Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de

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de Arbeit gehört in diesen Rahmen. Ethnographisch-soziologische Forschung in dieser Tradi- tion meint, dass nicht nur fremde Völker, sondern kulturelle Sonderwelten untersucht werden, die sich durch spezifische Differenzierungs- und Segregationsprozesse innerhalb der eigenen Gesellschaft gebildet haben. War die „Ethnologie ein Jahrhundert lang wissenschaftliche Begleiterin von Kolonisation und Dekolonisation“ (Luyken 1996, S. 35), so untersucht der moderne Ethnologe nicht die Stämme im Busch. Wer Exotik sucht, muss nicht (mehr) in die entlegenen Winkel der Erde reisen, sondern findet sie gleich um die Ecke, in der New Yorker Bronx, in den Pariser Banlieues, in den U-Bahnen (vgl. Augé 1994) und - mit Blick auf die vorliegende Arbeit - hinter ganz normalen deutschen Gardinen. Diese vielfach als Subkultu- ren - in der Begrifflichkeit hier als Spezialkulturen - bezeichneten Enklaven werden genau so untersucht, als handele es sich bei ihnen um fremde Ethnien. 15 Unter Kultur ist dabei im An- schluss an die kulturanthropologische Tradition ein Komplex von Bedeutungen und Vorstel- lungen, der symbolisch ausgedrückt wird, zu verstehen. Geertz (1983, S. 9) zufolge ist „der Mensch ein Wesen, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei Kultur als dieses ‘Gewebe’ anzusehen ist.“ Deshalb liegt die Aufgabe einer ethnographisch orientier- ten Kulturanalyse, die sich mit unserer Gesellschaft beschäftigt, im Verstehen von Sinnmus- tern. Sie verkörpern sich in den Handlungen, Ritualen und Gegenständen, mittels derer die Mitglieder von Spezialkulturen miteinander kommunizieren. 16 logischen Ansätzen eine lange Tradition. Insbesondere die Vertreter der Chicago School in den USA verknüpften ethnologisches Wissen mit soziologischen Fragestellungen und gewannen nachhaltigen Einfluss auf die Soziologie. Besonders R.E. Park (1952) und W.L. Warner (1953) wurden durch ihre ethnologische Großstadtforschung bekannt. Zu nennen sind weiter die Arbeit von F.M. Thrasher (1927) zu kriminellen Gangs, die Street-Corner-Society-Studie von W.F. Whyte (1943) und die Arbeiten von H.S. Becker (1973) und J. Thomas (1983). Nicht zuletzt die Subkultur-, Jugend- und Medienforschung des ‘Center for Contemporary Cultural Studies’ in Birmingham mit Arbeiten von P. Willis (1981; 1991), J. Clarke u.a. (1979) oder J. Fiske (1987) sind in diesem Zusammenhang zu nennen. 15 Der französische Soziologie M. Maffesoli (1988) bezeichnet diese Segmentierung als 'Neo-Tribalismus'. Er lehnt sich damit begrifflich an ethnologisches Gedankengut an. So, wie bestimmte archaische Stammesformen eigenständige Kulturen hervorbringen, tun dies auch die Neo-Tribalisten in ihren Lebensräumen. 16 Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass ethnologische Forschungsansätze resp. ethnographische Methoden Einzug in die kommerzielle Marktforschung gehalten haben (vgl. Hörz 1996; Keim 1999; Miller 1995; Shields 1992; Sherry 1995). Das auf qualitative Methoden spezialisierte Marktforschungsinstitut GIM (Gesellschaft für innovative Marktforschung) mit Sitz in Heidelberg hat im Jahr 1997 für den Musiksender MTV eine ethnographische Jugendstudie durchgeführt. ‘Real-Life-Explorationen’ mittels Tiefeninterviews, Beobachtungen, Feldtagebüchern und Photodokumentationen geben Aufschluss über die thematischen Bereiche Medien, Shopping, Sport, Mode, Ernährung oder Nightlife und erlauben Aussagen zu grundsätzlichen Werthaltungen, der Markenverwendung und Marken-Settings von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren. Im Vorwort des (veröffentlichten) Berichtes heißt es: „Generell haben die klassischen Erhebungsinstrumente der Marktforschung ihre Grenzen, wenn es um die Erfassung der sozialen Wirklichkeit und ihrer Dynamik geht. Dies gilt besonders für die Zuschauerschaft von MTV. So sind junge Opinion Leaders nicht nur schwer für klassische Marktforschungsprojekte zu gewinnen, ihre mentale Komplexität (besonders in bezug auf das Konsumverhalten) kann man genauso wenig auf vorgefertigte Standard-Items in Fragebögen reduzieren. Qualitative Studien sind sicherlich kein Ersatz für die quantitativen Markt- und Mediastudien. Sie sind 18

Zu diesen kulturellen Enklaven hat der Sozialforscher, der zwar dem gleichen übergreifenden Kulturkreis wie die zu untersuchende Spezialkultur entstammt, weder einen selbstverständli- chen Zugang, noch ist das Verstehen von diesen Welten ohne Weiteres möglich. Deshalb muss er zuallererst die notwendige Sensibilität für diese Fremdheit entwickeln und die unver- traute Kultur prinizpiell als eigenständige Symbol- und Sinnwelt begreifen. Nur wer das Fremde wahrnimmt und sich auf diese Wirklichkeit einlässt, hat die Chance, die zu untersu- chende Kultur wirklich zu erkennen. 17 Dementsprechend kann ein solches Forschungsvorha- ben nur dann gelingen, wenn die normativen Bezugssysteme der eigenen Wirklichkeit tempo- rär aufgegeben werden. Der Forscher muss sich auf die Relevanzsysteme der fremden Ethnien einlassen. Seine Aufgabe ist es dabei, „eine Kultur oder eine Gesellschaft oder eine Sitte so gut wie möglich in dem Bezugsrahmen der Gesellschaft, die er studiert, statt in seinem eige- nen zu verstehen. Also nicht häßlich zu finden, was er häßlich findet, und wenn möglich zu verstehen, wie das kommt“ (Wolff 1981, S. 345). Gleichzeitig jedoch muss der Forscher dar- auf achten, dass die Perspektive der fremden Kultur nicht zur eigenen wird, denn nur so kann die objektivierende Beobachterposition erhalten bleiben. Angesichts der fortschreitenden Diversifizierung und Pluralisierung von Lebenswelten in un- serer Gesellschaft (vgl. Beck 1986; Eckert/Winter 1990) wird diese Forderung immer wichti- ger. Mit den Fremden unter uns teilen wir einige Gemeinsamkeiten, z.B. bestimmte Formen der Alltagsorganisation oder ähnliche Reproduktionsbedingungen. In den Bereichen, die für das Selbstverständnis dieser Personen und mitunter auch für ihre Identität wichtig sind, etwa die ‚Lust am grausamen Bild’ bei den Horrorfans (vgl. Eckert u.a. 1990) oder - im vorliegen- den Fall - die Neigungen der Sadomasochisten, Paintball-Spieler und der Hooligans, versagt unser Verstehen, wenn wir unsere gewohnten Relevanzrahmen und Normen auf die fremden Erfahrungsräume übertragen. Dies macht es auch unumgänglich, die eigenen ästhetischen und aber eine notwendige Ergänzung, um Licht in die ‘Black Box’ junger Konsumenten zu bringen. Die Studie ‘Viewing the Viewers’ dient primär dem Verständnis der Bedürfnisse junger Zielgruppen. Sie ist somit relevant für die Programmplanung und für die Entwicklung einer ganzheitlichen Positionierungsstrategie von MTV. Gleichzeitig kann diese Art qualitativer Marktforschung auch ein wichtiges Tool für die Entwicklung von Marketingstrategien für ‘junge’ Produkte von Markenartiklern sein“ (MTV/GIM 1997). Ich selbst habe schließlich als Mitarbeiterin der GIM zusammen mit Gerhard Keim und in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin eine groß angelegte, von einem Auftraggeberkonsortium aus den Bereichen Medien, Kosmetik, Pet Food/Human Food und Automobil finanzierte, ethnographische Grundlagenstudie zum Thema ‘Senioren/50 Plus als attraktive Zielgruppe für das Marketing’ durchgeführt. 17 Die allzu häufige Nichtbeachtung dieser Aufgabe macht König (1984, S. 23) der Soziologie zum Vorwurf: "So erweist sich nur allzu deutlich, wenn man auch nur ein Mindestmaß an Kenntnis der gängigen soziologischen Forschung hat, daß das Phänomen des 'Fremden' eigentlich nirgendwo zu seinem wirklichen Gewicht in die Arbeit eingebracht wird, was natürlich der hemmungslosen Ausbreitung von Vorurteilen Tür und Tor öffnet." 19

<strong>de</strong> Arbeit gehört in diesen Rahmen. Ethnographisch-soziologische Forschung in dieser Tradi-<br />

tion meint, dass nicht nur frem<strong>de</strong> Völker, son<strong>de</strong>rn kulturelle Son<strong>de</strong>rwelten untersucht wer<strong>de</strong>n,<br />

die sich durch spezifische Differenzierungs- <strong>und</strong> Segregationsprozesse innerhalb <strong>de</strong>r eigenen<br />

Gesellschaft gebil<strong>de</strong>t haben. War die „Ethnologie ein Jahrh<strong>und</strong>ert lang wissenschaftliche<br />

Begleiterin <strong>von</strong> Kolonisation <strong>und</strong> Dekolonisation“ (Luyken 1996, S. 35), so untersucht <strong>de</strong>r<br />

mo<strong>de</strong>rne Ethnologe nicht die Stämme <strong>im</strong> Busch. Wer Exotik sucht, muss nicht (mehr) in die<br />

entlegenen Winkel <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> reisen, son<strong>de</strong>rn fin<strong>de</strong>t sie gleich um die Ecke, in <strong>de</strong>r New Yorker<br />

Bronx, in <strong>de</strong>n Pariser Banlieues, in <strong>de</strong>n U-Bahnen (vgl. Augé 1994) <strong>und</strong> - mit Blick auf die<br />

vorliegen<strong>de</strong> Arbeit - hinter ganz normalen <strong>de</strong>utschen Gardinen. Diese vielfach als Subkultu-<br />

ren - in <strong>de</strong>r Begrifflichkeit hier als Spezialkulturen - bezeichneten Enklaven wer<strong>de</strong>n genau so<br />

untersucht, als han<strong>de</strong>le es sich bei ihnen um frem<strong>de</strong> Ethnien. 15 Unter Kultur ist dabei <strong>im</strong> An-<br />

schluss an die kulturanthropologische Tradition ein Komplex <strong>von</strong> Be<strong>de</strong>utungen <strong>und</strong> Vorstel-<br />

lungen, <strong>de</strong>r symbolisch ausgedrückt wird, zu verstehen. Geertz (1983, S. 9) zufolge ist „<strong>de</strong>r<br />

Mensch ein Wesen, das in selbstgesponnene Be<strong>de</strong>utungsgewebe verstrickt ist, wobei Kultur<br />

als dieses ‘Gewebe’ anzusehen ist.“ Deshalb liegt die Aufgabe einer ethnographisch orientier-<br />

ten Kulturanalyse, die sich mit unserer Gesellschaft beschäftigt, <strong>im</strong> Verstehen <strong>von</strong> Sinnmus-<br />

tern. Sie verkörpern sich in <strong>de</strong>n Handlungen, Ritualen <strong>und</strong> Gegenstän<strong>de</strong>n, mittels <strong>de</strong>rer die<br />

Mitglie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Spezialkulturen miteinan<strong>de</strong>r kommunizieren. 16<br />

logischen Ansätzen eine lange Tradition. Insbeson<strong>de</strong>re die Vertreter <strong>de</strong>r Chicago School in <strong>de</strong>n USA verknüpften<br />

ethnologisches Wissen mit soziologischen Fragestellungen <strong>und</strong> gewannen nachhaltigen Einfluss auf<br />

die Soziologie. Beson<strong>de</strong>rs R.E. Park (1952) <strong>und</strong> W.L. Warner (1953) wur<strong>de</strong>n durch ihre ethnologische Großstadtforschung<br />

bekannt. Zu nennen sind weiter die Arbeit <strong>von</strong> F.M. Thrasher (1927) zu kr<strong>im</strong>inellen Gangs,<br />

die Street-Corner-Society-Studie <strong>von</strong> W.F. Whyte (1943) <strong>und</strong> die Arbeiten <strong>von</strong> H.S. Becker (1973) <strong>und</strong> J.<br />

Thomas (1983). Nicht zuletzt die Subkultur-, Jugend- <strong>und</strong> Medienforschung <strong>de</strong>s ‘Center for Contemporary<br />

Cultural Studies’ in Birmingham mit Arbeiten <strong>von</strong> P. Willis (1981; 1991), J. Clarke u.a. (1979) o<strong>de</strong>r J. Fiske<br />

(1987) sind in diesem Zusammenhang zu nennen.<br />

15 Der französische Soziologie M. Maffesoli (1988) bezeichnet diese Segmentierung als 'Neo-Tribalismus'. Er<br />

lehnt sich damit begrifflich an ethnologisches Gedankengut an. So, wie best<strong>im</strong>mte archaische Stammesformen<br />

eigenständige Kulturen hervorbringen, tun dies auch die Neo-Tribalisten in ihren Lebensräumen.<br />

16 Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass ethnologische Forschungsansätze resp. ethnographische Metho<strong>de</strong>n<br />

Einzug in die kommerzielle Marktforschung gehalten haben (vgl. Hörz 1996; Ke<strong>im</strong> 1999; Miller 1995;<br />

Shields 1992; Sherry 1995). Das auf qualitative Metho<strong>de</strong>n spezialisierte Marktforschungsinstitut GIM (Gesellschaft<br />

für innovative Marktforschung) mit Sitz in Hei<strong>de</strong>lberg hat <strong>im</strong> Jahr 1997 für <strong>de</strong>n Musiksen<strong>de</strong>r MTV<br />

eine ethnographische Jugendstudie durchgeführt. ‘Real-Life-Explorationen’ mittels Tiefeninterviews, Beobachtungen,<br />

Feldtagebüchern <strong>und</strong> Photodokumentationen geben Aufschluss über die thematischen Bereiche<br />

Medien, Shopping, Sport, Mo<strong>de</strong>, Ernährung o<strong>de</strong>r Nightlife <strong>und</strong> erlauben Aussagen zu gr<strong>und</strong>sätzlichen Werthaltungen,<br />

<strong>de</strong>r Markenverwendung <strong>und</strong> Marken-Settings <strong>von</strong> Jugendlichen <strong>im</strong> Alter zwischen 14 <strong>und</strong> 29 Jahren.<br />

Im Vorwort <strong>de</strong>s (veröffentlichten) Berichtes heißt es: „Generell haben die klassischen Erhebungsinstrumente<br />

<strong>de</strong>r Marktforschung ihre Grenzen, wenn es um die Erfassung <strong>de</strong>r sozialen Wirklichkeit <strong>und</strong> ihrer Dynamik<br />

geht. Dies gilt beson<strong>de</strong>rs für die Zuschauerschaft <strong>von</strong> MTV. So sind junge Opinion Lea<strong>de</strong>rs nicht nur<br />

schwer für klassische Marktforschungsprojekte zu gewinnen, ihre mentale Komplexität (beson<strong>de</strong>rs in bezug<br />

auf das Konsumverhalten) kann man genauso wenig auf vorgefertigte Standard-Items in Fragebögen reduzieren.<br />

Qualitative Studien sind sicherlich kein Ersatz für die quantitativen Markt- <strong>und</strong> Mediastudien. Sie sind<br />

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