Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de
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hin zu schweren Arten <strong>von</strong> Peitschen (flaggelum). Die Rute ist aber nicht nur Züchtigungs-<br />
<strong>und</strong> Machtwerkzeug, son<strong>de</strong>rn dient auch zur sexuellen St<strong>im</strong>ulanz. Krafft-Ebing (1886/1984)<br />
verweist auf die Dichtungen Juvenals, aus <strong>de</strong>nen hervorgeht, dass nicht nur Männer ‘auf diese<br />
Weise zu Lüsternheit erregt <strong>und</strong> entflammt wur<strong>de</strong>n’, son<strong>de</strong>rn auch römische Frauen sich um<br />
<strong>de</strong>s Vergnügens Willen peitschen ließen. Auch <strong>im</strong> ‘Satyricon’ <strong>de</strong>s Gaius Petronicus fin<strong>de</strong>n<br />
sich Hinweise auf flagellantische Sexualpraktiken. Flagellantismus war aber nicht die alleini-<br />
ge ‘Spielart’; <strong>im</strong> Gegenteil, „je<strong>de</strong> Art sexueller Perversion, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r oralen Kopulation (fella-<br />
tio) bis zur Sodomie (paedicatio) <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Defloration kleiner Mädchen“ (Hy<strong>de</strong> 1964, S. 71)<br />
ist in zahlreichen Zeugnissen dokumentiert.<br />
Unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong>de</strong>s Christentum beginnen sich die moralischen <strong>und</strong> ethischen Maßstäbe<br />
in Europa gr<strong>und</strong>legend zu än<strong>de</strong>rn. Askese <strong>und</strong> Keuschheit wer<strong>de</strong>n in einem bisher nicht ge-<br />
kannten Ausmaß i<strong>de</strong>alisiert <strong>und</strong> für alle verbindlich erklärt. Foucault (1983, S. 31) zufolge ist<br />
nicht nur die unmittelbare körperliche Äußerung <strong>von</strong> dieser Entwicklung betroffen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch <strong>de</strong>r gehe<strong>im</strong>e Wunsch, das innere Begehren: „Es ist ein Imperativ errichtet wor<strong>de</strong>n, nicht<br />
nur die gesetzeswidrigen Handlungen zu beichten, son<strong>de</strong>rn aus seinem Begehren, aus seinem<br />
gesamten Begehren einen Diskurs zu machen.“<br />
Die Verinnerlichung vor allem kirchlicher Regeln <strong>und</strong> die damit beginnen<strong>de</strong> ‘Produktion <strong>de</strong>s<br />
disziplinierten Menschen’ (Felhofer 1987) war jedoch ein allmählicher Prozess, bei <strong>de</strong>m zu-<br />
nächst äußere Zwänge zur Durchsetzung <strong>de</strong>r neuen moralischen Ordnung <strong>von</strong> zentraler Be-<br />
<strong>de</strong>utung sind. Wo ihre normieren<strong>de</strong> Wirkung entfällt, kümmert man sich recht wenig um die<br />
moralischen Prämissen. Erst ganz allmählich - <strong>und</strong> dies nicht nur <strong>im</strong> Bereich <strong>de</strong>r Sexualität -<br />
schlagen die ‘Fremdzwänge’ in ‘Selbstzwänge’ um (vgl. Elias 1976). Die zivilisatorischen<br />
Transformationen führen so auch zu tiefgreifen<strong>de</strong>n psycho-genetischen Verän<strong>de</strong>rungen. Af-<br />
fekte <strong>und</strong> körperliche Reaktionen wer<strong>de</strong>n mehr <strong>und</strong> mehr kontrolliert. Selbstbeherrschung <strong>und</strong><br />
‘gutes’ Benehmen (erkennbar z.B. am verstärkten Aufkommen <strong>von</strong> Ben<strong>im</strong>m-Fibeln) wer<strong>de</strong>n<br />
zu markanten Charakteristika <strong>de</strong>s ‘zivilisierten’ Menschen. Entschei<strong>de</strong>nd für diese Entwick-<br />
lung ist die Verfeinerung <strong>de</strong>r Selbstbeobachtungs- <strong>und</strong> Selbstthematisierungstechniken, als<br />
<strong>de</strong>ren materielle Basis Hahn (1982, S. 409) „das Aufblühen <strong>de</strong>r Städte, die größere lokale<br />
Mobilität, die Überregionalität <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls, die stärker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> berufliche Differenzierung,<br />
das Entstehen ausge<strong>de</strong>hnter Spielräume für persönliche Initiativen, die Entfaltung <strong>de</strong>s geisti-<br />
gen Lebens (Universitäten)“ beschreibt.<br />
Elias (1976) zeigt diese Entwicklung am Beispiel <strong>de</strong>r höfischen Gesellschaft, Weber (1972)<br />
für <strong>de</strong>n puritanischen Unternehmer <strong>und</strong> Hahn (1982) für die Katholiken insbeson<strong>de</strong>re seit <strong>de</strong>r<br />
Gegenreformation. Nach <strong>und</strong> nach etabliert sich auf diese Weise eine Selbstkontrollapparatur,<br />
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