Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de
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Die Analyse hat gezeigt, dass die sadomasochistische Spezialkultur keineswegs eine anarchi-<br />
sche Welt ist, in <strong>de</strong>r es keine Normen <strong>und</strong> Regeln gibt. Das, was sie <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren gesellschaft-<br />
lichen Systemen unterschei<strong>de</strong>t, ist ein eigenes Wert- <strong>und</strong> Normsystem, das aber nur innerhalb<br />
dieser Szene Gültigkeit hat. So gehört z.B. zum sadomasochistischen Arrangement unbedingt<br />
die Zust<strong>im</strong>mung <strong>de</strong>r beteiligten Personen. Des Weiteren wer<strong>de</strong>n die Grenzen <strong>de</strong>ssen, was er-<br />
laubt ist, vorher abgesprochen, so dass das Ausleben <strong>von</strong> Gewalt in einem kontrollierten <strong>und</strong><br />
reglementierten Rahmen stattfin<strong>de</strong>t. Das sadomasochistische Ritual ist auf diese Weise eine<br />
S<strong>im</strong>ulation, eine virtuelle Handlung.<br />
Daraus lässt sich ableiten, dass die Grenzen für Regel- <strong>und</strong> Normüberschreitungen nicht in<br />
allen gesellschaftlichen Teilsystemen gleich sind. So ist das Ausleben <strong>von</strong> Emotionen in <strong>de</strong>r<br />
sadomasochistischen Szene an<strong>de</strong>rs codiert als in <strong>de</strong>r übrigen Gesellschaft. Hier gilt, was<br />
Vester (1991, S. 112) festgestellt hat: "Die emotionalen Bindungen <strong>und</strong> die auf sie bauen<strong>de</strong>n<br />
Wertentscheidungen <strong>und</strong> Tauschbeziehungen stellen auch ein soziales Drama dar. Dieses so-<br />
ziale Drama beinhaltet <strong>de</strong>n Versuch <strong>de</strong>r interaktiven Ausbalancierung zwischen <strong>de</strong>n <strong>von</strong> einer<br />
Situation gestellten Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Herausfor<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n vorhan<strong>de</strong>nen Ressourcen<br />
zur Situationsbewältigung bzw. Situationskontrolle. Als Ergebnis dieses Versuchs können<br />
sich <strong>im</strong>plizite Definitionen <strong>de</strong>s fairen Austausches etablieren, die dann in <strong>de</strong>r weiteren Ent-<br />
wicklung <strong>de</strong>r Austauschbeziehung als normativer Maßstab fungieren. Es wer<strong>de</strong>n dann mögli-<br />
cherweise moralische Wertvorstellungen wie ‘gut’ <strong>und</strong> ‘böse’ ausgebil<strong>de</strong>t <strong>und</strong> soziale Verfah-<br />
ren entwickelt, die diesen Werten entsprechen sollen." Der ‘faire Austausch’ wird in <strong>de</strong>r Spe-<br />
zialkultur <strong>de</strong>r Sadomasochisten durch ein eigenes Regelsystem gewährleistet. Wer diese<br />
Normen nicht beachtet, hat keine Chance Mitglied in sadomasochistischen Szenen zu bleiben.<br />
Nur wer ein situationsangepasstes Emotionsmanagement beherrscht, ist akzeptiert. Doch nicht<br />
nur Emotionen wer<strong>de</strong>n in dieser Spezialkultur an<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r übrigen Gesellschaft kulti-<br />
viert. Auch das ästhetische Empfin<strong>de</strong>n ist ‘spezialkulturtypisch’ codiert.<br />
Im Sadomasochismus kann sich die Suche nach Ekstase <strong>und</strong> <strong>Grenzerfahrung</strong>en äußern, wie<br />
sie in allen Gesellschaften bei religiösen bzw. kultischen Riten möglich waren resp. sind: Ini-<br />
tiationsriten, Hinrichtungs- <strong>und</strong> Marterfeste, Märtyrien <strong>und</strong> extreme Askesen sind Beispiele<br />
hierfür. 138 Gemeinsam ist diesen ‘künstlichen Paradiesen’, dass sie die Zustän<strong>de</strong> ekstatischen<br />
138 Bahnen (1992, S. 14) schreibt in diesem Zusammenhang: "Obwohl das Grausamkeitsthema über Jahrtausen<strong>de</strong><br />
hinweg einen beträchtlichen Anteil sexueller Besetzung auf sich gezogen haben muß, konnte es zunächst<br />
keine soziale Komponente entwickeln. Sadomasochistische Sexualakte, Lebensweisen gar, müssen<br />
extreme Ausnahmen gewesen sein. (...) In unserem Kulturkreis ist es aber dann zu einem be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungsprozeß<br />
gekommen, welcher <strong>de</strong>n Ansätzen sexueller Faszination am Grausamkeitsthema eine Art<br />
Sozialisationsvorsprung vor an<strong>de</strong>ren Themen perverser Gr<strong>und</strong>orientierung (z.B. sexuellem Interesse an Fäkalien)<br />
gab. Ursache war nicht zuletzt <strong>de</strong>r Aufstieg <strong>de</strong>s Christentums <strong>und</strong> seine Entwicklung zur katholischen<br />
Kirche. Ihre zentrale, vergesellschaften<strong>de</strong> Mythologie umkreiste das Thema Erlösung, H<strong>im</strong>melfahrt durch<br />
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