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Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de

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kontinuierlichen, gleichmäßigen Regelung seines Trieblebens <strong>und</strong> seines Verhaltens nach<br />

allen Seiten hin. (...) Aber wie er nun stärker als früher durch seine funktionelle Abhängigkeit<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Tätigkeit einer <strong>im</strong>mer größeren Anzahl Menschen geb<strong>und</strong>en ist, so ist er auch in sei-<br />

nem Verhalten, in <strong>de</strong>r Chance zur unmittelbaren Befriedigung seiner Neigungen <strong>und</strong> Triebe<br />

unvergleichlich viel beschränkter als früher. Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser,<br />

aber auch affekt- <strong>und</strong> lustloser, min<strong>de</strong>stens was die unmittelbare Äußerung <strong>de</strong>s Lustverlan-<br />

gens angeht" (Elias 1976, S. 331).<br />

Die Nivellierung <strong>de</strong>r äußerlich sichtbaren Emotionsregungen be<strong>de</strong>utet aber noch nicht, dass<br />

<strong>de</strong>r Mensch auch innerlich befrie<strong>de</strong>t ist. Zwar kann er seinen Gefühlen nicht mehr freien Lauf<br />

lassen, das be<strong>de</strong>utet aber nicht, dass sie nicht mehr da wären. 132 Je<strong>de</strong>r Mensch lebt <strong>de</strong>shalb <strong>im</strong><br />

Spannungsverhältnis <strong>von</strong> zivilisatorischen Selbstkontrollzwängen <strong>und</strong> <strong>de</strong>m inneren Aufbe-<br />

gehren gegen diese Restriktionen, was sich in <strong>de</strong>n temporären Befreiungsversuchen <strong>von</strong> die-<br />

sen Verhaltensstandards äußert: "Aber die Triebe, die lei<strong>de</strong>nschaftlichen Affekte, die jetzt<br />

nicht mehr unmittelbar in <strong>de</strong>n Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Menschen zum Vorschein kommen<br />

dürfen, kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in <strong>de</strong>m Einzelnen gegen diesen überwa-<br />

chen<strong>de</strong>n Teil seines Selbst" (ebd). 133<br />

Demnach muss das Individuum <strong>im</strong> Alltag das Verhalten zeigen, das <strong>von</strong> ihm erwartet wird.<br />

Eine Vielzahl <strong>von</strong> ritualisierten Verhaltensschablonen, wie Goffman sie beschrieben hat (vgl.<br />

Kap. III. 1.5.2), sichern dabei die Stabilität <strong>und</strong> Zuverlässigkeit <strong>de</strong>r Handlungen <strong>de</strong>s Indivi-<br />

duums <strong>und</strong> gewähren auch in best<strong>im</strong>mtem Umfang Kontrollentlastungen, weil sie mehr o<strong>de</strong>r<br />

weniger automatisch realisiert wer<strong>de</strong>n. Unmittelbar mit <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Alltags ist die<br />

132 Deutlich zeigt sich diese Feststellung <strong>im</strong> Bereich <strong>de</strong>r Sexualität, wie Bataille (1982, S. 88) treffend formuliert:<br />

"Der Liebesakt <strong>und</strong> das Opfer <strong>de</strong>cken bei<strong>de</strong> dasselbe auf: das Fleisch. Das Opfer läßt an die Stelle <strong>de</strong>r<br />

geordneten Funktionen <strong>de</strong>s Lebewesens das Blin<strong>de</strong> zucken <strong>de</strong>r Organe treten. Dasselbe gilt für die erotische<br />

Konvulsion: sie befreit die blutgefüllten Organe, <strong>de</strong>ren blin<strong>de</strong>s Spiel sich über das überlegte Wollen <strong>de</strong>r Lieben<strong>de</strong>n<br />

hinaus fortsetzt. Auf das überlegte Wollen folgen die tierischen Bewegungen <strong>de</strong>r vom Blut geschwellten<br />

Organe. Eine Gewalttätigkeit, die <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Vernunft nicht mehr kontrolliert wird, beherrscht diese<br />

Organe, spannt sie bis zum Platzen, <strong>und</strong> plötzlich wird es zu einer Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Herzen, <strong>de</strong>m Überschwang dieses<br />

Sturmes nachzugeben. Die Bewegung <strong>de</strong>s Fleisches überschreitet, während <strong>de</strong>r Wille abwesend ist, eine<br />

Grenze. Das Fleisch ist in uns jener Exzess, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>s Anstands wi<strong>de</strong>rsetzt. Das Fleisch ist <strong>de</strong>r<br />

angebore Feind jener, die das christliche Verbot quält; wenn es aber, wie ich glaube, ein vages <strong>und</strong> umfassen<strong>de</strong>s<br />

Verbot gibt, das sich in verschie<strong>de</strong>nen, <strong>von</strong> Zeit <strong>und</strong> Ort abhängigen Formen <strong>de</strong>r sexuellen Freiheit<br />

entgegenstellt, so ist das Fleisch Ausdruck für die Rückkehr dieser bedrohlichen Freiheit."<br />

133 Die Theorie <strong>von</strong> Norbert Elias sieht Sieferle (1998, S. 27) in Anthony Burgess Roman ‘Clockwork Orange’<br />

plastisch illustriert: „Am Anfang steht die Gewalt <strong>de</strong>r Täter, die in <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Zufügung <strong>von</strong><br />

Leid ihre private Lust gewinnen. Sie fin<strong>de</strong>n Macht, Selbstachtung <strong>und</strong> Anerkennung, wenn sie an<strong>de</strong>re verletzen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>mütigen können. Doch dann verkehren sich die Fronten. Der Schläger wird zivilisiert, er unterliegt<br />

<strong>de</strong>r strafen<strong>de</strong>n Umkonditionierung, seine Schmerzschwelle wird gesenkt, was ihn zur Empathie, zur Lei<strong>de</strong>nsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> zur Friedfertigkeit erzieht. Diese Disziplinierung wird jedoch als Traumatisierung erfahren:<br />

Ihm wird eine offene W<strong>und</strong>e <strong>im</strong>plantiert, die bei <strong>de</strong>r kleinsten Reizung schmerzt.“<br />

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