der Richterbank und der damit<br />

einhergehenden „unnatürlichen“ Aufgabentrennung zwischen<br />

Berufs- und Laienrichtern. Auf sich allein gestellt seien die<br />

Geschworenen überfordert, zumal die ihnen unterbreiteten<br />

Haupt- und Alternativfragen nicht selten für „heillose Verwirrung“<br />

sorgten. 61 Zudem sah sich das Schwurgericht weiterhin<br />

dem Verdacht ausgesetzt, ungesetzliche Freisprüche zu<br />

verschulden. 62<br />

Die größte Gefahr drohte den Schwurgerichten durch das<br />

Aufkommen der Schöffengerichte. Die Besetzung der Richterbank<br />

mit Laien und Berufsrichtern schien der Weg zu sein,<br />

um den festgefahrenen Streit über die Vorzugswürdigkeit von<br />

Laien- oder Berufsrichtern zu überwinden. 63 Maßgeblichen<br />

Einfluss hatten dabei die Schriften des sächsischen Oberstaatsanwalts<br />

Friedrich Oskar Schwarze, des „Vaters des<br />

Schöffengerichts“ 64 . Den Hauptvorteil der Schöffengerichte<br />

sah Schwarze in der organischen Zusammenarbeit von Berufs-<br />

und Laienrichtern. Der Sachverhalt müsse nicht mehr<br />

künstlich in Tat- und Rechtsfragen zerlegt werden, vertrau-<br />

59 Für Preußen Collin, ZNR 2001, 195 ff., 211 ff.; vgl. auch<br />

Hadding, Schwurgerichte in Deutschland, 1974, S. 29 ff.;<br />

Landau (Fn. 55), S. 285 ff.; in Baden, Bayern und Württemberg<br />

verblieben die politischen Delikte und die Pressedelikte<br />

im Zuständigkeitsbereich des Schwurgerichts.<br />

60 Noellner, Die deutschen Juristen und die deutsche Gesetzgebung<br />

seit 1848, 2. Aufl. 1855, S. 298.<br />

61 Binding, Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts,<br />

1876, S. 85; die Kritik zusammenfassend Amtliche<br />

Denkschrift über die Schöffengerichte, GA 21 (1873), 40 (47<br />

ff.).<br />

62 Ein Einwand, der angesichts außerordentlich hoher Freispruchsquoten<br />

bei politischen Delikten sowie Pressevergehen<br />

seine Berechtigung hatte, mit Blick auf die allgemeine Kriminalität,<br />

insbesondere die Eigentumskriminalität, jedoch zu<br />

Unrecht erhoben wurde. Zu politischen Delikten Collin, ZNR<br />

23 (2001), 195 (199 ff., 203 f.); Landau (Fn. 55), S. 287 ff.;<br />

Overath (Fn. 58), S. 179 ff.<br />

63 Zur Verbreitung der Schöffengerichte Amtliche Denkschrift<br />

über die Schöffengerichte, GA 21 (1873), 40 (42); Landau,<br />

Schwurgerichte und Schöffengerichte, S. 292 ff.<br />

64 Gneist (Fn. 34), S. 177. Nicht frei von Eitelkeit sprach<br />

Schwarze selbst von den Schöffengerichten als „mein Kind“,<br />

10. DJT (1872), Bd. 1, S. 175. Zu Schwarze nunmehr Lacher,<br />

Friedrich Oskar Schwarze (30.9.1816-17.1.1886), 2008.<br />

ensvolles Zusammenwirken vereine die Vorteile des Berufsund<br />

Laienrichtertums. Das übereilt eingeführte fremdländische<br />

Institut des Schwurgerichts, noch dazu ein Kind der<br />

französischen Revolution, habe daher dem Schöffengericht,<br />

einer urtümlich deutschen Einrichtung, zu weichen. 65<br />

Obwohl Schwarzes Ideen in der Folgezeit rasch Verbreitung<br />

fanden, blieben Teile der Literatur skeptisch. Nicht<br />

„organisches Zusammenwirken“ präge die Arbeit des Schöffengerichts,<br />

sondern „Scheincollegialität“ 66 . Die Berufsrichter<br />

gerieten aufgrund ihrer Aktenkenntnis und Eloquenz unweigerlich<br />

in Versuchung, Laien in die gewünschte Richtung<br />

zu lenken. 67 Mittermaier sah daher in Urteilen von Schöffengerichten<br />

lediglich „das Produkt des Schwankens, der Verwirrung<br />

und der Einschüchterung“ 68 .<br />

c) Notwendigkeit des Schwurgerichts im reformierten Strafprozess<br />

Ungeachtet aller Einwände bemühten sich die Befürworter<br />

des Schwurgerichts, dessen Vorzüge als Rechtsanstalt zu<br />

65 Schwarze, Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform,<br />

1865, S. 7, 32 ff., 111 ff.; ähnlich Amtliche Denkschrift<br />

über die Schöffengerichte, GA 21 (1873), 40 (46 ff.). Andere<br />

sahen Schöffengerichte lediglich als Übergangslösung. Habe<br />

die Bevölkerung das Vertrauen in den Richterstand wieder<br />

gewonnen, könne auf jegliche Laienbeteiligung verzichtet<br />

werden, so Binding (Fn. 61), S. 107 f.<br />

66 Glaser, in adversarios, 1864, S. 62; Mittermaier, Das<br />

Volksgericht in Gestalt der Schwur- und Schöffengerichte,<br />

1866, S. 37; ablehnend auch Gneist (Fn. 34), S. 171 ff. Gegen<br />

die Ersetzung der Schwurgerichte durch Schöffengerichte<br />

auch der 10. DJT (1872), Bd. 1, S. 162 f., 176.<br />

67 Mittermaier (Fn. 66) , S. 38; ders., Erfahrungen, über die<br />

Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Amerika,<br />

1856, S. 766.<br />

68 Mittermaier (Fn. 67), S. 776. Ungeachtet dieser Bedenken<br />

votierte eine 1873 im preußischen Justizministerium erstellte<br />

Denkschrift „aus rein sachlichen Gründen“ für die Einführung<br />

der Schöffengerichte, bei gleichzeitiger Abschaffung der<br />

Schwurgerichte. Der erste Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes<br />

von 1873, der den Empfehlungen der Denkschrift<br />

folgte, vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen,<br />

weil sich vor allem die süddeutschen Staaten und die nationalliberale<br />

Partei einer Beseitigung des Schwurgerichts widersetzten.<br />

Auch nach Verabschiedung der Reichsjustizgesetze<br />

blieb die Zuständigkeit des Schöffengerichts auf das untergerichtliche<br />

Verfahren beschränkt. Erst mit der Beseitigung<br />

der Schwurgerichte durch die sog. Lex Emminger im<br />

Jahre 1924 erhielten „gemischte Gerichte“ – und damit auch<br />

Berufsrichter – die Kompetenz zur Aburteilung von Schwerkriminalität;<br />

RGBl. I, S. 15: „Verordnung über Gerichtsverfassung<br />

und Strafrechtspflege vom 4.1.1924“, benannt nach<br />

dem kurzzeitigen Reichsjustizminister Erich Emminger<br />

(1880-1951); hierzu Vormbaum, Die Lex Emminger vom 4.<br />

Januar 1924, 1988; auch Koch, in: Cordes u.a. (Hrsg.),<br />

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2.<br />

Aufl. 2008, Sp. 1322 f.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

547


Arnd Koch<br />

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belegen. Zugleich distanzierte man sich von „politischen<br />

Argumenten“ wie einer vermeintlichen Schutzfunktion der<br />

Jury vor unberechtigten Anklagen. 69 Neben den aus der vormärzlichen<br />

Schwurgerichtsdiskussion vertrauten Argumenten<br />

rückte ein neuer Gedanke in den Vordergrund. Für Autoren<br />

wie Glaser und Mittermaier stand fest, dass nur das Schwurgericht<br />

„in dem folgerichtigen Zusammenhang mit den<br />

Grundsätzen des neuen Strafverfahrens“ stand 70 ; wer ein<br />

„wahrhaft mündliches Verfahren und freie Beweiswürdigung<br />

will, der wird immer wieder dahin gelangen, in dem Geschworenengericht<br />

die bewährteste Form zu erkennen“ 71 . Die<br />

Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit bedingten,<br />

dass der Richter seinen Urteilsspruch allein auf die Ergebnisse<br />

der Hauptverhandlung stütze. Weil Berufsrichter aufgrund<br />

der ihnen obliegenden Verhandlungsleitung zwangsläufig<br />

Kenntnis der Untersuchungsakten hätten, bestehe stets die<br />

Gefahr der Voreingenommenheit; es sei unmöglich, gegen<br />

eine vor der Verhandlung gewonnene Überzeugung anzukämpfen.<br />

72 Dieser aus der Debatte um die Stellung des Gerichtspräsidenten<br />

vertraute Einwand gewann mit der drohenden<br />

Beseitigung des Schwurgerichts eine neue Dimension.<br />

Solange dem Vorsitzenden eine Entscheidung über die Tatfrage<br />

nicht zukam, war lediglich zu befürchten, dass die Art<br />

seiner Verhandlungsleitung die Geschworenen präjudizierte.<br />

Mit Abschaffung des Schwurgerichts bestand hingegen Personenidentität<br />

zwischen Verhörendem und Urteilendem.<br />

III. Fazit<br />

Zu den verbreitetesten Fehlvorstellungen über die Geschichte<br />

des deutschen Strafverfahrens zählt die Annahme, im frühneuzeitlichen<br />

Strafverfahren hätten sich die Funktionen des<br />

Ermittlers, des Anklägers und des Urteilers in der Person des<br />

Richters vereinigt; erst der reformierte Strafprozess habe<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts die Vereinigung aller Verfahrensfunktionen<br />

in der Hand des Richters – der gleichzeitig verfolgen<br />

und urteilen sollte – beseitigt. 73 Übersehen wird hierbei<br />

das Institut der Aktenversendung, mithin eine „typische Er-<br />

scheinungsform der frühneuzeitlichen Rechtspflege.“ 74 Das<br />

Aktenmaterial war Oberhöfen, Schöffenstühlen oder Juristenfakultäten<br />

zuzuleiten. 75 So betrachteten es die Prozessualisten<br />

des 19. Jahrhundert gerade als Charakteristikum des „deutschen<br />

Strafverfahrens“, dass „der erkennende Richter auf<br />

dem Grund von anderen Richterpersonen aufgenommenen<br />

Protokollen sein Urtheil fällt.“ 76 Noch in der Reformdiskussion<br />

des Vormärz galt die durch das Institut der Aktenversendung<br />

bewirkte Trennung von ermittelndem- und urteilendem<br />

Richter als wesentlicher Vorteil des gemeinrechtlichen inquisitorischen<br />

Verfahrens gegenüber dem reformierten Strafprozess.<br />

77 Nicht Ermittler, Ankläger und Richter waren im frühneuzeitlichen<br />

Strafverfahren personenidentisch, sondern<br />

(lediglich) Ermittler (scil. Untersuchungsrichter) und Ankläger.<br />

78 Zugespitzt formuliert führte überhaupt erst die Einführung<br />

des sog. reformierten Strafprozesses zu eben jenem<br />

Missstand, welchen die heutige Literatur dem perhorreszierten<br />

frühneuzeitlichen Strafverfahren zuschreibt: Die Identität<br />

zwischen Inquisitor und Urteiler in Gestalt des vorsitzenden<br />

Richters, dem bei Kenntnis der Untersuchungsakten die Vernehmung<br />

des Angeklagten, die Ermittlung der materiellen<br />

Wahrheit und die Urteilsfällung obliegen. Auf diese Verschlechterung<br />

der Position des Angeklagten aufmerksam<br />

gemacht zu haben, ist eines der Verdienste der liberalen Prozessrechtslehre<br />

zwischen Paulskirche und Reichsgründung.<br />

Die von ihr erhobenen Forderungen zur Umgestaltung des<br />

1877/79 etablierten Verfahrensmodells blieben freilich ein<br />

bis heute unerfülltes rechtspolitisches Desiderat.<br />

69 Glaser, Zur Juryfrage, 1864, S. 11: „Nicht weil die Jury<br />

politisch wünschenswert ist, wird sie als eine gute Rechtsanstalt<br />

gepriesen, sondern weil man sie für eine gute Rechtsanstalt<br />

hält, sieht man in ihrer Herstellung einen politischen<br />

Vorteil“.<br />

70 Mittermaier (Fn. 66), S. 21; ders. (Fn. 67), S. 683; ähnlich<br />

v. Bar, Zur Frage der Geschworenen- und Schöffengerichte,<br />

1873, S. 24; Glaser (Fn. 69), S. 18 ff.<br />

71 Glaser (Fn. 69), S. 19. In der internationalen Diskussion<br />

wird gegenwärtig erneut die Frage aufgeworfen, ob die Prinzipien<br />

des reformierten Strafprozesses tatsächlich ohne das<br />

Schwurgericht zu verwirklichen sind, hierzu Thaman, Hastings<br />

International and Comparative Law Review 21 (1998),<br />

241 (244).<br />

72 Mittermaier (Fn. 67), S. 683; auch Glaser (Fn. 69), S. 18.<br />

73 Hierzu ausführlich mit Nachweisen Koch (Fn. 24), S. 394<br />

ff.; vgl. auch ders., FAZ v. 26.8.2009, S. 6.<br />

74 So Oestmann, in: Cordes u.a. (Fn. 68), Bd. 1, 2. Aufl.<br />

2008, Sp. 128 ff.<br />

75 Zusammenfassend Oestmann (Fn. 74), Sp. 128 ff.<br />

76 Mittermaier, Deutsches Strafverfahren, Bd. 1, 4. Aufl.<br />

1846, S. 210.<br />

77 Hierzu etwa Biener, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft<br />

12 (1845), S. 69 ff., S. 71.<br />

78 Gefahr drohte dem Beschuldigten durch unzuverlässige<br />

oder parteiische Fixierung des für das Urteil allein maßgeblichen<br />

Akteninhalts, vgl. Zachariae, Die Gebrechen und die<br />

Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S. 157 ff., 180.<br />

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<strong>ZIS</strong> 10/2009

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