Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de
Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von ... - PBportal.de
Thomas: Diese Praktiken machen mir Lust oder erzeugen bei mir ein Lustgefühl. In der passiven Rolle dieses Ausgeliefertsein, nichts tun können. Gleichzeitig fühle ich mich dadurch erleichtert, ich brauche nichts zu tun und ich brauche nichts zu denken (29 Jahre, S/M, schwul). Diese Entlastungsfunktion 83 ist bei manchen - wie gezeigt - schon in der Phantasie als Wunsch angelegt, z.B. als Überwältigungsphantasie und findet ihre Fortsetzung im realen Verhalten. Masochismus ist also auch eine Form des Ausstiegs aus den normativen Zwängen wie auch der Selbstkontrolle der sozialen Wirklichkeit. Je weiter der Ausstieg vom Alltag wegführt, desto höher wird aber auch der Preis, den der Masochist zahlen muss. Sich schlagen und fesseln lassen, Exkremente verspeisen und Schmerzen erleiden (vgl. Kap. III.1.5.1) sind nur einige der Opfer, die ein solcher ‚Ausbruchsversuch’ (vgl. Cohen/Taylor 1977) fordert. Vielleicht ist gerade die größtmögliche Diskrepanz zwischen Alltag und Enklave das Faszi- nierende an dieser Rolle. Sie wäre dann bei Firmenchefs, Politikern oder Managern, wenn sie beispielsweise über den Boden eines Dominastudios rutschen oder Sklavendienste leisten, am größten. Dabei geht es vermutlich nicht um die Kompensation von Macht oder Ohnmacht oder bei Frauen auch nicht um eine spezifische Reaktionsform auf die Jahrtausende währende Knechtung im Patriarchat. Hier konstituieren sich vielmehr spezifische Formen von Grenzer- fahrungen, die der Alltag nicht mehr erlaubt. An die masochistische Rolle sind neben den Gratifikationen, die der Masochist aus der Ent- lastungs- und Identitätsfunktion seiner Rolle zieht, noch weitere Entschädigungen geknüpft. Indem sich der Masochist ausliefert und damit dem Dominanzanspruch des aktiven Partners entgegenkommt, kann er sich der umfassenden Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hinge- ben, während sich der aktive Partner um das - im weitesten Sinne - Wohlergehen des Dieners kümmern und das Szenario auch noch spannend inszenieren muss. Die aktiven Personen müs- sen hingegen viel stärker auf ihre Selbstkontrolle achten, um im Spiel mit den Grenzen keine Verletzungen zu riskieren. 83 Stein (1974, S. 263) hat im übrigen in ihrer Studie einen ähnlichen Zusammenhang herausgestellt: "The Slave scenes then appeared to function therapeutically by allowing clients to enjoy various sexual practices without guilt, to relieve anxieties by a symbolic retreat into childhood, to compensate for sadistic or domineering behavior in other areas of their life, to act impulses toward a pleasurable end. The sessions certainly enabled the men to relieve sexual tensions by acting our fairly strong desires they would otherwise have to suppress." 140
1.6.2 Schmerz und Ekel Die Darstellung der verschiedenen Praktiken hat deutlich gemacht, dass im sadomasochisti- schen Ritual auch das Schmerz-Zufügen resp. -Erleiden oder die Verletzung bestimmter E- kelgrenzen eine Rolle spielen. Ihre Bedeutung ist im Folgenden dargestellt. Der Schmerz Die Schmerzforschung ist ein verhältnismäßig junger Zweig der Neurophysiologie und der Biopsychologie. Dementsprechend gibt es nur wenig gesichertes Wissen über den Schmerz. Fest steht, dass Menschen ebenso wie tierische Organismen über spezielle Sensoren verfügen, die nur durch gewebsschädigende oder bedrohende Reize (Noxen) erregt werden. Die Rezep- toren bezeichnet man als Nociceptoren, die auf mechanische, thermische und chemische Ein- flüsse reagieren können. Manche Nociceptoren sind unimodal, d.h. sie antworten nur auf eine bestimmte Reizart; die meisten sind jedoch polymodal und können durch verschiedene Reiz- arten aktiviert werden. Die Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbeitung noxi- scher Signale bezeichnet man als Nociception. Die Erregung der entsprechenden Sensoren löst die subjektive Empfindung ‚Schmerz’ aus. Dieser wiederum signalisiert, dass entweder von außen oder von innen kommende Reize dem Körper Schaden zuzufügen drohen. 84 Das Schmerzerlebnis ist beim einzelnen Menschen zumeist mit Unlustgefühlen verbunden: „Der unseeligen Koppelung von körperlichem Schmerz und Angst können wir überall begegnen: in den Warte- und Behandlungszimmern von Zahnärzten, in den Kreißsälen der Krankenhäuser, am extremsten jedoch auf den onkologischen Stationen. Immer wieder treffen wir Menschen, die nicht die Krankheit ängstigt, sondern der Schmerz; Menschen, die nicht der Tod ängstigt, sondern das mit Schmerzen verbundene Sterben“ (Keeser 1990, S. 48). Damit wird deutlich, dass Schmerz sehr häufig Abwehr- und Fluchtreaktionen auslöst. Schmerzsituationen werden nach Möglichkeit gemieden und aus dem alltäglichen Erfahrungsrepertoire ferngehalten. Anders im sadomasochistischen Rahmen. Bereits die frühen Sexualwissenschaftler weisen auf die wichtige Rolle des Schmerzes für das sadomasochistische Erlebnis hin. Auch Weinberg u.a. (1984, S. 382) betonen diesen Sachverhalt: “Most lay and professional discussions of sadomasochitic emphasize the physical pain involved.” Im sadomasochistischen Arrangement kann der Schmerz Teil des Herrschafts- und Unterwerfungsrituals sein. Er wird zumeist nur von der passiven Person ertragen. Der aktive Teil versichert sich auf diese Weise der Unter- 84 Zur Schmerzforschung vgl.: Birbaumer/Schmidt(1990); Euler/Mandl(1983); Keeser u.a. (1982); Pöp- pel/Bullinger(1990); Schmidt/Thews(1987). 141
- Seite 89 und 90: macht, was mir am meisten bringt. I
- Seite 91 und 92: Rekruten und einen oder manchmal au
- Seite 93 und 94: Schamlippen zunähen will, dann sol
- Seite 95 und 96: Abb.: „Behandlungsraum“ mit Wer
- Seite 97 und 98: sche in Form pornographischer Erzä
- Seite 99 und 100: gebote ist sicherlich der Mangel an
- Seite 101 und 102: können manche Besucher ihren pers
- Seite 103 und 104: verstehen sich nicht als Prostituie
- Seite 105 und 106: Keine finanziellen Interessen. Aber
- Seite 107 und 108: sind z.B. heimliche Erkennungs- ode
- Seite 109 und 110: Luhmann versteht Kommunikation als
- Seite 111 und 112: noch die Jeans, von Bedeutung. Eine
- Seite 113 und 114: Dabei ist der Kunstschwanz, den mei
- Seite 115 und 116: nicht, dich zu befriedigen, du klei
- Seite 117 und 118: schränken, wie sie seit dem 17. Ja
- Seite 119 und 120: Abb: Flaggelationswerkzeuge (Quelle
- Seite 121 und 122: Abb.: Ganzkörper-Bondage im Gummia
- Seite 123 und 124: Abb.: Keuschheitsgürtel für Mann
- Seite 125 und 126: Fritz: Meine Vorlieben in den Prakt
- Seite 127 und 128: Mit der zunehmenden Szene-Einbindun
- Seite 129 und 130: ihrem Besuch und wenn ich es ihr ge
- Seite 131 und 132: Helga: Mein Herr hatte einmal Besuc
- Seite 133 und 134: ße tun? Nach längerem Herumirren
- Seite 135 und 136: Typisch für das sadomasochistische
- Seite 137 und 138: Bedeutungen verbirgt sich vermutlic
- Seite 139: vorziehen.“ Ob das Phänomen des
- Seite 143 und 144: Maria: Es kommt drauf an, ob man si
- Seite 145 und 146: ist die Umgebungs- und Schmerzwahrn
- Seite 147 und 148: noch nicht einmal für eine ansonst
- Seite 149 und 150: SM-Lesben haben sich zu diesen Form
- Seite 151 und 152: ohnmächtig zu werden. Ich bin es n
- Seite 153 und 154: Gewaltaffinität, die sadomasochist
- Seite 155 und 156: Diana: Wenn ich nicht das Gefühl h
- Seite 157 und 158: mit Gewalt in den Käfig zu sperren
- Seite 159 und 160: keine Fingernägel mehr gehabt. Da
- Seite 161 und 162: heitsberaubungen, z.B. bei erzwunge
- Seite 163 und 164: mit Tätowierungen. Da bin ich vor
- Seite 165 und 166: 1.9 Frauen und Sadomasochismus Das
- Seite 167 und 168: to factors inherent in the anatomic
- Seite 169 und 170: keit, die die Verbindung von Sexual
- Seite 171 und 172: ses Romans wurde häufig angezweife
- Seite 173 und 174: des ‚sexual liberation movement
- Seite 175 und 176: Zusammenfassung und Thesen In der f
- Seite 177 und 178: fragen, wie die Erfahrungen mit sad
- Seite 179 und 180: fahr aufregend für sie: Ich habe f
- Seite 181 und 182: minismus und Sadomasochismus im All
- Seite 183 und 184: Fall 2: Carmen - ...ich fühle mich
- Seite 185 und 186: professioneller erotischer Atmosph
- Seite 187 und 188: Das sexuelle Erlebnis spielt für C
- Seite 189 und 190: mene handelt: Als Sadistin, Domina
1.6.2 Schmerz <strong>und</strong> Ekel<br />
Die Darstellung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Praktiken hat <strong>de</strong>utlich gemacht, dass <strong>im</strong> sadomasochisti-<br />
schen Ritual auch das Schmerz-Zufügen resp. -Erlei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Verletzung best<strong>im</strong>mter E-<br />
kelgrenzen eine Rolle spielen. Ihre Be<strong>de</strong>utung ist <strong>im</strong> Folgen<strong>de</strong>n dargestellt.<br />
Der Schmerz<br />
Die Schmerzforschung ist ein verhältnismäßig junger Zweig <strong>de</strong>r Neurophysiologie <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
Biopsychologie. Dementsprechend gibt es nur wenig gesichertes Wissen über <strong>de</strong>n Schmerz.<br />
Fest steht, dass Menschen ebenso wie tierische Organismen über spezielle Sensoren verfügen,<br />
die nur durch gewebsschädigen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r bedrohen<strong>de</strong> Reize (Noxen) erregt wer<strong>de</strong>n. Die Rezep-<br />
toren bezeichnet man als Nociceptoren, die auf mechanische, thermische <strong>und</strong> chemische Ein-<br />
flüsse reagieren können. Manche Nociceptoren sind un<strong>im</strong>odal, d.h. sie antworten nur auf eine<br />
best<strong>im</strong>mte Reizart; die meisten sind jedoch polymodal <strong>und</strong> können durch verschie<strong>de</strong>ne Reiz-<br />
arten aktiviert wer<strong>de</strong>n. Die Aufnahme, Weiterleitung <strong>und</strong> zentralnervöse Verarbeitung noxi-<br />
scher Signale bezeichnet man als Nociception. Die Erregung <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Sensoren<br />
löst die subjektive Empfindung ‚Schmerz’ aus. Dieser wie<strong>de</strong>rum signalisiert, dass entwe<strong>de</strong>r<br />
<strong>von</strong> außen o<strong>de</strong>r <strong>von</strong> innen kommen<strong>de</strong> Reize <strong>de</strong>m Körper Scha<strong>de</strong>n zuzufügen drohen. 84 Das<br />
Schmerzerlebnis ist be<strong>im</strong> einzelnen Menschen zumeist mit Unlustgefühlen verb<strong>und</strong>en: „Der<br />
unseeligen Koppelung <strong>von</strong> körperlichem Schmerz <strong>und</strong> Angst können wir überall begegnen: in<br />
<strong>de</strong>n Warte- <strong>und</strong> Behandlungsz<strong>im</strong>mern <strong>von</strong> Zahnärzten, in <strong>de</strong>n Kreißsälen <strong>de</strong>r Krankenhäuser,<br />
am extremsten jedoch auf <strong>de</strong>n onkologischen Stationen. Immer wie<strong>de</strong>r treffen wir Menschen,<br />
die nicht die Krankheit ängstigt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Schmerz; Menschen, die nicht <strong>de</strong>r Tod ängstigt,<br />
son<strong>de</strong>rn das mit Schmerzen verb<strong>und</strong>ene Sterben“ (Keeser 1990, S. 48). Damit wird <strong>de</strong>utlich,<br />
dass Schmerz sehr häufig Abwehr- <strong>und</strong> Fluchtreaktionen auslöst. Schmerzsituationen wer<strong>de</strong>n<br />
nach Möglichkeit gemie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> aus <strong>de</strong>m alltäglichen Erfahrungsrepertoire ferngehalten.<br />
An<strong>de</strong>rs <strong>im</strong> sadomasochistischen Rahmen. Bereits die frühen Sexualwissenschaftler weisen auf<br />
die wichtige Rolle <strong>de</strong>s Schmerzes für das sadomasochistische Erlebnis hin. Auch Weinberg<br />
u.a. (1984, S. 382) betonen diesen Sachverhalt: “Most lay and professional discussions of<br />
sadomasochitic emphasize the physical pain involved.” Im sadomasochistischen Arrangement<br />
kann <strong>de</strong>r Schmerz Teil <strong>de</strong>s Herrschafts- <strong>und</strong> Unterwerfungsrituals sein. Er wird zumeist nur<br />
<strong>von</strong> <strong>de</strong>r passiven Person ertragen. Der aktive Teil versichert sich auf diese Weise <strong>de</strong>r Unter-<br />
84 Zur Schmerzforschung vgl.: Birbaumer/Schmidt(1990); Euler/Mandl(1983); Keeser u.a. (1982); Pöp-<br />
pel/Bullinger(1990); Schmidt/Thews(1987).<br />
141