Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de
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Die ethnologische Perspektive<br />
Bereits die Untersuchungen <strong>de</strong>r frühen Ethnologie zeigen, dass die abendländische Zivilisati-<br />
on nicht an <strong>de</strong>r Absolutheit eigener Normen <strong>und</strong> Wertvorstellungen festhalten kann, ohne sie<br />
zu hinterfragen: Ein Blick auf frem<strong>de</strong> Kulturen macht <strong>de</strong>utlich, dass die Begriffe ‘Abwei-<br />
chung’ <strong>und</strong> ‘Normalität’ jeweils an<strong>de</strong>rs gewichtet wer<strong>de</strong>n. Dass das ‘Normale’ <strong>im</strong> Bereich <strong>de</strong>r<br />
Sexualität interkulturellen Varianzen unterliegt, beschreibt beispielsweise Mead (1965) in<br />
‘Kindheit <strong>und</strong> Jugend auf Samoa’ sehr anschaulich. In dieser Kultur sind Onanie, Homosexu-<br />
alität o<strong>de</strong>r auch ungewöhnliche Formen <strong>de</strong>r Heterosexualität we<strong>de</strong>r verboten noch wer<strong>de</strong>n sie<br />
geför<strong>de</strong>rt. Die Varianten heterosexuellen Verkehrs, die als ‘normal’ angesehen wer<strong>de</strong>n, sind<br />
zahlreich. Die Etikettierung ‘Abweichler’ in diesem Bereich ist eher selten. Demgegenüber<br />
konstatiert Malinowski (1979) für die Eingeborenen <strong>de</strong>r Trobriand-Inseln, dass ‘Verirrungen’<br />
<strong>de</strong>s Geschlechtstriebes (Sexualverhalten wie Sodomie, Homosexualität, Fetischismus <strong>und</strong><br />
Masturbation) verpönt sind. Inwieweit Sadismus <strong>und</strong> Masochismus in dieser pr<strong>im</strong>itiven Kul-<br />
tur vorkommen, kann Malinowski <strong>im</strong> Rahmen seiner Feldstudien nicht ein<strong>de</strong>utig beurteilen.<br />
Er stellt aber fest, dass Formen sexueller Praktiken wie Kratzen, Beißen <strong>und</strong> Spucken, die vor<br />
allem <strong>de</strong>r Mann über sich ergehen lassen muss, als Element <strong>de</strong>r Erotik <strong>im</strong> Sexualleben <strong>de</strong>r<br />
Trobrian<strong>de</strong>r bekannt sind. Am Beispiel einiger Papua-Stämme in Neu-Guinea zeigt Bleibtreu-<br />
Ehrenberg (1979), dass das Phänomen <strong>de</strong>r Pädophilie dort ein Mittel zur Herstellung sozialer<br />
Integration darstellt <strong>und</strong> homosexuelle Kontakte problemlos gehandhabt wer<strong>de</strong>n. Bei <strong>de</strong>n Si-<br />
wahl in Nordafrika war es bis zu Beginn dieses Jahrh<strong>und</strong>erts selbstverständlich, dass alle<br />
‘normalen’ Männer homosexuellen Geschlechtsverkehr hatten (vgl. Haeberle 1983).<br />
Mit solchen Ergebnissen haben Anthropologie <strong>und</strong> Ethnologie wesentlich zu <strong>de</strong>r Erkenntnis<br />
beigetragen, dass die abendländischen Sexualnormen keineswegs Universalien sind, wie z.B.<br />
<strong>von</strong> konservativen Moraltheoretikern <strong>de</strong>r katholischen Kirche noch heute angenommen wird.<br />
Sie sind vielmehr sowohl in <strong>de</strong>r Handlungs- als auch in <strong>de</strong>r Wertd<strong>im</strong>ension Produkt kulturel-<br />
ler Erfahrung <strong>und</strong> Sinnsetzung. Diese Auffassung zählt mittlerweile zu <strong>de</strong>n Basisannahmen<br />
soziologischer <strong>und</strong> ethnologischer Theorien, was aus <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Einschätzung <strong>von</strong> Ber-<br />
ger/Luckmann (1972, S. 52) <strong>de</strong>utlich wird: „Wenn <strong>de</strong>r Begriff ‘normal’ irgend etwas anthro-<br />
pologisch F<strong>und</strong>amentales o<strong>de</strong>r kulturell Universales bezeichnen soll, so kann we<strong>de</strong>r dieser<br />
Begriff selbst noch sein Gegenteil auf die zahllosen Formen menschlicher Sexualität rechtens<br />
angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. (...) Je<strong>de</strong> Kultur hat eine für sie bezeichnen<strong>de</strong> Auffassung <strong>von</strong> Sexualität,<br />
mit eigenen Spielregeln für sexuelles Verhalten <strong>und</strong> eigenen ‘anthropologischen’ Vorausset-<br />
zungen. Die Relativität dieser Auffassungen, ihre große Vielfalt <strong>und</strong> ihr Reichtum an Erfin-<br />
dungen verweisen darauf, daß sie eher Produkte sozio-kultureller Schöpfungen als einer bio-<br />
logisch fixierten Natur sind.“<br />
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