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Untitled - Pädiatrix

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Quelle: bmp<br />

Diese Zahl von FAS erfasst indes nur das, was<br />

gemeinhin als der Kern der Alkoholschäden<br />

betrachtet wird. Zur Diagnose (siehe auch Kasten<br />

rechts) zählen Wachstumsstörungen, die<br />

Kinder sind bei Geburt entweder zu klein oder<br />

untergewichtig. Dann weisen sie charakteristivon<br />

Dr. Martina Lenzen-Schulte<br />

Alkohol-Spektrum-Erkrankungen (Fetal Alcohol<br />

Spectrum Disorders, FASD) zählen zu den<br />

häufigsten angeborenen Störungen in der Pädiatrie.<br />

Die Schäden, die der Alkoholkonsum der<br />

Schwangeren beim Ungeborenen hervorruft,<br />

sind von Dauer, eine Therapie gibt es nicht.<br />

Gleichwohl wird die Problematik noch häufig<br />

unterschätzt.<br />

Eine Lancet-Arbeit prägte bereits im Jahr<br />

1973 den bis heute gebräuchlichen Begriff FAS<br />

– fetales Alkoholsyndrom [1]. Diese erste, von<br />

der wissenschaftlichen Welt weithin wahrgenommene<br />

Publikation über schädliche Effekte<br />

von Alkoholkonsum der Mutter für das Ungeborene<br />

wurde zwar berühmt. Allerdings gelang<br />

es in all den Jahren kaum, die Fachöffentlichkeit<br />

angemessen zu sensibilisieren. Erst in jüngster<br />

Zeit erhält das Thema mehr Aufmerksamkeit,<br />

nicht zuletzt, seit klar wird, wie enorm hoch die<br />

ökonomische Bürde ist, die die Versorgung der<br />

Betroffenen mit sich bringt. Soeben hat die Zeitschrift<br />

„Neuropsychology Review“ ein ganzes<br />

Heft mit neun Review-Artikeln den FASD gewidmet<br />

[2]. Immerhin stellen die Schäden, die<br />

der Alkohol im Gehirn des Ungeborenen verursacht,<br />

in vielen Ländern quantitativ die Hauptursache<br />

für geistige Behinderung dar, deutlich<br />

vor dem Down-Syndrom oder anderen Erkrankungen.<br />

Lange Zeit gab es nur grobe Annahmen<br />

über die Häufigkeit, auch in Deutschland. Zum<br />

Teil kursieren überhöhte Zahlen von 10 000 Betroffenen,<br />

wohl in dem Bemühen, die Öffentlichkeit<br />

wachzurütteln. Seit Kurzem gibt es jedoch<br />

eine erste verlässliche Abschätzung aus der Forschungsgruppe,<br />

die mit dem Universitätsklinikum<br />

in Münster, der einzigen deutschen FAS-<br />

Spezialambulanz, assoziiert ist. Ausgehend von<br />

dem Vorkommen von FAS unter Kindern aus<br />

Pflegefamilien muss deutschlandweit mit rund<br />

2800 geschädigten Kindern im Jahr gerechnet<br />

werden [3]. „Wir setzten dabei voraus, dass<br />

rund 80 Prozent dieser Kinder nicht bei ihren<br />

leiblichen Eltern leben, sondern in Betreuung bei<br />

Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht<br />

sind“, erläutert Dr. Reinhold Feldmann, der als<br />

Psychologe die Spezialambulanz leitet, die seit<br />

Neuestem am Kindergesundheitszentrum Haus<br />

Walstedde in Münster angesiedelt ist.<br />

Alkohol schädigt Organe,<br />

aber vor allem das Gehirn<br />

Pädiatrix 6/2011


Definitionen FASD<br />

Unter dem Begriff der Fetal Alcohol Spectrum<br />

Disorders fasst man verschiedene Störungen<br />

zusammen, die sich darin unterscheiden, wie<br />

stark die Kinder im Wachstum gestört sind,<br />

Fehlbildungen (Dysmorphien) aufweisen und<br />

Funktionen des zentralen Nervensystems betroffen<br />

sind. Man unterscheidet im Einzelnen:<br />

1. FAS: fetales Alkoholsyndrom mit Wachstumsstörungen,<br />

Fehlbildungen und zentralnervösen<br />

Auffälligkeiten; Diagnose mit oder<br />

ohne nachgewiesenem Alkoholkonsum der<br />

Mutter<br />

2. FAE: von fetalen Alkoholeffekten spricht<br />

man, wenn nur zwei Bereiche (Wachstum,<br />

Fehlbildungen bzw. ZNS) betroffen sind<br />

3. ARBD: Dysmorphiezeichen und Fehlbildungen<br />

im Skelett oder Organfehlbildungen<br />

(Herz, Augen, Ohren, Nieren) kennzeichnen<br />

die Alcohol Related Birth Defects oder alkoholbedingte<br />

Geburtsschäden<br />

4. ARND: zentralnervöse Dysfunktionen<br />

ohne körperliche Zeichen (Fehlbildungen,<br />

Wachstumsstörungen); die Diagnose gilt nur,<br />

wenn die mütterliche Alkoholexposition belegt<br />

ist (Alcohol Related Neurodevelopment<br />

Disorder)<br />

sche Fehlbildungen an Kopf und Gesicht auf,<br />

sogenannte kraniofaziale Dysmorphien. Hierzu<br />

zählen vor allem die verkürzte Lidspalte,<br />

ein verstrichenes Philtrum und eine schmale<br />

Oberlippe, die im Missverhältnis zur Fülle der<br />

Unterlippe steht. Dazu werden inzwischen jedoch<br />

immer mehr strukturelle Defekte gerechnet,<br />

deren Stellenwert für die Diagnose allerdings<br />

noch nicht feststeht. Das<br />

sind beispielsweise eine Mikrozephalie,<br />

spezielle Deformitäten<br />

der Ohrmuschel oder eine sogenannte<br />

Hockey-Stick-Handfurche<br />

[4]. Es kommen jedoch nicht<br />

nur Fehlbildungen im Gesicht<br />

vor, sondern auch Organfehlbildungen<br />

wie etwa Herzfehler,<br />

weil der Alkohol bereits früh in<br />

die Organogenese eingreift. Das<br />

weitere Leben der Kinder wird<br />

indes am allermeisten durch die<br />

vielfältigen Schäden bestimmt,<br />

die der Alkohol schließlich am<br />

Gehirn hinterlässt [5]. Eine ganze<br />

Reihe neurokognitiver Funktionen<br />

können hier betroffen<br />

sein, Intelligenz- und Gedächtnisleistungen,<br />

motorische Fähigkeiten, aber auch das ganze<br />

Spektrum emotionaler und sozialer Interaktionsfähigkeit.<br />

In der Säuglingszeit wird sehr<br />

häufig über ausgeprägte Schlaf- und Essstörungen<br />

berichtet, die Kinder sind zudem motorisch<br />

unruhig. Je nachdem, welche der drei Kategorien<br />

– Wachstum, Dysmorphien und zentralnervöse<br />

Funktionen – in welcher Kombination<br />

betroffen sind, ergeben sich unterschiedliche<br />

Krankheitsdefinitionen, die unter dem Oberbegriff<br />

der fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen<br />

zusammengefasst werden. Hier ist – ausgehend<br />

von den Häufigkeitsangaben zum FAS – mit<br />

noch etwa ebenso vielen, in unterschiedlicher<br />

Form betroffenen Kindern zu rechnen. Mithin<br />

schätzt man, dass insgesamt etwa 5000 Kinder<br />

jährlich in Deutschland geboren werden, die<br />

durch Alkohol bereits im Mutterleib geschädigt<br />

wurden. „Das bedeutet auch, dass Kinderärzte<br />

durchaus nicht selten mit solchen Kindern und<br />

ihren Schwierigkeiten konfrontiert werden. Allerdings<br />

ist es nicht einfach, die oft im Vordergrund<br />

stehenden Verhaltensauffälligkeiten klar<br />

zuzuordnen, vor allem, wenn äußerliche Hinweise<br />

fehlen“, räumt Feldmann ein. Derzeit ist<br />

eine deutsche S3-Leitlinie in Arbeit, von deren<br />

demnächst anstehender Publikation sich die<br />

Experten erhoffen, dass künftig öfter an diese<br />

Diagnose gedacht wird und die Kinder einer<br />

speziellen Diagnostik zugeführt werden.<br />

ADHS als häufigste Begleiterkrankung<br />

Wenn etwa Lernschwierigkeiten, Unaufmerksamkeit<br />

und Defizite im Sozialverhalten, später<br />

vielleicht noch Delinquenz beobachtet werden,<br />

11<br />

FAS<br />

Abbildung 1:<br />

Alkoholgeschädigte<br />

Kinder weisen charakteristische<br />

kraniofaziale<br />

Dysmorphiezeichen<br />

an Kopf<br />

und Gesicht auf<br />

Quelle: modifiziert<br />

nach Dr. Feldmann/<br />

Erika Heil, art for<br />

biomed<br />

Pädiatrix 6/2011


12<br />

FAS<br />

Abbildung 2:<br />

Langzeituntersuchungen<br />

zeigen,<br />

dass die Prognose<br />

für FAS-Betroffene<br />

ungünstig ist, die<br />

wenigsten erreichen<br />

eine selbstständige<br />

Lebensführung oder<br />

lernen einen Beruf<br />

Quelle: [8]<br />

so fällen in der Regel<br />

auch Fachleute eher<br />

die Diagnose ADHS.<br />

Tatsächlich zählt das<br />

Hyperaktivitätssyndrom<br />

zu den häufigsten<br />

Komorbiditäten beim<br />

FASD [6]. „Wir gehen<br />

davon aus, dass rund<br />

40 bis 60 Prozent aller<br />

FASD-Kinder auch eine<br />

ADHS-Symptomatik<br />

aufweisen, aber ADHS<br />

ist dann nicht ihr einziges<br />

Problem, sondern<br />

Bestandteil des FASD“,<br />

sagt Prof. Hans-Ludwig<br />

Spohr. Er leitete<br />

Betroffene<br />

früher die Kinderklinik an den DRK-Kliniken<br />

Westend und die dort angesiedelte Beratungsstelle<br />

für alkoholgeschädigte Kinder. Inzwischen<br />

ist diese Beratungsstelle – die neben der<br />

Ambulanz in Münster die derzeit einzige spezialisierte<br />

Anlaufstelle für Betroffene darstellt<br />

– als „Zentrum für Menschen mit alkoholbedingten<br />

Schäden“ in den Räumen der Charité<br />

angesiedelt und wird von der „Stiftung für das<br />

behinderte Kind“ finanziert. Die richtige Zuordnung<br />

der ADHS-Symptomatik spielt etwa<br />

eine Rolle für Therapieentscheidungen: „FASD-<br />

Kinder profitieren bei gleichzeitig vorliegender<br />

ADHS-Symptomatik mitunter erstaunlich gut<br />

von einem durchaus sehr frühen Einsatz von<br />

Stimulanzien wie Methylphenidat schon vor<br />

der Schulzeit. Das sollte man im Hinterkopf<br />

behalten, auch wenn man als Arzt sonst sehr<br />

zurückhaltend sein mag bei der Verwendung<br />

dieser Medikation“, beschreibt Spohr seine Beobachtungen.<br />

Das ist indes auch bedeutsam für<br />

prognostische Bewertungen, denn die Schäden,<br />

die der Alkohol gesetzt hat, sind irreversibel.<br />

„Das ist wichtig im Hinblick auf die Beratung<br />

vor allem der Pflegeeltern. Sie merken, dass<br />

ihre Schützlinge vielerlei Schwierigkeiten haben,<br />

wissen aber meist nichts über die Alkoholabhängigkeit<br />

der Mutter. Wenn sie nach oft<br />

langen Odysseen im Gesundheitssystem die<br />

richtige Diagnose erhalten, sollte man vor allem<br />

darauf hinwirken, dass die FASD-Kinder nicht<br />

durch zu viele Fördermaßnahmen überfordert<br />

werden. Viel wichtiger ist es, langfristig deren<br />

Leben zu organisieren und beispielsweise eine<br />

betreute Wohnsituation und einen geschützten<br />

Arbeitsplatz zu finden“, betont Feldmann.<br />

können nicht selbständig als Erwachsene leben 80%<br />

sind später in ihrem Leben arbeitslos<br />

weisen Schulabbrüche auf und kamen schon mit dem<br />

Gesetz in Konflikt<br />

haben zusätzlich ein ADHS<br />

FAS – Ein Handicap für das ganze Leben<br />

wurden Opfer von Missbrauch und Übervorteilung<br />

haben einen<br />

Beruf erlernt<br />

14%<br />

60%<br />

40–60% (50%)<br />

70%<br />

75%<br />

0 10 20 30 40 50 60 70 80<br />

Prozent<br />

Mütterlicher Alkoholkonsum wirkt<br />

ein Leben lang nach<br />

Das ist umso entscheidender, als die meisten<br />

von ihnen später nicht auf sich allein gestellt ihr<br />

Leben meistern können, wie die wenigen Langzeitstudien<br />

zu dieser Fragestellung zeigen. So<br />

benötigten 80 Prozent jenseits des 21. Lebensjahres<br />

Unterstützung bei der Lebensführung,<br />

bis zu 70 Prozent von ihnen waren arbeitslos.<br />

Bei rund zwei Dritteln war es zu Schulabbrüchen<br />

oder -unterbrechungen und zu Konflikten<br />

mit dem Gesetz gekommen [7]. Spohr selbst<br />

konnte das Schicksal einer Gruppe von 37 Betroffenen,<br />

bei denen er als Kind die Diagnose<br />

gestellt hatte, über 20 Jahre hinweg verfolgen<br />

[8]. Obwohl die Kinder aus dieser Gruppe langjährige<br />

schulische und berufliche Förderung<br />

erfuhren, hatten nur 13,7 Prozent einen Beruf<br />

erlernt und verdienten als junge Erwachsene<br />

ihren eigenen Lebensunterhalt. Spohr betont<br />

außerdem, dass hinsichtlich dieser langfristigen<br />

Ergebnisse kein Unterschied zwischen dem<br />

Vollbild eines FAS und den anderen, mitunter<br />

als minder schwer angesehenen Spektrum-<br />

Störungen bestand. Das ist umso wichtiger, als<br />

bisher immer noch unklar ist, woran man die<br />

Schwere der Störungen tatsächlich festmachen<br />

kann. Einige Befunde weisen zwar darauf hin,<br />

dass ausgeprägte Dysmorphiezeichen mit dem<br />

Schweregrad der neurokognitiven Beeinträchtigung<br />

einhergehen [9]. Das ist indes kein Automatismus,<br />

denn, so Spohr: „Auch äußerlich<br />

völlig unauffällige Kinder können geistig hochgradig<br />

beeinträchtigt sein.“<br />

Ein sehr charakteristischer Nachteil für die soziale<br />

Entwicklung liegt in der Anfälligkeit der Kin-<br />

Pädiatrix 6/2011


der, leicht zum Opfer zu werden. Eine Erhebung<br />

aus Münster zeigt, dass drei von vier jungen Erwachsenen<br />

mit FAS bereits Opfer von Missbrauch<br />

geworden waren [10]. „Dabei ist es nicht nur sexueller<br />

Missbrauch, von dem hier die Rede ist“, erläutert<br />

Feldmann, „die Betroffenen sind selten in<br />

der Lage, die Motivation von anderen Menschen<br />

richtig und vor allem kritisch einzuschätzen, selbst<br />

wenn etwa ihre sonstigen Intelligenzleistungen im<br />

Normbereich liegen. Diese spezifische Arglosigkeit<br />

macht sie zur Zielscheibe von falschen Freunden<br />

und Partnern, die sie in vielerlei Hinsicht ausnutzen,<br />

sei es, dass sie ihnen Geld abluchsen, oder<br />

sie zu kriminellen Taten überreden.“<br />

Pathologie der Alkoholwirkung ist<br />

noch kaum verstanden<br />

Obwohl Alkohol eine sehr gut untersuchte Substanz<br />

ist, kennt man die Pathomechanismen,<br />

die das Ungeborene schädigen, nicht genau.<br />

Er passiert ohne Weiteres die Plazenta und die<br />

Blut-Hirn-Schranke. Er wirkt als Mitosegift,<br />

wirkt teratogen auf die Organentwicklung und<br />

ist neurotoxisch [5]. Jüngste Beobachtungen zeigen,<br />

dass er die wichtigen Wachstumsfaktoren<br />

IGF-I und -II sowie das die Nahrungsaufnahme<br />

regulierende Hormon Leptin beeinflusst<br />

[11]. „Vor allem sorgt er im Gehirn dafür, dass<br />

dramatisch viele Neuronen absterben“, erläutert<br />

Feldmann. „Während gesunde Kinder eine<br />

Apoptoserate von rund 1,5 Prozent aufweisen,<br />

liegt sie bei jenen, die vom FAS betroffen sind,<br />

bei 30 Prozent.“ Daher verwundert es nicht,<br />

dass auch die immer häufiger vorgenommenen<br />

Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren<br />

strukturelle und funktionelle Veränderungen<br />

im Gehirn nachweisen können [9].<br />

Das sind gleichwohl alles nur Einzelbefunde,<br />

Puzzleteile, die derzeit noch kein schlüssiges Bild<br />

ergeben. Deshalb sind alle Bemühungen, möglichst<br />

früh mittels Therapien einzugreifen, ebenso<br />

wenig zielgerichtet. So wurde im Tierversuch untersucht,<br />

ob bestimmte Substanzen die Alkoholeffekte<br />

bei abhängigen Schwangeren ausgleichen<br />

könnten. Getestet wurden Serotonin-Agonisten,<br />

neuroprotektive Peptide, Antioxidanzien und<br />

die Gabe von Cholin, jedoch ohne überzeugende<br />

Ergebnisse. Frühe Interventionsversuche beim<br />

Säugling umfassen spezifisches Verhaltenstraining,<br />

aber auch Substanzen, die die Kognition<br />

günstig beeinflussen sollen und als sogenannte<br />

Neuroenhancer zur Steigerung von Gehirnleistungen<br />

bekannt sind [12]. All dies sind vereinzelte<br />

Studien, die derzeit für die tägliche Praxis keinerlei<br />

Rolle spielen. Klar ist nur, dass ungünstige Umgebungsfaktoren<br />

die Situation verschlimmern.<br />

Wenn die Eltern zum Beispiel rauchen und die<br />

Wohnverhältnisse beengt sind, ist das Outcome<br />

umso schlechter. „Weil dies häufig in sozioökonomisch<br />

schlecht gestellten Familien vorkommt,<br />

in denen es oft auch zur Gewalt gegenüber den<br />

Kindern kommt, hat das zur Folge, dass FASD-<br />

Kinder überwiegend in Pflegefamilien kommen“,<br />

erklärt Feldmann. Obwohl auch Schwangere aus<br />

der Mittelschicht Alkohol konsumieren, sieht<br />

man diese Kinder nicht in der Ambulanz, da hier<br />

zum einen bessere Ausgangsbedingungen herrschen,<br />

zum anderen aber auch mehr Kompensationsmöglichkeiten<br />

zur Verfügung stehen.<br />

Alkoholverzicht muss das Ziel sein<br />

Angesichts dieses Mangels an Therapiemöglichkeiten<br />

kommt der Vermeidung entscheidende<br />

Bedeutung zu. Derzeit gilt unumstritten die<br />

Nulloption – Schwangere sollten keinen Alkohol<br />

trinken. Denn es gibt keine Mindestgrenze,<br />

für die wissenschaftlich eine Unbedenklichkeit<br />

klar nachgewiesen wäre. Zwar kann man davon<br />

ausgehen, dass es eine Dosis-Wirkungs-Beziehung<br />

gibt, wonach sehr viel Alkoholkonsum<br />

auch sehr viel schädlicher ist. Allerdings ist<br />

das keine sichere Korrelation, es werden auch<br />

schwerwiegende Schäden bei vergleichsweise<br />

geringem Konsum beobachtet [13].<br />

Die Realität bestätigt die absolute Karenzempfehlung<br />

jedoch nicht. Frauen trinken allgemein<br />

immer mehr – in den 1960er Jahren<br />

lag das Verhältnis zu alkoholkranken Männern<br />

noch bei 1:20, im Jahr 2000 betrug es schon 1:2<br />

[14]. Die Angaben, wie viele Schwangere wie<br />

stark trinken, schwanken erheblich, was nicht<br />

zuletzt auf die nicht immer richtigen, sich selbst<br />

einschätzenden Antworten zurückzuführen ist.<br />

Die KiGGS-Studie ermittelte, dass rund 14 Prozent<br />

der Schwangeren angeben, gelegentlich zu<br />

trinken, während der Anteil derer, die regelmäßigen<br />

Konsum zugaben, unter einem Prozent<br />

lag [15]. Eine Studie der Charité ermittelte,<br />

dass 58 Prozent der befragten Frauen gelegentlich<br />

Alkohol konsumieren. Laut der Deutschen<br />

Hauptstelle für Suchtgefahren trinken indes 20<br />

bis 30 Prozent der 18- bis 32-jährigen Frauen<br />

mindestens einmal in der Woche Alkohol und<br />

Angaben aus Frauenarztpraxen besagen, dass<br />

12,5 Prozent der Patientinnen ein echtes Alkoholproblem<br />

haben [16].<br />

„Hier können wir Ärzte nicht genug aufklären,<br />

um die Schwangeren zu warnen“, sagt<br />

13<br />

FAS<br />

Weitere Informationen<br />

Zentrum für Menschen<br />

mit angeborenen<br />

Alkoholschäden FASD;<br />

Tel.: +49(0)30/450<br />

564 107, E-Mail: fasdzentrum@charite.de<br />

Ambulanz für Kinder,<br />

Jugendliche und junge<br />

Erwachsene mit fetalem<br />

Alkoholsyndrom<br />

(FASD) und für Kinder<br />

opiat- und opioidabhängiger<br />

Mütter;<br />

Gesundheitszentrum<br />

Haus Walstedde, Tel.:<br />

+49(0)2387/9194 0,<br />

E-Mail: rittmeier@hauswalstedde.de<br />

FASKINDER/FASworld<br />

Deutschland – in weltweit<br />

17 Ländern klären<br />

Betroffene, Eltern, Ärzte<br />

und Therapeuten über<br />

FAS und verwandte<br />

Störungen auf www.<br />

faskinder.de<br />

Website über FAS: die<br />

informativste deutschsprachige<br />

Website für<br />

Laien und Fachleute;<br />

mit aktuellen Berichten<br />

aus der Forschung und<br />

von Kongressen: www.<br />

fetales-alkoholsyndrom.<br />

de<br />

Pädiatrix 6/2011


14<br />

FAS<br />

Fortsetzung Literatur<br />

15. Bergmann RL et al.:<br />

Perinatale Einflussfaktoren<br />

auf die<br />

spätere Gesundheit.<br />

Ergebnisse des Kinder-<br />

und Jugendges<br />

u n d h e i t s s u r v e y s<br />

(KiGGS). Bundesgesundheitsblatt<br />

Gesundheitsforschung<br />

Gesundheitsschutz.<br />

2007; 50: 670-676<br />

16. Siedentopf J-P et al.:<br />

Alkohol konsumierende<br />

Schwangere<br />

in der Schwangerenberatung:<br />

Prospektive,<br />

anonymisierte<br />

Reihenuntersuchung<br />

zur Abschätzung der<br />

Prävalenz. Deutsches<br />

Ärzteblatt. 2004; 101<br />

(39): A-2623-2626<br />

17. Finckh W: Alkoholsyndrom:<br />

Geringer<br />

Konsum ungefährlich.<br />

Deutsches Ärzteblatt<br />

PP 8. 2009; 27<br />

18. Kvigne VL et al.: Characteristics<br />

of children<br />

whose siblings have<br />

fetal alcohol syndrome<br />

or incomplete fetal<br />

alcohol syndrome. Pediatrics.<br />

2009; 123(3):<br />

e526-533<br />

19. Persönl. Mitteilung:<br />

Vorläufiges Ergebnis<br />

einer noch nicht vollständig<br />

abgeschlossenen<br />

Studie der FAS-<br />

Ambulanz Münster<br />

der Arzt und Psychologe PD Dr. Niels Bergemann,<br />

Leiter der Schön Klinik in Bad Arolsen<br />

und Experte für Effekte von Medikamenten in<br />

der Schwangerschaft. „Aber leider werden die<br />

Alkoholgefahren auch von ärztlichen Kollegen<br />

immer noch unterschätzt, während die Risiken,<br />

die Medikamente oder auch illegale Drogen in<br />

der Schwangerschaft bedeuten, im Vergleich<br />

dazu überproportional hoch bewertet werden.“<br />

Sogar Leserbriefe von Ärzten in Fachzeitschriften<br />

geben dem Ausdruck [17]. Während jedoch<br />

die für manche Medikamente mögliche teratogene<br />

Wirkung meist auf das erste Trimenon<br />

beschränkt ist, wirkt der Alkohol eine ganze<br />

Schwangerschaft lang deletär, denn das Gehirn<br />

reift am längsten und ist entsprechend am<br />

längsten anfällig. „Wir favorisieren daher auch<br />

für abhängige Patientinnen eher einen milden,<br />

stationär kontrollierten Entzug, bei einer bloßen<br />

Reduktion der Alkoholmenge kann man<br />

es nicht belassen“, bekräftigt er die Nulloption<br />

auch in diesem Fall. „Zu bedenken ist zudem,<br />

dass die für das Ungeborene besonders gefährlichen<br />

Trinkexzesse, etwa das Binge-Drinking,<br />

in den letzten Jahren auch bei Frauen im gebärfähigen<br />

Alter deutlich zugenommen haben.<br />

Das sehen wir unter anderem an den Aufnahmezahlen<br />

in einschlägigen Notambulanzen“,<br />

warnt Bergemann weiter.<br />

Aufklärung spart Geld<br />

Erstaunlicherweise kam bisher von den einschlägigen<br />

Institutionen der Politik wenig<br />

Unterstützung für die Aufklärung. Man fürchte<br />

wohl eine allzu negative Konnotation –<br />

Schwangerschaft solle gerade auch im Hinblick<br />

auf die Gebärfreudigkeit positiv besetzt bleiben.<br />

Den enormen staatlichen Anstrengungen<br />

anderer europäischer Länder, die Aufklärung<br />

von Schwangeren voranzutreiben, stehen hierzulande<br />

nur wenige Initiativen gegenüber. „Immerhin<br />

erreichen wir mit unseren Flyern bereits<br />

60 Prozent der gynäkologischen Praxen“, sagt<br />

Feldmann. Er hebt hervor, wie hilfreich schon<br />

ein einfacher Hinweis eines Arztes sein kann:<br />

„Die meisten Frauen wollen für ihre Kinder etwas<br />

Gutes tun. Sie schätzen es sehr, wenn vom<br />

Arzt eine klare Aussage zum Alkoholverzicht<br />

in der Schwangerschaft kommt.“ Auch Kinderärzte<br />

können hier segensreich wirken, wenn<br />

sie einschlägige Verdachtsmomente bei einem<br />

Kind entdecken. Es wurde gezeigt, dass nachfolgende<br />

Kinder seltener ein FAS entwickeln,<br />

wenn beim älteren Geschwisterkind die Diagnose<br />

gestellt wurde und damit die Mutter sensibilisiert<br />

ist [18]. Nicht zuletzt würden diese<br />

Bemühungen sich für das Gesundheitssystem<br />

auch finanziell lohnen, ein Argument, das gerade<br />

heutzutage zu Buche schlagen sollte. Eine<br />

ebenfalls aus Münster stammende Hochrechnung<br />

besagt, dass sich hierzulande die Kosten<br />

von spezifischer Unterbringung, Betreuung<br />

und Förderung für ein FAS-Kind auf rund eine<br />

Million Euro belaufen, bis die Kinder erwachsen<br />

sind [19]. Andere Länder machen uns vor,<br />

dass solche Bedenken obsolet sein sollten: Einschlägige<br />

Warnhinweise für Schwangere gibt es<br />

in den Vereinigten Staaten bereits seit mehr als<br />

20 Jahren, sie sind inzwischen selbst im Weinland<br />

Frankreich kein Tabu mehr.<br />

Literatur<br />

1. Jones KL et al.: Recognition of the fetal alcohol syndrome<br />

in early infancy. Lancet. 1973; 11: 999-1001<br />

2. Riley EP (guest editor): Fetal alcohol spectrum disorders.<br />

Neuropsychology Review. 2011; 21(2)<br />

3. Münsteraner Prävalenzstudie – Publikation in Vorbereitung<br />

4. Jones KL et al.: Fetal alcohol spectrum disorders: Extending<br />

the range of structural defects. American Journal<br />

of Medical Genetics (A). 2010; 152A(11): 2731-2735<br />

5. Jones KL: The effects of Alcohol on Fetal Development.<br />

Birth Defects Research (Part C). 2011; 93: 3-11<br />

6. Mattson S et al.: Fetal alcohol spectrum disorders: neuropsychological<br />

and behavioural features. Neuropsychology<br />

Review. 2011; 21(2): 81-101<br />

7. Streissguth AP et al.: Fetal alcohol syndrome in adolescents<br />

and adults. JAMA. 1991; 265: 1961-1971<br />

8. Spohr HL et al.: Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen:<br />

Persistierende Störungen im Erwachsenenalter. Deutsches<br />

Ärzteblatt. 2008; 105(41): 693-698<br />

9. Riley EP: Fetal Alcohol Spectrum Disorders. An Overview.<br />

Neuropsychology Review. 2011; 21(2): 73-80<br />

10. Freunscht I et al.: Young Adults with Fetal Alcohol<br />

Syndrome (FAS): social, emotional and occupational<br />

development. Klinische Pädiatrie. 2011; online DOI:<br />

10.1055/s-0030-1261927<br />

11. Aros S et al.: Effects of prenatal ethanol exposure on<br />

postnatal growth and the insulin-like growth factor axis.<br />

Hormonal Research in Paediatrics 2011; 75(3): 166-173<br />

12. Piyadasa W et al.: From research to practice: an integrative<br />

framework for the development of interventions<br />

for children with fetal alcohol spectrum disorders.<br />

Neuropsychology Review 2011; 21(2) :204-223<br />

13. O’Leary CM et al.: Prenatal alcohol exposure and risk of<br />

birth defects. Pediatrics. 2010; 126(4): e843-850<br />

14. Alkohol in der Schwangerschaft: Deutsche Hauptstelle<br />

für Suchtfragen (DHS): www.dhs.de<br />

Pädiatrix 6/2011

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