Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de

Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de

11.11.2012 Aufrufe

moralischen Wertungen für den Prozess der Analyse zu suspendieren. Ohnedies könnten For- scher für Wertungen keine spezielle Autorität in Anspruch nehmen, die über die anderer Bür- ger hinausgehen könnte. Wissenschaftler beschreiben das ‚Sein’ und dafür können sie Sach- autorität beanspruchen. Zu beurteilen, was sein soll, sind wir alle - Forscher und Laien - glei- chermaßen kompetent. Die Untersuchung soll entsprechende Wertungen - der Leser, der Ju- risten, des Gesetzgebers - ermöglichen, nicht aber vorwegnehmen; eine Forderung, die Max Weber (1917/1973, S. 499) schon zu Beginn dieses Jahrhunderts erhoben hat: „Auf das Katheder gehört sie [die Wertung, L.S.] nicht, - sondern in die politischen Programme, Bureaus und Parlamente. Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen ‘letzten’ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar; 2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt.“ Bei der empirischen Annäherung an die Spezialkulturen der Sadomasochisten, Paintball- Spieler und Hooligans waren Wertungen - so weit dies möglich ist - zu vermeiden. Wenn dennoch Begriffe wie ‘normal’ und ‘abweichend’ verwendet werden, so ist dies nicht wertend gemeint, sondern als Bezugnahme auf die Vorstellungen der Mehrheit zu verstehen. Mit Hilfe eines streng ethnographischen Forschungsverständnisses werden über subjektnahe wie auch verstehende Strategien die typischen Sinnmuster dieser fremden - und auch von der soziologischen Forschung kaum berührten - Welten rekonstruiert. Methodisch ist diese Art der Erkenntnisgewinnung auf ‚the actor’s point of view’ zentriert. 18 Eine ethnographisch aus- gerichtete Kulturforschung sucht das Subjekt deshalb in seiner Sozialwelt auf und versucht jene Strukturen und Bezüge zu untersuchen, die für sein Verhalten und seine Sinnorientierun- gen bedeutsam sind (vgl. Bergmann 1985). Bezogen auf die Sadomasochisten, Paintballer und Hooligans heißt dies, dass ihre Spezialisierung immer auch Teil einer umfassenden Lebens- welt ist, mit der sie auf vielfältige Weise verbunden sind. 19 18 Blumer (1966, S. 542) führt dazu aus: "Since action is forged by the actor out of what he perceives, interprets and judges, one would have to see the operating situation as the actor sees it, perceive objects as the actor perceives them, as certain their meaning in terms of the meaning they have for the actor, and follow the actor's line of conduct as the actor organizes it - in short, one would have to take the role of the actor and see his world from his standpoint." 19 Auf diese soziale Verflechtung des einzelnen hat bereits Mead (1934/1968, S. 266) mit Nachdruck hingewiesen: "Doch selbst in den modernsten und entwickelsten Spielarten der menschlichen Zivilisation nimmt der einzelne, wie originell und schöpferisch er in seinem Denken auch sein mag, immer und notwendigerweise eine definitive Beziehung zum allgemein organisierten Verhaltens- oder Tätigkeitsmuster ein und reflektiert es in der Struktur seiner eigenen Identität oder Persönlichkeit, ein Muster, das den gesellschaftlichen Le- 20

Diese Vorgehensweise, die die subjektive Perspektive der Betroffenen, ihre ‚Story’ in den Vordergrund stellt, wird von Neumann-Braun/Deppermann (1998, S. 242) u.a. mit Bezug auf Bergmann (1985) kritisiert: Sie gebe „rekonstruierende Darstellungen der Alltagspraxis, nicht jedoch die Alltagspraxis selbst und auch nicht die Praxis des Darstellens“ wieder. 20 Zuzu- stimmen ist, dass der Forscher Gefahr läuft, „von bewußter Täuschung, selektiven (mögli- cherweise sogar vorbewußten) Rekonstruktionen und interessegeleiteten Korrekturen (z.B. aus Gründen der sozialen Erwünschtheit)“ (Eckert u.a. 2000, S. 29) in die Irre geleitet zu wer- den. Den einseitigen Selbstbeschreibungen stehen hier allerdings folgende Strategien gegen- über: 1) Die Begleitung einzelner Gruppenmitglieder über einen längeren, teilweise mehrjährigen Zeitraum. Insofern handelt es sich nicht nur um retrospektive/biographische, sondern auch um Prozessdaten, die Widersprüche und Veränderungen aufzudecken vermögen. 2) Hinzu kommt die Perspektivenvielfalt der einbezogenen Personen. Befragt habe ich auch Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde und Bekannte sowie Experten. 3) Schwach-reaktive Daten (Beobachtung durch den Forscher) erlauben die Kontrolle der Inhalte der Interviews. Feldmaterialien sind als natürliche, unverfälschte Kommunikation zu interpretieren. 2. Retrospektive Wegbeschreibung - der Zugang zum Untersuchungsfeld Ethnographische Forschung findet in den alltäglichen Bezügen der untersuchten Subjekte statt, denn die sinngemäße, authentische Rekonstruktion ihrer Erfahrungen, Gefühle und kul- turellen Muster ist nur über unmittelbare Kontakte gewährleistet. Die Auswertung von aus- schließlich sekundären Datenmaterialien (Presseberichte, Fernsehsendungen, Berichte von Dritten, Bücher usw.) bringt dagegen beinahe zwangsläufig Verzerrungen wie auch Fehlinter- pretationen mit sich. Übertragen auf die hier untersuchten Spezialkulturen würde z.B. eine Analyse von Artikeln aus der Regenbogenpresse eher Erkenntnisse über Vorurteile und In- formationsdefizite erbringen, als über die tatsächliche Lebenssituation der Betroffenen; d.h. über ihre Erfahrungen, Gefühle und Ängste würde man vermutlich kaum etwas erfahren. Der Forscher muss deshalb - soll seine Forschung alltags- und subjektnah sein - das Feld aufsu- bensprozeß manifestiert, in den er eingeschaltet ist und dessen schöpferischer Ausdruck seine Identität oder Persönlichkeit ist." 20 Vgl. auch Willems (1998) 21

Diese Vorgehensweise, die die subjektive Perspektive <strong>de</strong>r Betroffenen, ihre ‚Story’ in <strong>de</strong>n<br />

Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> stellt, wird <strong>von</strong> Neumann-Braun/Deppermann (1998, S. 242) u.a. mit Bezug auf<br />

Bergmann (1985) kritisiert: Sie gebe „rekonstruieren<strong>de</strong> Darstellungen <strong>de</strong>r Alltagspraxis, nicht<br />

jedoch die Alltagspraxis selbst <strong>und</strong> auch nicht die Praxis <strong>de</strong>s Darstellens“ wie<strong>de</strong>r. 20 Zuzu-<br />

st<strong>im</strong>men ist, dass <strong>de</strong>r Forscher Gefahr läuft, „<strong>von</strong> bewußter Täuschung, selektiven (mögli-<br />

cherweise sogar vorbewußten) Rekonstruktionen <strong>und</strong> interessegeleiteten Korrekturen (z.B.<br />

aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r sozialen Erwünschtheit)“ (Eckert u.a. 2000, S. 29) in die Irre geleitet zu wer-<br />

<strong>de</strong>n. Den einseitigen Selbstbeschreibungen stehen hier allerdings folgen<strong>de</strong> Strategien gegen-<br />

über:<br />

1) Die Begleitung einzelner Gruppenmitglie<strong>de</strong>r über einen längeren, teilweise mehrjährigen<br />

Zeitraum. Insofern han<strong>de</strong>lt es sich nicht nur um retrospektive/biographische, son<strong>de</strong>rn<br />

auch um Prozessdaten, die Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>und</strong> Verän<strong>de</strong>rungen aufzu<strong>de</strong>cken vermögen.<br />

2) Hinzu kommt die Perspektivenvielfalt <strong>de</strong>r einbezogenen Personen. Befragt habe ich<br />

auch Familienmitglie<strong>de</strong>r, Nachbarn, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekannte sowie Experten.<br />

3) Schwach-reaktive Daten (Beobachtung durch <strong>de</strong>n Forscher) erlauben die Kontrolle <strong>de</strong>r<br />

Inhalte <strong>de</strong>r Interviews. Feldmaterialien sind als natürliche, unverfälschte Kommunikation<br />

zu interpretieren.<br />

2. Retrospektive Wegbeschreibung - <strong>de</strong>r Zugang zum Untersuchungsfeld<br />

Ethnographische Forschung fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>n alltäglichen Bezügen <strong>de</strong>r untersuchten Subjekte<br />

statt, <strong>de</strong>nn die sinngemäße, authentische Rekonstruktion ihrer Erfahrungen, Gefühle <strong>und</strong> kul-<br />

turellen Muster ist nur über unmittelbare Kontakte gewährleistet. Die Auswertung <strong>von</strong> aus-<br />

schließlich sek<strong>und</strong>ären Datenmaterialien (Presseberichte, Fernsehsendungen, Berichte <strong>von</strong><br />

Dritten, Bücher usw.) bringt dagegen beinahe zwangsläufig Verzerrungen wie auch Fehlinter-<br />

pretationen mit sich. Übertragen auf die hier untersuchten Spezialkulturen wür<strong>de</strong> z.B. eine<br />

Analyse <strong>von</strong> Artikeln aus <strong>de</strong>r Regenbogenpresse eher Erkenntnisse über Vorurteile <strong>und</strong> In-<br />

formations<strong>de</strong>fizite erbringen, als über die tatsächliche Lebenssituation <strong>de</strong>r Betroffenen; d.h.<br />

über ihre Erfahrungen, Gefühle <strong>und</strong> Ängste wür<strong>de</strong> man vermutlich kaum etwas erfahren. Der<br />

Forscher muss <strong>de</strong>shalb - soll seine Forschung alltags- <strong>und</strong> subjektnah sein - das Feld aufsu-<br />

bensprozeß manifestiert, in <strong>de</strong>n er eingeschaltet ist <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen schöpferischer Ausdruck seine I<strong>de</strong>ntität o<strong>de</strong>r<br />

Persönlichkeit ist."<br />

20 Vgl. auch Willems (1998)<br />

21

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!