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Dr. Verena Böll

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Artikel<br />

DIE SCHULE IN DER KIRCHE<br />

In dem wunderbaren Reisebuchladen in unserem<br />

Viertel <strong>Dr</strong>esden Neustadt blätterte ich in dem<br />

neusten Reiseführer Äthiopiens. Ich schaute mir<br />

die Bilder der Kirchen besonders intensiv an.<br />

Meine Tochter Lilly fragte sogleich, was denn<br />

die Jungen dort auf dem Bild machen würden.<br />

„Sie gehen in die Schule“, sagte ich völlig selbstverständlich.<br />

Lilly fragte erstaunt: „Sind denn in<br />

Äthiopien alle Schulen in der Kirche?“.<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Verena</strong> <strong>Böll</strong> mit Tochter Lilly<br />

Foto: <strong>Dr</strong>. V. <strong>Böll</strong><br />

Nein, sagte ich, die Schulen befinden sich in eigenen<br />

Gebäuden, wie hier in Deutschland, aber<br />

in den Kirchen gibt es die Kirchenschulen, in denen<br />

das Wissen der äthiopischen Kirche vermittelt<br />

wird. „Aber wird das denn nicht im Religionsunterricht<br />

in den Schulen unterrichtet?“ fragte<br />

sie erstaunt.<br />

So kam ich ins Erzählen und mir wurde einmal<br />

mehr bewusst, wie komplex das System der Kirchenschulen<br />

ist. Ich verglich es mit einem Baum,<br />

bei dem sich in der Mitte des Stammes die Äste<br />

auseinander biegen und die Äste wiederum sind<br />

versehen mit vielen Zweigen.<br />

Das Erklimmen des Stammes ist die erste Voraussetzung,<br />

um an die Äste zu gelangen. Die<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 62 / November 2009<br />

Grundausbildung, die ca. 7 Jahre dauert, erfolgt<br />

im Nebab Bet, im Haus des Lesens. Haus bedeutet<br />

in diesem Zusammenhang immer Schule. In<br />

diesem ersten Ast werden die Buchstaben (182<br />

für Ge'ez (Alt-Äthiopisch); 275 für Amharisch),<br />

das Lesen und die richtige Intonisierung beim<br />

Lesen der heiligen Texte gelehrt, heutzutage wird<br />

auch das Schreiben eingeübt. Der Lernstoff wird<br />

weitestgehend mündlich gelehrt, die Schüler lernen<br />

nach der bewährten Methode des Auswendiglernens,<br />

bei dem die Schüler so lange die Sätze<br />

des Lehrers rhythmisch wiederholen, bis sie<br />

sie beherrschen. Der Höhepunkt dieser Ausbildung<br />

bildet das als 'Dawit' bezeichnete Lesen<br />

und Rezitieren der Psalmen. Wenn die Schüler<br />

auf den Stamm geklettert sind, bekommen sie ein<br />

Zeugnis und haben somit eine Schulausbildung<br />

abgeschlossen. Viele werden nun Diakon und<br />

klettern nicht weiter.<br />

Die Äste des Baumes beginnen nun zu sprießen.<br />

Die Schüler gehen meist neben ihrer Arbeit zur<br />

Schule, abends oder früh morgens (vier Uhr); um<br />

bis zur Spitze zu gelangen, werden daher oft<br />

dreißig Jahre benötigt. Viele studieren deshalb<br />

nur einige Jahre und spezialisieren sich auf ein<br />

Fach; manche setzen jedoch in späteren Jahren<br />

ihr Studium fort.<br />

Ein Ast ist das Qeddase Bet, das Haus der Liturgie.<br />

Wer innerhalb der Kirche tätig werden<br />

möchte, z.B. als Priester, erwirbt hier die Grundkenntnisse<br />

der Liturgie, der Gottesdienstordnung:<br />

die verschiedenen Hochgebete (Anaphora), die<br />

Stundengebete, die Sakramente etc. Bei einem<br />

erfolgreichen Abschluss könnte die Weihe zum<br />

Priester erfolgen.<br />

Das Zema Bet, das Haus des Liedes, ist der nächste<br />

Ast. Diese Ausbildung ist hauptsächlich für<br />

die Däbtära gedacht, die Gelehrten, die während<br />

der Liturgie die Gesänge und die rituellen Tänze<br />

ausführen. Das Zema Bet selbst ist wiederum mit<br />

vier Zweigen versehen. Im Deggwa Bet, Haus<br />

der Hymnen, werden die Lieder und Hymnen des<br />

liturgischen Jahres gelehrt. Weiter geht es mit<br />

Zemmare und Mawase'ett. Mit Zemmare bezeichnet<br />

man die Lieder, die am Ende der Liturgie<br />

gesungen werden; Mawase'ett beinhaltet die<br />

liturgischen Gesänge für die Toten, Beerdigungen<br />

und Totengedächtnisse. Der Umfang der vorhandenen<br />

Kirchenmusik besteht zurzeit aus ca.<br />

10.000 Gesängen und Gebeten. Im Qeddase und<br />

Sa'atat werden die Kenntnisse vom Qeddase Bet<br />

so vertieft, dass die Schüler befähigt werden, sel-<br />

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34 Artikel<br />

ber als Lehrer für diese Fächer zu fungieren. Im<br />

Aqwaqwam, im höchsten Zweig des Zema Bet<br />

wird die Rhythmik der Hymnen, die liturgischen<br />

Tänze mit Schrittfolge, Händeklatschen und die<br />

musikalische Betätigung von Sistrum und Gebetsstock<br />

erlernt.<br />

Der nächste starke Ast ist das Qene Bet, Haus des<br />

Gedichtes. Qene, die äthiopische Dichtkunst,<br />

verlangt eine hohe Kenntnis des Ge'ez. Im Qene<br />

Bet werden berühmte Gedichte tradiert und die<br />

Schüler dichten eigene Qene. In diesem Fach<br />

sind zwei starke Äste vorhanden, die kirchlichen<br />

Qene und die weltlichen Qene. Die beiden Äste<br />

haben nun besonders viele Zweige, es gibt neun<br />

Grundformen und von diesen zweigen sich weitere<br />

Varianten ab, die jeweils durch ihre Grammatik<br />

und Satzaufbau gekennzeichnet sind. Hier<br />

kommt es besonders auf die Kreativität der Dichter<br />

an, denn das Prinzip der Doppeldeutigkeit,<br />

die Technik des „Wachs und Gold“ wird angewendet.<br />

Das erste Verständnis des Textes ist der<br />

Wachs, und erst nach intensivem Studium kommt<br />

das Gold, die wahre Bedeutung, ans Licht. Die<br />

Qene werden gesungen vorgetragen.<br />

Der höchste Ast der kirchlichen Ausbildung ist<br />

das Mashaf Bet, das Haus des Buches. Hier werden<br />

Hermeneutik und Exegese gelehrt. Dieser<br />

Ast besteht aus vier sehr starken Zweigen, von<br />

denen dünnere Zweige auseinander sprießen. Die<br />

vier Zweige sind Beluy (Altes Testament), indem<br />

die Kommentare Tergwame und Andemta zum<br />

Alten Testament gelehrt werden. Weiter geht es<br />

mit Haddis (Neues Testament), den Kommentaren<br />

zum Neuen Testament. Der dritte Zweig sind<br />

die Liqawent (Gelehrten), wo die Schriften der<br />

Kirchenväter und die Kommentare zu diesen<br />

Schriften studiert werden, sowie die Kommentare<br />

zur monastischen und liturgischen Literatur.<br />

Fetha Nagast (Recht der Könige), mit den Kommentaren<br />

und der Auslegung der Rechtsprechung<br />

ist der vierte Ast.<br />

Die TS unterstützt daher, um dieses umfassende<br />

Kirchenschulsystem weiter zu erhalten und zu<br />

fördern, fünf der berühmtesten Kirchenschulen in<br />

Äthiopien: Bethlehem (Beta léhem) - Täklä Haymanot<br />

Deggwa School, Mäkanä Iyäsus, Este<br />

(Éste), Mahdärä Maryam Church School<br />

(Maòdärä Maryam), Zuramba Zemmare Mäwaset<br />

Church School (Zémmare Mäwaíéýt) und<br />

Mädhane Aläm Gubay Bet, Gondär (Mädòane<br />

ŸAläm).<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 62 / November 2009<br />

Lilly sah diesen interessanten Baum bildlich vor<br />

sich und wollte sogleich anfangen zu klettern.<br />

Sie fragte, ob den auch Mädchen Kirchenschüler<br />

werden können. Auf den Stamm könnten sie<br />

schon klettern, antwortete ich, aber auf die Äste<br />

nicht. Doch es gibt weitere Bäumchen, die Sonntagsschulen<br />

(Sunday School) die Schulen der<br />

Mahibere Kidusan, die theologisches Wissen unterrichten,<br />

die Ausbildungsstätte für den Kirchenchor<br />

und natürlich die private Weitergabe des<br />

Wissens, auf denen auch Mädchen klettern könnten.<br />

Ich versprach, dass wir bald nach Äthiopien reisen<br />

werden und sie sich diesen Baum und die anderen<br />

Bäumchen selbst anschauen kann.<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Verena</strong> <strong>Böll</strong><br />

Als Anmerkung zum Bericht von Frau Dorothea<br />

Georgieff (Seite 24):<br />

Aus KuS 12, (Juli 1981)<br />

Die beiden Heiligtümer Daga Estifanos und Ura<br />

Kidana Mehret im Tanasee sind berühmte Wallfahrtsstätten.<br />

In Daga Estifanos weilte einer der<br />

heiligen Asketen: Yafgeranna Egzi. Von ihm<br />

wird erzählt, dass er einem Jünger zu der Zeit, da<br />

er noch nicht auf diese in der Mitte des Sees gelegene<br />

Insel übergesiedelt war, befohlen habe,<br />

am Sabbat die heiligen Gefäße zur Eucharistie<br />

aus dem Kloster Daga zu holen. Das damit verbundene<br />

Rudern musste aber unter die verbotenen<br />

Handlungen des Sabat gerechnet werden.<br />

„Oh Vater“, sagte der Jünger, „ es ist ja heute<br />

Sabbat.“ Der Heilige antwortete: „Geh heute!“<br />

Traurig stieg der Jünger ins Boot, aber die verbotene<br />

Arbeit wurde ihm dank eines göttlichen Eingreifens<br />

doch nicht abgefordert. Er schlief ein<br />

und wachte erst wieder auf, als er wunderbar dahin<br />

treibend auf der Insel Daga angelangt war.<br />

Auf der Rückfahrt schlief er wie auf der Hinfahrt<br />

und kam im Nu bei seinem Meister an.<br />

Prof. Friedrich Heyer

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