eBOOK-Bibliothek ›Gedichte der Woche‹ 2004 - Igelity
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› Gedichte <strong>der</strong> Woche ‹ <strong>2004</strong>
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› Gedichte <strong>der</strong> Woche ‹ <strong>2004</strong><br />
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BIBLIOTHEK<br />
littera scripta manet
Der Dichter ist eine Welt, eingeschlossen in einen Menschen.<br />
Victor Hugo (1802 – 1885)<br />
1. Ausgabe, Dezember <strong>2004</strong><br />
© <strong>eBOOK</strong>-<strong>Bibliothek</strong> <strong>2004</strong> für diese Ausgabe
Vorwort<br />
Die <strong>eBOOK</strong>-<strong>Bibliothek</strong> bietet Ihnen seit dem 14. Februar <strong>2004</strong> eine ständig<br />
wachsende Auswahl an größeren und kleineren eBooks zum kostenlosen<br />
Download an. Das eBook eignet sich zwar hervorragend, um Ihnen auch<br />
einzelne Erzählungen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e kleinere Geschichten <strong>der</strong> verschiedensten<br />
Autoren und Autorinnen zu präsentieren; für einzelne Gedichte, die<br />
uns beim Stöbern in alten Büchern beson<strong>der</strong>s auffielen, schien uns ein<br />
eBook jedoch nicht das Passende zu sein. Aus diesem Grund entstand in <strong>der</strong><br />
<strong>eBOOK</strong>-<strong>Bibliothek</strong> am 9. Mai <strong>2004</strong> das ›Gedicht <strong>der</strong> <strong>Woche‹</strong>, etwas später<br />
zusätzlich unsere ›Losen Blätter‹. Seitdem stellen wir Ihnen jeden Sonntag<br />
eines unserer favorisierten Gedichte vor – meist sogar in eigener Übertragung<br />
ins Deutsche. Ein großes Dankeschön geht dabei an milalis, die diese<br />
Gedichtsammlung mit ihren wun<strong>der</strong>vollen Übertragungen bereicherte, und<br />
dafür sorgte, das einige <strong>der</strong> enthaltenen Gedichte erstmals den Weg in den<br />
deutschen Sprachraum fanden.<br />
Nachdem wir das Jahr <strong>2004</strong> mit Spottversen von Johann Wolfgang von<br />
Goethe, dem wohl bedeutendsten Vertreter <strong>der</strong> deutschen Literatur, ausklingen<br />
ließen, möchten wir Ihnen mit diesem eBook eine Zusammenfassung<br />
aller <strong>›Gedichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Woche‹</strong> dieses Jahres präsentieren.<br />
Wir hoffen, daß Ihnen diese kleine Gedichtsammlung ebensogut gefällt<br />
wie uns, und wünschen Ihnen ein frohes neues Jahr 2005.<br />
Matthias Klemm
Der Panther<br />
Im Jardin des Plantes, Paris<br />
Sein Blick ist vom Vorübergehn <strong>der</strong> Stäbe<br />
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.<br />
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe<br />
und hinter tausend Stäben keine Welt.<br />
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,<br />
<strong>der</strong> sich im allerkleinsten Kreise dreht,<br />
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,<br />
in <strong>der</strong> betäubt ein großer Wille steht.<br />
Nur manchmal schiebt <strong>der</strong> Vorhang <strong>der</strong> Pupille<br />
sich lautlos auf —. Dann geht ein Bild hinein,<br />
geht durch <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> angespannte Stille —<br />
und hört im Herzen auf zu sein.<br />
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
Absage<br />
(Отказ)<br />
Weit mehr liebe ich es,<br />
In die Sterne zu seh’n,<br />
Als ein Todesurteil fällen zu müssen.<br />
Weit mehr liebe ich es,<br />
Alle Blumen zu hör’n,<br />
Wie sie flüstern: ›Er ist’s!‹,<br />
Wenn ich im Garten geh’,<br />
Als Gewehre zu seh’n,<br />
Die sie vernichten woll’n,<br />
Die mich zu töten such’n.<br />
Und deshalb werd’ ich nie,<br />
Nie,<br />
Niemals zu herrschen wünsch’n.<br />
<br />
Мне гораздо приятнее<br />
Смотреть на звезды,<br />
Чем подписывать смертный приговор.<br />
Мне гораздо приятнее<br />
Слушать голоса цветов,<br />
Шепчущих «это он!»,<br />
Когда я прохожу по саду,<br />
Чем видеть ружья,<br />
Убивающие тех, кто хочет<br />
Меня убить.<br />
Вот почему я никогда,<br />
Никогда<br />
Не буду правителем!<br />
Viktor Wladimirowitsch Chlebnikow (1885 – 1922)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Quatrain<br />
(Persischer Vierzeiler)<br />
Abolfat’h Ghia’th-e-din Ebrahim Khayyam
SO SCHÖN, WIE DEN SCHÖNSTEN LIPPEN ENTSPRUNGEN<br />
HÄLT DER BLUMIGE RASEN DEN BACH UMSCHLUNGEN.<br />
BETRITT NICHT VERÄCHTLICH DIES ZARTE GRÜN,<br />
DRIN VERGANGENE SCHÖNHEITEN NEU ERBLÜHN.<br />
(Deutsche Übertragung von Friedrich Rosen)<br />
<br />
AND THIS DELIGHTFUL HERB WHOSE TENDER GREEN<br />
FLEDGES THE RIVER’S LIP ON WICH WE LEAN —<br />
AH, LEAN UPON IT LIGHTLY! FOR WHO KNOWS<br />
FROM WHAT ONCE LOVELY LIP IT SPRINGS UNSEEN!<br />
(Englische Übertragung von Edward Fitzgerald)<br />
<br />
VOIS L’HERBE DONT LE BOARD DU S’AGRÉMENTE<br />
ON DIRAIT LE DUVET D’UNE LÈVRE CHARMANTE.<br />
NE POSE PAS LES PIEDS SUR L’HERBE AVES DÉDAIN,<br />
PAR LÀ LE SOL ÉTAIT VISAGE D’AMANTE.<br />
(Französische Übertragung von Dr. Ettessamzadeh)<br />
<br />
(Arabische Übertragung von Ahmad Safi-el-Nadjafi)
Hymne an Aphrodite<br />
()<br />
Reich geschmückt dein Thron, ew’ge Aphrodite,<br />
Kind des Zeus, Frau <strong>der</strong> Frauen, ich fleh’ dich an<br />
In Kummer und Sorge zerstöre mich nicht.<br />
Mächt’ge, mein Leben!<br />
Komme hierher, wie schon eimmal, um meine<br />
Bitte zu hören von weitem vernahmst du’s<br />
Verließest des Vaters goldene Heimstatt,<br />
Voller Glanz kamst du<br />
Im Gespann hell und klar brachten dich Tauben<br />
Im schnellen Flug über die schwarze Erde<br />
Unter viel Flügelschlag vom Himmel herab<br />
Durch mittler’n Äther.<br />
Nun sind sie da und du O Glückselige<br />
Mit deinem hochedlem göttlichen Lächeln<br />
Du Fragst mich, woran ich leide und was ich<br />
Von dir erflehe<br />
Und was ich mir nun am meisten mit meinem<br />
Verrückten Herzen wünschte, wen soll Peitho<br />
Dir nun bringen, meine Liebe. Wer hat dich<br />
O Sappho verletzt.<br />
Auch wenn sie entflieht, wird sie doch bald folgen,<br />
Wenn sie kein Geschenk nimmt, wird sie doch schenken<br />
Wenn sie nicht liebt, wird sie doch Liebe geben<br />
Sie hat keine Wahl.<br />
Komm’ zu mir, schüttle ab den inn’ren Aufruhr<br />
Lasse los und was mein Herz sich wünscht zu tun<br />
Das tue du! Und du selbst sollst sein im Kampf<br />
Meine Genossin.
Ποικιλόθρον’, ἀθάνατ’ Ἀφρόδιτα,<br />
παῖ Δίος, δολόπλοκε, λίσσομαί σε<br />
μή μ’ ἄσαισι μήτ’ ὀνίαισι δάμνα,<br />
πότνια, θῦμον·<br />
ἀλλὰ τυῖδ’ ἔλθ’, αἴποτα κἀτέρωτα<br />
τᾶς ἔμας αὔδως ἀΐοισα πήλυι<br />
ἒκλυες, πάτρος δὲ δόμον λίποισα<br />
χρύσιον ἦλθες<br />
ἄρμ’ ὐποζεύξαισα· κάλοι δέ σ’ ἆγον<br />
ὤκεες στροῦθοι περὶ γᾶς μελαίνας<br />
πύκνα δινεῦντες πτέρ’ ἀπ’ ὠράνω αἴθερας<br />
διὰ μέσσω.<br />
αἶψα δ’ ἐξίκοντο· τὺ δ’, ὦ μάκαιρα,<br />
μειδιάσαισ’ ἀθανάτῳ προσώπῳ,<br />
ἤρε’, ὄττι δηὖτε πέπονθα κὤττι<br />
δηὖτε κάλημι,<br />
κὤττι μοι μάλιστα θέλω γένεσθαι<br />
μαινόλᾳ θύμῳ· τίνα δηὖτε Πείθω<br />
μαῖς ἄγην ἐς σὰν φιλότατα, τίς σ’, ὦ<br />
Ψάπφ’, ἀδικήει;<br />
καὶ γὰρ αἰ φεύγει, ταχέως διώξει,<br />
αἰ δὲ δῶρα μὴ δέκετ’ ἀλλὰ δώσει,<br />
αἰ δὲ μὴ φίλει, ταχέως φιλήσει<br />
κωὐκ ἐθέλοισα.<br />
ἔλθε μοι καὶ νῦν, χαλεπᾶν δὲ λῦσον<br />
ἐκ μεριμνᾶν, ὄσσα δέ μοι τελέσσαι<br />
θῦμος ἰμέρρει, τέλεσον· σὺ δ’ αὔτα<br />
σύμμαχος ἔσσο.<br />
Sappho (ca. 625 – 570 v. Ch.)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Der Blinde und <strong>der</strong> Lahme<br />
Von ungefähr muß einen Blinden<br />
Ein Lahmer auf <strong>der</strong> Straße finden,<br />
Und jener hofft schon freudenvoll<br />
Daß ihn <strong>der</strong> andre leiten soll.<br />
Dir, spricht <strong>der</strong> Lahme, beizustehen<br />
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;<br />
Doch scheint’s, daß du zu einer Last<br />
Noch sehr gesunde Schultern hast.<br />
Entschließe dich, mich fortzutragen,<br />
So will ich dir die Stege sagen:<br />
So wird dein starker Fuß mein Bein,<br />
Mein helles Auge deines sein.<br />
Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,<br />
Sich auf des Blinden breiten Rücken.<br />
Vereint wirkt also dieses Paar,<br />
Was einzeln keinem möglich war.<br />
Du hast das nicht, was andre haben,<br />
Und an<strong>der</strong>n mangeln deine Gaben;<br />
Aus dieser Unvollkommenheit<br />
Entspringet die Geselligkeit.<br />
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,<br />
Die die Natur für mich erwählte,<br />
So würd’ er nur für sich allein<br />
Und nicht für mich bekümmert sein.<br />
Beschwer die Götter nicht mit Klagen!<br />
Der Vorteil, den sie dir versagen<br />
Und jenem schenken, wird gemein:<br />
Wir dürfen nur gesellig sein<br />
Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769)
Adhortatio Mulierum<br />
(Adhortatio Mulierum)<br />
Wenn wir beide zu Besuch geladen sind,<br />
sollen deine Zunge und dein Mund nur aufgefor<strong>der</strong>t sprechen,<br />
denn wenn diese zwei viel schwatzen,<br />
werden die Jünglinge, die es sehen, nur spotten,<br />
werden dich einen ›schwatzenden Häher‹ nennen.<br />
Wenn wir auf <strong>der</strong> Straße nur zu zweit gehen,<br />
gehe nicht vor mir, wenn wir gehen,<br />
denn wenn du vor mir gehen solltest, dann, fürchte ich,<br />
werden die Jünglinge, die es sehen, nur spotten,<br />
werden dich ›die Führerstute‹ nennen.<br />
Wenn Boten zu unserem Haus kommen,<br />
sollst du den Boten nicht antworten,<br />
denn wenn du den Boten antwortest,<br />
werden die Jünglinge, die es sehen, nur spotten,<br />
werden dich den ›Richter Simon‹ nennen.<br />
Wenn du das versprichst, dann verspreche ich dir,<br />
wird mein Vieh und mein Geld dir gehören,<br />
und du wirst mir große Ehre machen,<br />
die Jünglinge, die es sehen, werden nicht spotten,<br />
und mich einen großen, glücklichen Mann heissen.<br />
Wenn du dies nicht versprichst, dann soll Gott<br />
deinen Rücken vor Stock und Rute nicht verschonen,<br />
sollen deine Wangen rot vor Scham erglühen,<br />
soll dein Rücken die schöne, lange Rute spüren.
Ha mikor ketten vendéggé hínak,<br />
nyelved és az szád kérdve szóljanak,<br />
mert ha ok ketten sokat csácsognak:<br />
ifjak, kik látják, csak megcsúfolnak,<br />
tégedet mondnak csácsogó szajkónak.<br />
Mikor egy úton csak ketten megyünk,<br />
elottem ne járj akkor hogy megyünk,<br />
mert ha elottem járandasz, félek:<br />
ifjak kik látják, csak megcsúfolnak,<br />
tégedet mondnak kabola-vezérnek.<br />
Ha mikor követek házunkhoz jönnek,<br />
te meg ne felelj az követeknek,<br />
mert ha megfelelsz az követeknek:<br />
ifjak kik látják, csak megcsúfolnak,<br />
tégedet mondnak az Simon bírónak.<br />
Ha megfogadod, magam igérem,<br />
marhám és pénzem mind tiéd lészen,<br />
te léssz énnékem nagy tisztességem:<br />
ifjak, kik látják, meg nem csúfolnak,<br />
engemet mondnak nagy boldog embernek.<br />
Ha nem fogadod, Isten ne mentsen<br />
bottól, pálcától az te hátadat,<br />
piros orcádat szégyenvallástól,<br />
hátadnak hosszát szép sudár pálcától.<br />
Anonymes ungarisches Gedicht aus Számos um 1550<br />
(Freie deutsche Übertragung von milalis)
Mondnacht<br />
Es war, als hätt <strong>der</strong> Himmel<br />
Die Erde still geküßt,<br />
Daß sie im Blütenschimmer<br />
Von ihm nun träumen müßt.<br />
Die Luft ging durch die Fel<strong>der</strong>,<br />
Die Ähren wogten sacht,<br />
Es rauschten leis die Wäl<strong>der</strong>,<br />
So sternklar war die Nacht.<br />
Und meine Seele spannte<br />
Weit ihre Flügel aus,<br />
Flog durch die stillen Lande,<br />
Als flöge sie nach Haus.<br />
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)
Lesbos<br />
(Lesbos)<br />
Mutter latinischer spiele und griechischer wonnen<br />
Lesbos wo küsse bald freudig bald schmachtend gelind<br />
Frisch wie die reifen pasteken und heiss wie die sonnen<br />
Zierde <strong>der</strong> ruhmvollen tage und nächte sind.<br />
Mutter latinischer spiele und griechischer wonnen.<br />
Lesbos wo küsse wie wasser des wildbaches schnellen<br />
Der ohne bangen in grundlose schluchten lief<br />
Dann sich windet in pochenden schluchzenden wellen<br />
Stürmisch und heimlich emsig wimmelnd und tief<br />
Lesbos wo küsse wie wasser des wildbaches schnellen<br />
Lesbos wo sich die Phrynen einan<strong>der</strong> begehren<br />
Wo noch kein seufzer <strong>der</strong> antwort entbehrend verrann<br />
Du die nicht min<strong>der</strong> wie Paphos die sterne verehren<br />
Wo die Venus die Sappho beneiden kann<br />
Lesbos wo sich die Phrynen einan<strong>der</strong> begehren.<br />
Lesbos du erde <strong>der</strong> heissen erschlaffenden nächte<br />
Mädchen vor ihren spiegeln o heillose sucht<br />
Hohlen auges verleitet durch heimliche mächte<br />
Spielen mit ihres frauentums reifen<strong>der</strong> frucht<br />
Lesbos du erde <strong>der</strong> heissen erschlaffenden nächte.<br />
Möge des alten Plato strenge sich stossen<br />
Dir wird verziehn durch <strong>der</strong> küsse unendliche zahl<br />
Herrin von milden gebieten von lieblichen grossen<br />
Und von beständiger freuden verfeinerter wahl.<br />
Möge des alten Plato strenge sich stossen.<br />
Dir wird verzeihung auf grund deiner ewigen qualen<br />
Für<strong>der</strong> strebenden geistern als strafe geschickt<br />
Ferne von uns verlocken sie lächelnde strahlen<br />
Traumhaft am horizont an<strong>der</strong>er himmel erblickt<br />
Dir wird verzeihung auf grund deiner ewigen qualen.
Wer von den göttern o Lesbos wagt dich zu richten<br />
Und wer verurteilt dein mühegebleichtes gesicht<br />
Eh er die sintflut erwogen mit goldnen gewichten<br />
Die aus tränen bestehend zum meere bricht<br />
Wer von den göttern o Lesbos wagt dich zu richten<br />
Was bedeuten die sätze des guten und schlechten<br />
Hehre mädchen · ihr zierde <strong>der</strong> inselwelt<br />
Euer glaube ist einer <strong>der</strong> grossen und echten<br />
Liebe hat himmel und hölle in schatten gestellt.<br />
Was bedeuten die sätze des guten und schlechten<br />
Um das geheimnis <strong>der</strong> knospenden mädchen zu singen<br />
Hatte mich Lesbos auf erden vor allen bestimmt<br />
Mich schon von kind auf bekannt mit den finsteren dingen<br />
Heller gelächter drin schmerzliche träne schwimmt<br />
Um das geheimnis <strong>der</strong> knospenden mädchen zu singen.<br />
Seitdem seh ich hinaus am leukadischen riffe<br />
Wie ein posten mit sichrer durchdringen<strong>der</strong> schau<br />
Täglich und nächtig auf böte und kähne und schiffe<br />
Ihre gestalten erzittern von weitem im blau.<br />
Seitdem seh ich hinaus am leukadischen riffe<br />
Um zu erfahren des meeres nachsicht und milde.<br />
Und unter seufzern am dröhnenden klippenring<br />
Landest du auf des vergebenden Lesbos gefilde<br />
Angebetete leiche <strong>der</strong> Sappho die ging<br />
Um zu erfahren des meeres nachsicht und milde.<br />
Sappho · die männliche · liebende seele und dichter<br />
Schöner als Venus durch tötlicher blässe schein<br />
Blaues auge besiegten unheimliche lichter<br />
In einem düsteren kreise gerieft von <strong>der</strong> pein<br />
Sapphos · <strong>der</strong> männlichen · liebende seele und dichter.<br />
Schöner als Venus sich über <strong>der</strong> erde erhebend<br />
Hat sie mit heiteren sinnes schätzen beglückt<br />
Mit ihrer blonden jugend strahlen belebend<br />
Greisen Okeanos den seine tochter entzückt<br />
Schöner als Venus sich über <strong>der</strong> erde erhebend.
Sappho · am tag ihrer lästerung beute <strong>der</strong> toten<br />
Als sie durchbrach des erfundenen brauches gewalt<br />
Und ihre schönheit zur äussersten ernte erboten<br />
Rohem arm <strong>der</strong> mit hochmut das opfer vergalt<br />
Sapphos · am tag ihrer lästerung beute <strong>der</strong> toten.<br />
Seit jener stunde ergeht sich Lesbos in klagen<br />
Trotz aller ehren die ihm nun das weltall erzeigt<br />
Lauscht es bei tag und bei nacht dem getöse <strong>der</strong> plagen<br />
Das von den öden gestaden den himmel ersteigt<br />
Seit jener stunde ergeht sich Lesbos in klagen.<br />
<br />
Mère des jeux latins et des voluptés grecques,<br />
Lesbos, où les baisers, languissants ou joyeux,<br />
Chauds comme les soleils, frais comme les pastèques,<br />
Font l’ornement des nuits et des jours glorieux,<br />
Mère des jeux latins et des voluptés grecques,<br />
Lesbos , où les baisers sont comme les cascades<br />
Qui se jettent sans peur dans les gouffres sans fonds<br />
Et courent, sanglotant et gloussant par saccades,<br />
Orageux et secrets, fourmillants et profonds;<br />
Lesbos, où les baisers sont comme les cascades!<br />
Lesbos, où les Phrynés l’une l’autre s’attirent,<br />
Où jamais un soupir ne resta sans écho,<br />
A l’égal de Paphos les étoiles t’admirent,<br />
Et Vénus à bon droit peut jalouser Sapho!<br />
Lesbos, où les Phrynés l’une l’autre s’attirent,<br />
Lesbos, terre des nuits chaudes et langoureuses,<br />
Qui font qu’à leurs miroirs, stérile volupté!<br />
Les filles aux yeux creux, de leur corps amoureuses,<br />
Caressent les fruits mûrs de leur nubilité;<br />
Lesbos, terre des nuits chauds et langoureuses,
Laisse du vieux Platon se froncer l’oeil austère;<br />
Tu tires ton pardon de l’excès des baisers,<br />
Reine du doux empire, aimable et noble terre,<br />
Et des raffinements toujours inépuisés.<br />
Laisse du vieux Platon se froncer l’oeil austère.<br />
Tu tires ton pardon de l’éternel martyre,<br />
Infligé sans relâche aux coeurs ambitieux,<br />
Qu’attire loin de nous le radieux sourire<br />
Entrevu vaguement au bord des autres cieux!<br />
Tu tires ton pardon de l’éternel martyre<br />
Qui des Dieux osera, Lesbos, être ton juge<br />
Et condamner ton front pâli dans les travaux,<br />
Si ses balances d’or n’ont pesé le déluge<br />
De larmes qu’à la mer ont versé tes ruisseaux<br />
Qui des Dieux osera, Lesbos, être ton juge<br />
Que nous veulent les lois du juste et de l’injuste<br />
Vierges au coeur sublime, honneur de l’Archipel,<br />
Votre religion comme une autre est auguste,<br />
Et l’amour se rira de l’Enfer et du Ciel!<br />
Que nous veulent les lois du juste et de l’injuste<br />
Car Lesbos entre tous m’a choisi sur la terre<br />
Pour chanter le secret de ses vierges en fleurs,<br />
Et je fus dès l’enfance admis au noir mystère<br />
Des rires effrénés mêlés aux sombres pleurs;<br />
Car Lesbos entre tous m’a choisi sur la terre.<br />
Et depuis lors je veille au sommet de Leucate,<br />
Comme une sentinelle à l’oeil perçant et sûr,<br />
Qui guette nuit et jour brick, tartane ou frégate,<br />
Dont les formes au loin frissonnent dans l’azur;<br />
Et depuis lors je veille au sommet de Leucate,<br />
Pour savoir si la mer est indulgente et bonne,<br />
Et parmi les sanglots dont le roc retentit<br />
Un soir ramènera vers Lesbos, qui pardonne,<br />
Le cadavre adoré de Sapho, qui partit<br />
Pour savoir si la mer est indulgente et bonne!
De la mâle Sapho, l’amante et le poète,<br />
Plus belle que Vénus par ses mornes pâleurs!<br />
— L’oeil d’azur est vaincu par l’oeil noir que tachète<br />
Le cercle ténébreux tracé par les douleurs<br />
De la mâle Sapho, l’amante et le poète!<br />
— Plus belle que Vénus se dressant sur le monde<br />
Et versant les trésors de sa sérénité<br />
Et le rayonnement de sa jeunesse blonde<br />
Sur le vieil Océan de sa fille enchanté;<br />
Plus belle que Vénus se dressant sur le monde!<br />
— De Sapho qui mourut le jour de son blasphème,<br />
Quand, insultant le rite et le culte inventé,<br />
Elle fit son beau corps la pâture suprême<br />
D’un brutal dont l’orgueil punit l’impiété<br />
De celle qui mourut le jour de son blasphème.<br />
Et c’est depuis ce temps que Lesbos se lamente,<br />
Et, malgré les honneurs que lui rend l’univers,<br />
S’enivre chaque nuit du cri de la tourmente<br />
Que poussent vers les cieux ses rivages déserts.<br />
Et c’est depuis ce temps que Lesbos se lamente!<br />
Charles Baudelaire (1821 – 1867)<br />
(Deutsche Übertragung von Stefan George (1868 – 1933))
Das Butterbrotpapier<br />
Ein Butterbrotpapier im Wald,<br />
da es beschneit wird, fühlt sich kalt …<br />
In seiner Angst, wiewohl es nie<br />
an Denken vorher irgendwie<br />
gedacht, natürlich, als ein Ding<br />
aus Lumpen usw., fing,<br />
aus Angst, so sagte ich, fing an<br />
zu denken, fing, hob an, begann<br />
zu denken, denkt euch, was das heißt,<br />
bekam (aus Angst, so sagt’ ich) — Geist,<br />
und zwar, versteht sich, nicht bloß so<br />
vom Himmel droben irgendwo,<br />
vielmehr infolge einer ganz<br />
exakt entstandnen Hirnsubstanz —<br />
die aus Holz, Eiweiß, Mehl und Schmer,<br />
(durch Angst), mit Überspringung <strong>der</strong><br />
sonst üblichen Weltalter, an<br />
ihm Boden und Gefäß gewann —<br />
Mithilfe dieser Hilfe nun<br />
entschloß sich das Papier zum Tun,<br />
zum Leben, zum — gleichviel, es fing<br />
zu gehn an — wie ein Schmetterling …<br />
zu kriechen erst, zu fliegen drauf,<br />
bis übers Unterholz hinauf,<br />
dann über die Chaussee und quer<br />
und kreuz und links und hin und her —
wie eben solch ein Tier zur Welt<br />
(je nach dem Wind) (und sonst) sich stellt.<br />
Doch, Freunde! werdet bleich gleich mir! — :<br />
Ein Vogel, dick und ganz voll Gier,<br />
erblickt’s (wir sind im Januar …) —<br />
und schickt sich an, mit Haut und Haar —<br />
und schickt sich an, mit Haar und Haut —<br />
(wer mag da endigen!) (mir graut) —<br />
(Bedenkt, was alles nötig war!) —<br />
und schickt sich an, mit Haut und Haar — —<br />
ein Butterbrotpapier im Wald<br />
gewinnt — aus Angst — Naturgestalt …<br />
Genug!! Der wilde Specht verschluckt<br />
das unersetzliche Produkt …<br />
Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Ich liebe dich so wie du bist<br />
Ich sagte dir vor langer Zeit<br />
»Mein Schatz mein Herz mein Ein und Alles<br />
Ich liebe dich so wie du bist«<br />
Doch sieh, es waren damals nur die Worte<br />
Die mich und dich verzauberten<br />
Und jetzt nach vieler Jahre Liebe<br />
Da bleib ich stumm da sag ich nichts<br />
Doch wenn ich deine Lippen spüre<br />
An meinem Nacken heiss und zart<br />
In feuchten Träumen schwelge<br />
So sind vergessen deine Fehler<br />
Die ich und du im Lichte sahn<br />
Ich gebe dir die ganze Liebe<br />
Auch Wut Eifersucht und Laune<br />
Was will ich mehr erwarten<br />
Als ich dir selber gebe<br />
So sagt mein Inneres noch heute<br />
»Mein Schatz mein Herz mein Ein und Alles<br />
Ich liebe dich so wie du bist«<br />
Doch nun spricht nicht <strong>der</strong> Mund die Lüge<br />
Mein Herz weiss nun dass du es bist<br />
Den ich für immer liebe<br />
milalis<br />
(aus »13 liebesgedichte«)
Der Rabe<br />
(The Raven)<br />
Einst in dunkler Mittnachtstunde, als ich in entschwundner Kunde<br />
Wun<strong>der</strong>licher Bücher forschte, bis mein Geist die Kraft verlor<br />
Und mir’s trübe ward im Kopfe, kam mir’s plötzlich vor, als klopfe<br />
Jemand zag ans Tor, als klopfe – klopfe jemand sacht ans Tor.<br />
Irgendein Besucher, dacht ich, pocht zur Nachtzeit noch ans Tor –<br />
Weiter nichts. – So kam mir’s vor.<br />
Oh, ich weiß, es war in grimmer Winternacht, gespenstischen Schimmer<br />
Jagte jedes Scheit durchs Zimmer, eh es kalt zu Asche fror.<br />
Tief ersehnte ich den Morgen, denn umsonst war’s, Trost zu borgen<br />
Aus den Büchern für das Sorgen um die einzige Lenor,<br />
Um die wun<strong>der</strong>bar Geliebte – Engel nannten sie Lenor –,<br />
Die für immer ich verlor.<br />
Die Gardinen rauschten traurig, und ihr Rascheln klang so schaurig,<br />
Füllte mich mit Schreck und Grausen, wie ich nie erschrak zuvor.<br />
Um zu stillen Herzens Schlagen, sein Erzittern und sein Zagen,<br />
Mußt ich murmelnd nochmals sagen: Ein Besucher klopft ans Tor. –<br />
Ein verspäteter Besucher klopft um Einlaß noch ans Tor,<br />
Sprach ich meinem Herzen vor.<br />
Alsobald ward meine Seele stark und folgte dem Befehle.<br />
»Herr«, so sprach ich, »o<strong>der</strong> Dame, ach, verzeihen Sie, mein Ohr<br />
Hat Ihr Pochen kaum vernommen, denn ich war schon schlafbenommen,<br />
Und Sie sind so sanft gekommen – sanft gekommen an mein Tor;<br />
Wußte kaum den Ton zu deuten …« Und ich machte auf das Tor:<br />
Nichts als Dunkel stand davor.<br />
Starr in dieses Dunkel spähend, stand ich lange, nicht verstehend,<br />
Träume träumend, die kein irdischer Träumer je gewagt zuvor;<br />
Doch es herrschte ungebrochen Schweigen, aus dem Dunkel krochen<br />
Keine Zeichen, und gesprochen ward nur zart das Wort »Lenor«,<br />
Zart von mir gehaucht – wie Echo flog zurück das Wort »Lenor«.<br />
Nichts als dies vernahm mein Ohr.
Wandte mich zurück ins Zimmer, und mein Herz erschrak noch schlimmer,<br />
Da ich wie<strong>der</strong> klopfen hörte, etwas lauter als zuvor.<br />
»Sollt ich«, sprach ich, »mich nicht irren, hörte ich’s am Fenster klirren;<br />
Oh, ich werde bald entwirren dieses Rätsels dunklen Flor –<br />
Herz, sei still, ich will entwirren dieses Rätsels dunklen Flor.<br />
Tanzt ums Haus <strong>der</strong> Winde Chor«<br />
Hastig stieß ich auf die Schalter – flatternd kam herein ein alter,<br />
Stattlich großer, schwarzer Rabe, wie aus heiliger Zeit hervor,<br />
Machte keinerlei Verbeugung, nicht die kleinste Dankbezeigung,<br />
Flog mit edelmännischer Neigung zu dem Pallaskopf empor,<br />
Grade über meiner Türe auf den Pallaskopf empor –<br />
Saß – und still war’s wie zuvor.<br />
Doch das wichtige Gebaren dieses schwarzen Son<strong>der</strong>baren<br />
Löste meines Geistes Trauer, und ich schalt ihn mit Humor:<br />
»Alter, schäbig und geschoren, sprich, was hast du hier verloren<br />
Niemand hat dich herbeschworen aus dem Land <strong>der</strong> Nacht hervor.<br />
Tu mir kund, wie heißt du, Stolzer aus Plutonischem Land hervor«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«<br />
Daß er sprach so klar verständlich – ich erstaunte drob unendlich,<br />
Kam die Antwort mir auch wenig sinnvoll und erklärend vor.<br />
Denn noch nie war dies geschehen: über seiner Türe stehen<br />
Hat wohl keiner noch gesehen solchen Vogel je zuvor –<br />
Über seiner Stubentüre auf <strong>der</strong> Büste je zuvor,<br />
Mit dem Namen »Nie du Tor«.<br />
Doch ich hört in seinem Krächzen seine ganze Seele ächzen,<br />
War auch kurz sein Wort, und brachte er auch nichts als dieses vor.<br />
Unbeweglich sah er nie<strong>der</strong>, rührte Kopf nicht noch Gefie<strong>der</strong>,<br />
Und ich murrte, murmelnd wie<strong>der</strong>: »Wie ich Freund und Trost verlor,<br />
Werd ich morgen ihn verlieren – wie ich alles schon verlor.«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«<br />
Seine schroff gesprochnen Laute klangen passend, daß mir graute.<br />
»Aber«, sprach ich, »nein, er plappert nur sein einzig Können vor,<br />
Das er seinem Herrn entlauschte, dessen Pfad ein Unstern rauschte,<br />
Bis er letzten Mut vertauschte gegen trüber Lie<strong>der</strong> Chor –<br />
Bis er trostlos trauerklagte in verstörter Lie<strong>der</strong> Chor<br />
Mit dem Kehrreim: ‚Nie du Tor.’«
Da <strong>der</strong> Rabe das bedrückte Herz zu Lächeln mir berückte,<br />
Rollte ich den Polsterstuhl zu Büste, Tür und Vogel vor,<br />
Sank in Samtsitz, nachzusinnen, Traum mit Träumen zu verspinnen<br />
Über solchen Tiers Beginnen: was es wohl gewollt zuvor –<br />
Was <strong>der</strong> alte ungestalte Vogel wohl gewollt zuvor<br />
Mit dem Krächzen: »Nie du Tor.«<br />
Saß, <strong>der</strong> Seele Brand beschwichtend, keine Silbe an ihn richtend,<br />
Seine Feueraugen wühlten mir das Innerste empor.<br />
Saß und kam zu keinem Wissen, Herz und Hirn schien fortgerissen,<br />
Lehnte meinen Kopf aufs Kissen lichtbegossen – das Lenor<br />
Pressen sollte – lila Kissen, das nun nimmermehr Lenor<br />
Pressen sollte wie zuvor!<br />
Dann durchrann, so schien’s, die schale Luft ein Duft aus Weihrauchschale<br />
Edler Engel, <strong>der</strong>en Schreiten rings vom Teppich klang empor.<br />
»Narr!« so schrie ich, »Gott bescherte dir durch Engel das begehrte<br />
Glück Vergessen: das entbehrte Ruhen, Ruhen vor Lenor!<br />
Trink, o trink das Glück: Vergessen <strong>der</strong> verlorenen Lenor!«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«<br />
»Weiser!« rief ich, »son<strong>der</strong> Zweifel Weiser! – ob nun Tier, ob Teufel –<br />
Ob dich Höllending die Hölle o<strong>der</strong> Wetter warf hervor,<br />
Wer dich nun auch trostlos sandte o<strong>der</strong> trieb durch leere Lande<br />
Hier in dies <strong>der</strong> Höll verwandte Haus – sag, eh ich dich verlor:<br />
Gibt’s – o gibt’s in Gilead Balsam – Sag mir’s, eh ich dich verlor!«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«<br />
»Weiser!« rief ich, »son<strong>der</strong> Zweifel Weiser! – ob nun Tier, ob Teufel –<br />
Schwör’s beim Himmel uns zu Häupten – schwör’s beim Gott, den ich erkor –<br />
Schwör’s <strong>der</strong> Seele so voll Grauen: soll dort fern in Edens Gauen<br />
Ich ein strahlend Mädchen schauen, die bei Engeln heißt Lenor –<br />
Sie, die Himmlische, umarmen, die bei Engeln heißt Lenor«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«<br />
»Sei dies Wort dein letztes, Rabe o<strong>der</strong> Feind! Zurück zum Grabe!<br />
Fort! zurück in Plutons Nächte!« schrie ich auf und fuhr empor.<br />
»Laß mein Schweigen ungebrochen! Deine Lüge, frech gesprochen,<br />
Hat mir weh das Herz durchstochen. – Fort, von deinem Thron hervor!<br />
Heb dein Wort aus meinem Herzen – heb dich fort, vom Thron hervor!«<br />
Sprach <strong>der</strong> Rabe: »Nie du Tor.«
Und <strong>der</strong> Rabe rührt sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer<br />
Auf <strong>der</strong> blassen Pallasbüste, die er sich zum Thron erkor.<br />
Seine Augen träumen trunken wie Dämonen traumversunken;<br />
Mir zu Füßen hingesunken droht sein Schatten tot empor.<br />
Hebt aus Schatten meine Seele je sich wie<strong>der</strong> frei empor –<br />
Nimmermehr – oh, nie du Tor!<br />
<br />
Once upon a midnight dreary, while I pon<strong>der</strong>ed, weak and weary,<br />
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore –<br />
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,<br />
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door.<br />
»’ Tis some visitor,« I muttered, »tapping at my chamber door –<br />
Only this and nothing more.«<br />
Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,<br />
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.<br />
Eagerly I wished the morrow; – vainly I had sought to borrow<br />
From my books surcease of sorrow – sorrow for the lost Lenore –<br />
For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore –<br />
Nameless here for evermore.<br />
And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain<br />
Thrilled me – filled me with fantastic terrors never felt before;<br />
So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating:<br />
»’ Tis some visitor entreating entrance at my chamber door –<br />
Some late visitor entreating entrance at my chamber door;<br />
This it is and nothing more.«<br />
Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer,<br />
»Sir,« said I, »or Madam, truly your forgiveness I implore;<br />
But the fact is I was napping, and so gently you came rapping,<br />
And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door,<br />
That I scarce was sure I heard you« – here I opened wide the door; –<br />
Darkness there and nothing more.
Deep into that darkness peering, long I stood there won<strong>der</strong>ing, fearing,<br />
Doubting, dreaming dreams no mortals ever dared to dream before;<br />
But the silence was unbroken, and the stillness gave no token,<br />
And the only word there spoken was the whispered word, »Lenore!«<br />
This I whispered, and an echo murmured back the word, »Lenore!« –<br />
Merely this and nothing more.<br />
Back into the chamber turning, all my soul within me burning,<br />
Soon again I heard a tapping something lou<strong>der</strong> than before.<br />
»Surely,« said I, »surely that is something at my window lattice;<br />
Let me see, then, what thereat is, and this mystery explore –<br />
Let my heart be still a moment, and this mystery explore; –<br />
’ Tis the wind and nothing more.«<br />
Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,<br />
In there stepped a stately Raven of the saintly days of yore.<br />
Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he,<br />
But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door –<br />
Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door –<br />
Perched, and sat, and nothing more.<br />
Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling,<br />
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,<br />
»Though thy crest be shorn and shaven, thou,« I said, »art sure no craven,<br />
Ghastly grim and ancient Raven wan<strong>der</strong>ing from the Nightly shore –<br />
Tell me what thy lordly name is on the Night’s Plutonian shore!«<br />
Quoth the Raven, »Nevermore.«<br />
Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly,<br />
Though its answer little meaning – little relevancy bore;<br />
For we cannot help agreeing that no living human being<br />
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door –<br />
Bird or beast upon the sculptured bust above his chamber door,<br />
With such name as »Nevermore.«<br />
But the Raven, sitting lonely on that placid bust, spoke only<br />
That one word, as if his soul in that one word he did outpour.<br />
Nothing farther then he uttered; not a feather then he fluttered –<br />
Till I scarcely more than muttered: »Other friends have flown before –<br />
On the morrow he will leave me as my Hopes have flown before.«<br />
Then the bird said, »Nevermore.«
Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken,<br />
»Doubtless,« said I, »what it utters is its only stock and store,<br />
Caught from some unhappy master whom unmerciful Disaster<br />
Followed fast and followed faster till his songs one burden bore –<br />
Till the dirges of his Hope that melancholy burden bore<br />
Of ›Never – nevermore.‹ «<br />
But the Raven still beguiling all my sad soul into smiling,<br />
Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust and door;<br />
Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking<br />
Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore –<br />
What this grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore<br />
Meant in croaking »Nevermore.«<br />
This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing<br />
To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom’s core;<br />
This and more I sat divining, with my head at ease reclining<br />
On the cushion’s velvet lining that the lamp-light gloated o’er,<br />
But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o’er<br />
She shall press, ah, nevermore!<br />
Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer<br />
Swung by Seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor.<br />
»Wretch,« I cried, »thy God hath lent thee – by these angels he hath sent thee<br />
Respite – respite and nepenthe from thy memories of Lenore!<br />
Quaff, oh quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!«<br />
Quoth the Raven, »Nevermore.«<br />
»Prophet!« said I, »thing of evil! – prophet still, if bird or devil! –<br />
Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore,<br />
Desolate, yet all undaunted, on this desert land enchanted –<br />
On this home by Horror haunted, – tell me truly, I implore –<br />
Is there – is there balm in Gilead – tell me – tell me, I implore!«<br />
Quoth the Raven, »Nevermore.«<br />
»Prophet!« said I, »thing of evil! – prophet still, if bird or devil!<br />
By that heaven that bends above us – by that God we both adore –<br />
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,<br />
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore –<br />
Clasp a rare and radiant maiden whom the angels name Lenore.«<br />
Quoth the Raven, »Nevermore.«
»Be that word our sign of parting, bird or fiend!« I shrieked, upstarting –<br />
»Get thee back into the tempest and the Night’s Plutonian shore!<br />
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!<br />
Leave my loneliness unbroken! – quit the bust above my door!<br />
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!«<br />
Quoth the Raven, »Nevermore.«<br />
And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting<br />
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;<br />
And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming,<br />
And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor;<br />
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor<br />
Shall be lifted – nevermore!<br />
Edgar Allan Poe (1809 – 1849)<br />
(Deutsche Übertragung von Theodor Etzel (1873 – 1930))
Die Theiss<br />
(A Tisza)<br />
Eines Sommerabends stand ich lange<br />
an <strong>der</strong> Theiß, da, wo wie eine Schlange<br />
sie sich windet und die Túr empfängt,<br />
die sich wie ein Kind zur Mutter drängt.<br />
Zwischen seinen lockren Uferrän<strong>der</strong>n<br />
sah ich zahm und glatt den Strom hinschlen<strong>der</strong>n,<br />
so als wollt er, daß <strong>der</strong> Sonne Gold<br />
ungestört sich in ihm baden sollt.<br />
Auf dem blanken Spiegel sah ich schimmern,<br />
tänzelnd ihre roten Strahlen flimmern,<br />
wie mit winzigen Sporen, silberfein<br />
klirrend, gleich als ob es Feen sein.<br />
Gelber Sand vor mir das Ufer deckte,<br />
das sich wie ein Teppich weit erstreckte<br />
bis zum Feld, wo Grummet lag gemäht,<br />
wie im Buch die Zeilenfolge steht.<br />
Jenseits von <strong>der</strong> Wiese sah man dunkeln<br />
schon den Hochwald, doch die Kronen funkeln<br />
purpurn in <strong>der</strong> Abendröte Glut,<br />
so als göß er brennend aus sein Blut.<br />
Haselsträucher, Ginsterbüsche streute<br />
die Natur entlang <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite,<br />
und hindurch, von ihrem Grün umsäumt,<br />
lugte eines Kirchleins Turm verträumt.<br />
Süß mich in Erinnerung zu wiegen,<br />
sah ich Rosenwölkchen drüber fliegen<br />
und wie sinnend in <strong>der</strong> Ferne stehn<br />
nebelgrau die Marmaroscher Höhn.
Selten pfiff ein Vogel zaghaft leise,<br />
fern nur sang ein Mühlrad seine Weise,<br />
säuselnd wie des Mückenspiels Gesumm.<br />
Feierlicher Friede war ringsum.<br />
Drüben sah ein Bauernweib ich kommen.<br />
Als sie Wasser mit dem Krug genommen,<br />
warf sie prüfend einen Blick auf mich,<br />
wie verwun<strong>der</strong>t und entfernte sich.<br />
Seltsam mußte ich ihr wohl erscheinen,<br />
denn wie angewurzelt mit den Beinen<br />
stand ich stumm und reglos, wie entrückt,<br />
von dem Zauber <strong>der</strong> Natur beglückt.<br />
Groß bist du, Natur, du wun<strong>der</strong>reiche,<br />
meiner Sprache fehlen die Vergleiche,<br />
dich zu schil<strong>der</strong>n, deine Schönheit zeigst<br />
du so anmutsvoll nur, wenn du schweigst.<br />
Spät erst kam ich an bei den Gefährten.<br />
Nach <strong>der</strong> Obstmahlzeit, die wir verzehrten,<br />
haben plau<strong>der</strong>nd wir die halbe Nacht<br />
dann beim Reisigfeuer noch durchwacht.<br />
»Schmäht mir nicht die Theiß!« sprach ich zu ihnen.<br />
»Zahm und friedlich ist sie mir erschienen,<br />
als ich heut an ihrem Ufer stand.<br />
Sanfter fließt kein Fluß in unsrem Land!«<br />
Doch wie schrak ich auf nach ein paar Tagen!<br />
Plötzlich fingen an Alarm zu schlagen<br />
aufgeregt die Glocken ringsumher.<br />
Und schon wogte Wasser wie ein Meer,<br />
hatte schon die Dämme übersprungen,<br />
war schon übers Feld ins Dorf gedrungen!<br />
Rasend kam die Theißflut angerollt,<br />
als ob sie die Welt verschlingen wollt!
Nyári napnak alkonyúlatánál<br />
Megállék a kanyargó Tiszánál<br />
Ott, hol a kis Túr siet beléje,<br />
Mint a gyermek anyja kebelére.<br />
A folyó oly símán, oly szelíden<br />
Ballagott le parttalan medrében,<br />
Nem akarta, hogy a nap sugára<br />
Megbotoljék habjai fodrába’.<br />
Síma tükrén a piros sugárok<br />
(Mint megannyi tündér) táncot jártak,<br />
Szinte hallott lépteik csengése,<br />
Mint parányi sarkantyúk pengése.<br />
Ahol álltam, sárga föveny-szőnyeg<br />
Volt terítve, s tartott a mezőnek,<br />
Melyen a levágott sarju-rendek,<br />
Mint a könyvben a sorok, hevertek.<br />
Túl a réten néma méltóságban<br />
Magas erdő: benne már homály van,<br />
De az alkony üszköt vet fejére,<br />
S olyan, mintha égne s folyna vére.<br />
Másfelől, a Tisza tulsó partján,<br />
Mogyorós rekettye-bokrok tarkán,<br />
Köztök egy csak a nyilás, azon át<br />
Látni távol kis falucska tornyát.<br />
Boldog órák szép emlékeképen<br />
Rózsafelhők usztak át az égen.<br />
Legmesszebbről rám merengve néztek<br />
Ködön át a mármarosi bércek.<br />
Semmi zaj. Az ünnepélyes csendbe<br />
Egy madár csak néha füttyentett be,<br />
Nagy távolban a malom zugása<br />
Csak olyan volt, mint szunyog dongása.
Túlnan, vélem átellenben épen,<br />
Pór menyecske jött. Korsó kezében.<br />
Korsaját mig telemerítette,<br />
Rám nézett át; aztán ment sietve.<br />
Ottan némán, mozdulatlan álltam,<br />
Mintha gyökeret vert volna lábam.<br />
Lelkem édes, mély mámorba szédült<br />
A természet örök szépségétül.<br />
Oh természet, oh dicső természet!<br />
Mely nyelv merne versenyezni véled<br />
Mily nagy vagy te! mentül inkább hallgatsz,<br />
Annál többet, annál szebbet mondasz. —<br />
Késő éjjel értem a tanyára<br />
Fris gyümölcsből készült vacsorára.<br />
Társaimmal hosszan beszélgettünk.<br />
Lobogott a rőzseláng mellettünk.<br />
Többek között szóltam én hozzájok:<br />
»Szegény Tisza, miért is bántjátok<br />
Annyi rosszat kiabáltok róla,<br />
S ő a föld legjámborabb folyója.«<br />
Pár nap mulva fél szen<strong>der</strong>gésemből<br />
Félrevert harang zugása vert föl.<br />
Jön az árvíz! jön az árvíz! hangzék,<br />
S tengert láttam, ahogy kitekinték.<br />
Mint az őrült, ki letépte láncát,<br />
Vágtatott a Tisza a rónán át,<br />
Zúgva, bőgve törte át a gátot,<br />
El akarta nyelni a világot!<br />
Pest, Februar 1847 — Petõfi Sándor (1823 – 1849)<br />
(Deutsche Übertragung von Martin Remané)
Was ist ein Gedicht!<br />
Ein Gedicht ist eine Sache, die in dem Leser eine ähnliche<br />
Stimmung erzeugen soll, wie <strong>der</strong> sie gehabt hat, <strong>der</strong> es geschrieben<br />
hat — — —.<br />
»Der Vorfrühling«<br />
Morgentemperatur am Hochschneeberg plus ein Grad.<br />
Der Schnee fällt als Regen herab.<br />
Die weißgrauen Schneefel<strong>der</strong> schimmern feucht.<br />
Der Pegelstand an den Flüssen steigt und steigt.<br />
Milde stürmische Luft. Trübe Witterung im allgemeinen.<br />
In den nordalpinen Gegenden noch ungeheure Schneefälle.<br />
Vor dem Tunnel elf <strong>der</strong> Bergbahn Lawinenstürze.<br />
Die Hotels am Semmering sind überfüllt, Aristokratie und<br />
reiches Bürgertum gewinnen <strong>der</strong> Natur noch einige Rodelschlittentage<br />
ab. Die Sonne frißt den Schnee.<br />
Die Erde ist gesättigt, wasserdurchtränkt. Es rinnt alles in die<br />
Flüsse ab deswegen.<br />
Der Bauer ist erwartungsvoll.<br />
Helga sucht weinend im Gelände nach Primeln.<br />
Peter Altenberg (1859 – 1919)
Lob <strong>der</strong> Faulheit<br />
Faulheit, jetzo will ich dir<br />
Auch ein kleines Loblied bringen. —<br />
O — — wie — — sau — — er — — wird es mir, — —<br />
Dich — — nach Würden — — zu besingen!<br />
Doch, ich will mein Bestes tun,<br />
Nach <strong>der</strong> Arbeit ist gut ruhn.<br />
Höchstes Gut! wer dich nur hat,<br />
Dessen ungestörtes Leben — —<br />
Ach! — — ich — — gähn’ — — ich — — werde matt — —<br />
Nun — — so — — magst du — — mirs vergeben,<br />
Daß ich dich nicht singen kann;<br />
Du verhin<strong>der</strong>st mich ja dran.<br />
Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)
Der kleine Gernegroß<br />
Ein Männchen, das dem Zwerggeschlechte<br />
Kaum um drei Zoll entwachsen war,<br />
Durchgrübelte manch liebes Jahr,<br />
Wie es sein Maß verlängern möchte;<br />
Doch graute schon gemach sein Haar,<br />
Und nach zehntausend Sorgenstunden<br />
War noch kein Mittel aufgefunden.<br />
Auf einmal ließ ein Charlatan<br />
Durch Zeitungstrommelschlag verkünden:<br />
›Herbei ihr Lahmen, Tauben, Blinden!<br />
Ich bin <strong>der</strong> Arzt, <strong>der</strong> helfen kann!<br />
Das häßlichste Naturgebrechen<br />
Darf Heilung sich von mir versprechen.‹<br />
Husch! lief das Männchen zu ihm hin:<br />
›Herr Doktor, mir vergällt’s mein Leben,<br />
Daß ich so klein geblieben bin.<br />
Sagt, könnt ihr mich für Goldgewinn<br />
Ein wenig aus dem Staub erheben‹<br />
›Warum nicht Dazu weiß ich Rath!‹<br />
Sprach jener. ›Kommt nur morgen wie<strong>der</strong>!<br />
Indes bereit’ ich euch ein Bad,<br />
Das streckt unfehlbar euch die Glie<strong>der</strong>.<br />
Bringt aber zehn Dukaten mit,<br />
Die noch kein Wucherer beschnitt!‹<br />
Der Kleine schlug auf seine Tasche,<br />
Sprang wie ein frohes Kind nach Haus<br />
Und stach vor Freuden eine Flasche<br />
Des köstlichsten Burgun<strong>der</strong>s aus.<br />
Er strich im Traum <strong>der</strong> Nacht als Riese<br />
Stolz auf <strong>der</strong> Hoffnung Blumenwiese<br />
Mit Hahnenschritten auf und ab<br />
Und gieng mit hochgetragner Scheitel<br />
Und Randdukaten in dem Beutel
In einer weiten Wanne rauchte<br />
Sogleich ein dunkler Kräutersee,<br />
Und das enthüllte Männlein tauchte<br />
Hinein <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong> zarten Schnee.<br />
Drei Stunden mußt’s ihm drin belieben,<br />
Und dabei ward es wie ein Zeug<br />
Gewalkt, gebürstet und gerieben<br />
Und durchgeknetet wie ein Teig.<br />
Doch Freuden sproßten aus den Leiden:<br />
Denn — wun<strong>der</strong>bar! — als sein Gebein<br />
Das Herrlein wollte wie<strong>der</strong> kleiden,<br />
War ihm sein Röcklein viel zu klein.<br />
Vor Staunen außer sich gerathen<br />
Und von Entzücken übermannt,<br />
Zählt’ es dem Arzte mehr Dukaten,<br />
Als er bedungen, in die Hand.<br />
Es sah nicht ein, daß in den Stunden,<br />
Da es im Bade Foltern litt,<br />
Ein Schnei<strong>der</strong>, mit dem Schelm verbunden,<br />
Den kleinen Rock noch kleiner Schnitt.<br />
Es jubelte, wie neu geboren,<br />
Im kurzen Wamms die Stadt durchhin<br />
Und schrie den Leuten in die Ohren:<br />
›Seht, seht, wie ich gewachsen bin!‹<br />
August Friedrich Langbein (1757 – 1835)
Maislied <strong>der</strong> Frauen<br />
(Women’s Song of the Corn)<br />
Wie schön steht <strong>der</strong> Mais in Reihen<br />
Die zur Morgensonne ziehen,<br />
Die zur Abendsonne ziehen.<br />
So wun<strong>der</strong>schön, die langen Reihen Mais.<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> weiße Mais,<br />
Ich schäle ihn,<br />
Ich mahle ihn.<br />
So wun<strong>der</strong>schön, mein weißer Mais.<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> rote Mais,<br />
Ich ernte ihn für gutes Essen,<br />
Ich mach es gern.<br />
So wun<strong>der</strong>schön, mein roter Mais.<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> schwarze Mais,<br />
Ich geb ihn meinem Vater,<br />
Meiner Mutter,<br />
Ich geb ihm meinem Kinde.<br />
So wun<strong>der</strong>schön, mein schwarzer Mais.<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> bunte Mais,<br />
Wie kleine Himmelswolken,<br />
Ich esse ihn und blick hinauf.<br />
Wie wun<strong>der</strong>schön, mein bunter Mais.<br />
<br />
How beautiful are the corn rows<br />
Stretching to the morning sun,<br />
Stretching to the evening sun.<br />
Very beautiful, the long rows of corn.
How beautiful is the white corn,<br />
I husk it,<br />
I grind it.<br />
Very beautiful, my white corn.<br />
How beautiful is the red corn,<br />
I gather it and make a fine meal,<br />
I am glad doing this.<br />
Very beautiful, my red corn.<br />
How beautiful is the black corn,<br />
I give it to my father,<br />
To my mother,<br />
I give it to my child.<br />
Very beautiful, the black corn.<br />
How beautiful is the mottled corn,<br />
Like the sky with little clouds,<br />
I eat it looking at the sky.<br />
Very beautiful, my mottled corn.<br />
Amy Lowell (1874 – 1925)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Styx<br />
Die Nebel graun, die keinem Winde weichen.<br />
Die giftigen Dünste schwängern weit das Tal.<br />
Ein blasses Licht scheint in <strong>der</strong> Toten Reichen,<br />
Wie eines Totenkopfes Auge fahl.<br />
Entsetzlich wälzt sich hin <strong>der</strong> Phlegeton.<br />
Wie tausend Niagaras hallt sein Brüllen.<br />
Die Klüfte wanken von den Schreien schon,<br />
Die im Orkan die Feuerfluten füllen.<br />
Sie glühn von Qualen weiß. Wie Steine rollen<br />
Den Fluß herab sie in <strong>der</strong> trüben Glut,<br />
Wie des geborstenen Eises Riesenschollen<br />
So schmettert ihre Leiber hin die Flut.<br />
Sie reiten aufeinan<strong>der</strong> nackt und wild,<br />
Von Zorn und Wollust aufgebläht wie Schwämme.<br />
Ein höllischer Choral im Takte schwillt<br />
Vom Grunde auf bis zu dem Kamm <strong>der</strong> Dämme.<br />
Auf einem fetten Greise rittlings reitet<br />
Ein nacktes Weib mit schwarzem Flatterhaar.<br />
Und ihren Schoß und ihre Brüste breitet<br />
Sie lüstern aus vor <strong>der</strong> Verdammten Schar.<br />
Da brüllt <strong>der</strong> Chor in aufgepeitschter Lust.<br />
Das Echo rollt im roten Katarakt.<br />
Ein riesiger Neger steigt herauf und packt<br />
Den weißen Leib an seine schwarze Brust.<br />
Unzählige Augen sehn den Kampf und trinken<br />
Den Rausch <strong>der</strong> Gier. Er braust durch das Gewühl,<br />
Da in dem Strom die Liebenden versinken,<br />
Den Göttern gleich im heißen Purpurpfühl.<br />
Georg Heym (1887 – 1912)
Land des Morgens<br />
(Bayang magiliw)<br />
Land des Morgens,<br />
Kind ew’ger Sonne,<br />
Ehr’n uns’re Seelen<br />
Voller Leidenschaft.<br />
Heiliges Land,<br />
Wiege edler Helden,<br />
Nie soll’n Erob’rer<br />
Heil’ges Ufer schänden.<br />
Unter deinen Himmeln, deinen Wolken<br />
Über deinen Hügeln, Seen<br />
Erblicken wir den Glanz und fühlen<br />
Der Freiheit leuchtenden Schlag.<br />
Deine Fahne, teuer allen Herzen,<br />
Sonne, Sternelicht.<br />
Nie soll <strong>der</strong> Glanz deiner Erde<br />
Durch den Tyrann ihr Licht verlier’n.<br />
Herrliches Land <strong>der</strong> Liebe, Land des Lichts<br />
In deiner Umarmung ruht Freude;<br />
Doch unsere Söhne werden ruhmvoll<br />
Bei Unrecht für dich leiden und sterben.<br />
<br />
Bayang magiliw<br />
Perlas ng Silanganan,<br />
Alab ng puso,<br />
Sa dibdib mo’y buhay.<br />
Lupang Hinirang,<br />
Duyan ka ng magiting,<br />
Sa manlulupig,<br />
Di ka pasisiil.
Sa dagat at bundok,<br />
Sa simoy at sa langit mong bughaw,<br />
May dilag ang tula<br />
At awit sa paglayang minamahal.<br />
Ang kislap ng watawat mo’y<br />
Tagumpay na nagniningning,<br />
Ang bituin at araw niya<br />
Kailan pa ma’y di magdidilim.<br />
Lupa ng araw, ng luwalhati’t pagsinta,<br />
Buhay ay langit sa piling mo;<br />
Aming ligaya, na pag may mang-aapi<br />
Ang mamatay nang dahil sa iyo.<br />
Felipe Padilla de Leon (1912 – 1992)<br />
(Freie deutsche Übertragung aus Tagalog von milalis)<br />
Bayang magiliw<br />
(Nationalhymne <strong>der</strong> Philippinen)<br />
Das weiße Dreieck steht für Gleichheit und Brü<strong>der</strong>lichkeit.<br />
Die Sonne ist Symbol des nationalen Aufbruchs und Fortschritts.<br />
Die acht Strahlen stehen für Manila, Bulacan, Tarlac, Pampanga, Nueva<br />
Ecija, Laguna, Batangas und Cavite, die den bewaffneten Kampf gegen die<br />
Kolonialmacht aufnahmen und unter spanischem Kriegsrecht standen.<br />
Die drei Ecksterne stehen für die geographischen Gebiete Luzon, Visayas<br />
und Mindanao.<br />
Eine Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Flagge: In Friedenszeiten befindet sich das blaue<br />
Band (Einheit des Landes, Friedfertigkeit, Wahrheitsliebe und Rechtsempfinden)<br />
oben. In Kriegszeiten erscheint das rote Band (patriotischer Mut und<br />
die Tapferkeit <strong>der</strong> Bevölkerung) oben.
Aphorismen<br />
Wer des folgenden Tages am wenigsten bedarf, begrüßt ihn am freudigsten.<br />
<br />
Auf das Schöne, das keine Freude bringt, verzichte ich<br />
gerne und verachte die Menschen, die daran hängen.<br />
<br />
Die schönste Frucht <strong>der</strong> Gerechtigkeit ist Seelenfrieden.<br />
<br />
Die Natur hat uns zur Gemeinschaft geschaffen.<br />
<br />
Die Gesetze sind um <strong>der</strong> Weisen willen da.<br />
Nicht damit sie kein Unrecht tun, son<strong>der</strong>n damit sie keines erleiden.<br />
<br />
Wer Furcht verbreitet, ist selbst nicht ohne Furcht.<br />
<br />
Lebe zurückgezogen!<br />
<br />
Aus Angst, mit Wenigem auskommen zu müssen, läßt sich <strong>der</strong><br />
Mensch zu Taten hinreißen, die seine Angst noch vermehren.<br />
<br />
Viele, die zu Reichtum gelangt sind, haben damit kein Mittel gegen ihre<br />
Leiden gefunden, son<strong>der</strong>n haben nur zu noch größeren Qualen gewechselt.<br />
<br />
Kleine Seelen werden durch Erfolge übermütig<br />
und durch Mißerfolge nie<strong>der</strong>geschlagen.<br />
Aus »Philosophie <strong>der</strong> Freude« von Epikur (341 – 270 v. Chr.)<br />
(Bearbeitet von milalis)
Wie glücklich ist <strong>der</strong> kleine Stein<br />
(How happy is the little Stone)<br />
Wie glücklich ist <strong>der</strong> kleine Stein,<br />
Der über Wege streift allein<br />
Und um Erfolg sich kümmert nicht<br />
Auch kein Verlangen aus ihm spricht — — ;<br />
Der eingehüllt in schlichtes Braun<br />
Um sich das Universum trägt,<br />
Und wie die Sonne frei und rein<br />
Verbindet und alleine leuchtet,<br />
das höchste Sein verwirklicht er<br />
durch schlichte Einfachheit … nichts mehr — —<br />
<br />
How happy is the little Stone<br />
That rambles in the Road alone,<br />
And doesn’t care about Careers<br />
And Exigencies never fears — —;<br />
Whose Coat of elemental Brown<br />
A passing Universe put on,<br />
And independent as the Sun<br />
Associates or glows alone,<br />
Fulfilling absolute Decree<br />
In casual simplicity — —<br />
Emily Dickinson (1830 – 1886)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Der Baum<br />
(l’Arbre)<br />
Ich entkleidete mich, einen Baum zu erklimmen;<br />
meine nackten Schenkel umfassten die glatte und<br />
feuchte Rinde, meine Sandalen tasteten<br />
nach den Ästen.<br />
Hoch oben, doch noch unter den Blättern<br />
und im kühlenden Schatten setzte ich mich<br />
rittlings auf eine einzelne Astgabel und ließ<br />
meine Beine frei baumeln.<br />
Es hatte geregnet. Wassertropfen fielen herab und<br />
rannen über meine Haut; meine Hände waren<br />
voll von Moos, meine Füße gerötet<br />
von zertretenen Blütenblättern.<br />
Ich spürte das Leben in diesem herrlichen Baum,<br />
wenn sanft <strong>der</strong> Wind ihn bewegte; ich legte meine<br />
Schenkel enger an und drückte meine unschuldigen<br />
Lippen an die haarige Wölbung eines Astes.<br />
<br />
Je me suis dévêtue pour monter à un arbre;<br />
mes cuisses nues embrassaient l’écorce lisse<br />
et humide; mes sandales marchaient sur les<br />
branches.<br />
Tout en haut, mais encore sous les feuilles<br />
et à l’ombre de la chaleur, je me suis mise à<br />
cheval sur une fourche écartée en balançant<br />
mes pieds dans le vide.
Il avait plu. Des gouttes d’eau tombaient et<br />
coulaient sur ma peau. Mes mains étaient<br />
tachées de mousse, et mes orteils étaient<br />
rouges, à cause des fleurs écrasées.<br />
Je sentais le bel arbre vivre quand le vent<br />
passait au travers; alors je serrais mes<br />
jambes davantage et j’appliquais mes lèvres<br />
ouvertes sur la nuque chevelue d’un rameau.<br />
Aus »Les Chansons de Bilitis« von Pierre Louÿs (1870 – 1925)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Die Ratten<br />
In Hof scheint weiß <strong>der</strong> herbstliche Mond.<br />
Vom Dachrand fallen phantastische Schatten.<br />
Ein Schweigen in leeren Fenstern wohnt;<br />
Da tauchen leise herauf die Ratten<br />
Und huschen pfeifend hier und dort<br />
Und ein gräulicher Dunsthauch wittert<br />
Ihnen nach aus dem Abort,<br />
Den geisterhaft <strong>der</strong> Mondschein durchzittert<br />
Und sie keifen vor Gier wie toll<br />
Und erfüllen Haus und Scheunen,<br />
Die von Korn und Früchten voll.<br />
Eisige Winde im Dunkel greinen.<br />
Georg Trakl (1887 – 1914)
Früh o<strong>der</strong> spät<br />
Gezittert hab’ ich um dein teures Leben,<br />
Mit <strong>der</strong> Verzweiflung Aug’ in Aug’ gerungen,<br />
Als ich, von namenloser Angst durchdrungen,<br />
Dich schon im Scheiden wähnte und Entschweben.<br />
Jetzt, da du wie<strong>der</strong> mir zurückgegeben,<br />
Aufjubeln sollte ich mit Flammenzungen!<br />
Ich kann es nicht. Von deinem Arm umschlungen,<br />
Fühl’ ich die finstre Macht uns doch umweben.<br />
Früh o<strong>der</strong> spät, die Stunde muß erscheinen,<br />
Die, trennend uns mit grimmem Todeshiebe,<br />
Der Seelen Glut dem Staube wird vereinen.<br />
Und Schau<strong>der</strong> faßt mich an vor einer Welt,<br />
In <strong>der</strong> das Höchste, Heiligste, die Liebe,<br />
Sowie das Niedrigste dem Nichts verfällt.<br />
Betty Paoli (1814 – 1894)
Vierzeiler<br />
(Tetrastique)<br />
François Villon nach <strong>der</strong> Verkündigung seines Todesurteils,<br />
das jedoch nicht vollstreckt wurde.<br />
Ich bin Franzos’, es ist kein Spaß,<br />
Aus Paris — eigentlich Pontoise,<br />
den Strick zu spür’n — kommt mir zupaß —<br />
dann weiß ich was mein Arsch mir maß.<br />
<br />
Je suis François, dont ce me poise,<br />
Né de Paris emprès Pontoise,<br />
Qui d’une corde d’une toise<br />
Sçaura mon col que mon cul poise.<br />
François Villon (1431 – 1463)<br />
(Deutsche Übertragung von milalis)
Du allein hast Güter, Fel<strong>der</strong><br />
Du allein hast Wohlstand, Gel<strong>der</strong>;<br />
Du allein kannst alles haben,<br />
Dich am Duft <strong>der</strong> Götter laben,<br />
Du hast Wein, Bernstein und Gaben<br />
Du allein zeigst mut’ge Taten<br />
Du allein: weise und wohlgeraten. — —<br />
Befehlen ist dein Zeitvertreib<br />
Doch ausgenommen ist dein Weib<br />
Denn uns allen gehört ihr Leib.<br />
<br />
Solo tienes posesiones,<br />
solo dineros y bienes<br />
de oro; solo, sólo tienes<br />
olorosas confesiones.<br />
Solo vinos, ámbar, dones;<br />
Solo tienes valentía,<br />
Solo ciencia y cortesía;<br />
Y con quererlo tener<br />
Todo, sólo a tu mujer<br />
La tienes en compañía.<br />
Francisco de Quevedo (1580 – 1645)<br />
(Aus dem Spanischen nachempfunden von milalis)
O weh<br />
(Owê)<br />
O weh — wohin sind verschwunden all’ meine Jahr’!<br />
Ist mein Leben geträumt o<strong>der</strong> ist es wahr<br />
Was ich glaubte, das wäre; war das denn was<br />
O<strong>der</strong> hab’ ich geschlafen, was ich nur vergaß<br />
Nun bin ich erwacht und mir ist nichts bekannt,<br />
Als daß ich weiß, von meiner an<strong>der</strong>en Hand.<br />
Land und Leute, wo als Kind ich erzogen,<br />
Sind mir so fremd als wär’ es gelogen.<br />
Die meine Gespielen war’n, sind träge und alt.<br />
Verbrannt ist das Feld, geschlagen <strong>der</strong> Wald.<br />
Würd’ das Wasser nicht fließen, wie immer es floß,<br />
Fürwahr, ich glaube mein Unglück wär’ groß.<br />
Mancher grüßt zögernd, <strong>der</strong> mich kannte einmal.<br />
Die Welt ist so voller Ungnad’ und Qual.<br />
Wenn ich zurückdenk’ an manch schönen Tag,<br />
<strong>der</strong> mir entfallen, wie ins Wasser ein Schlag,<br />
— immer mehr, O weh.<br />
O weh — wie jämmerlich sind die Jungen gar,<br />
Wo doch einst Frohsinn nur in ihnen war!<br />
Sie kennen nur Sorgen: O weh — Wieso<br />
Wohin ich auch blicke, niemand ist froh:<br />
Tanzen, Lachen, Singen; nichts werd’ ich gewahr;<br />
Kein Christ sah je so eine klägliche Schar.<br />
Nun seht, wie den Frauen die Kränze stehen:<br />
Die stolzen Ritter in Dorftracht nur gehen.<br />
Uns sind böse Briefe von Rom her gekommen,<br />
Das Trauern erlaubend, die Freude genommen.<br />
Das trifft mich tief innen (wir lebten so wohl),<br />
Daß mein Lachen zum Weinen ich eintauschen soll.<br />
Die Vögel im Wald gar betrübt unsere Klage,<br />
Wun<strong>der</strong>t es denn, wenn ich da verzage<br />
Was spreche ich Dummer bloß in meinem Zorn<br />
Wer <strong>der</strong> Wonne jetzt folgt, hat sie auf ewig verlor’n.<br />
— immer mehr, O weh.
O weh — wie uns doch die süßen Dinge ver<strong>der</strong>ben!<br />
Ich sehe die Galle den Honig schon färben.<br />
Die Welt ist von außen so schön, weiß, grün, rot,<br />
Doch innen so finster und schwarz wie <strong>der</strong> Tod.<br />
Und wen sie verführt hat, <strong>der</strong> sei stets bereit:<br />
Denn schon kleine Buße von Sünde befreit.<br />
Denkt daran, Ritter, es ist euer Ding!<br />
Ihr tragt die Helme und so manch harten Ring,<br />
Dazu noch die Schilde und das geweihte Schwert.<br />
Wollte es Gott, wär’ ich des Siegens wert!<br />
So würde mir Armem gebühren viel Sold.<br />
Doch nicht <strong>der</strong> Herren Hab, noch <strong>der</strong>en Gold:<br />
Ich würde die Krone ewiglich tragen,<br />
Die ein Söldner sich kann mit dem Speere erjagen.<br />
Und könnte ich fahren bloß über die See,<br />
Würd’ ich froh singen und nicht mehr, O weh.<br />
— nimmer mehr, O weh.<br />
<br />
Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!<br />
ist mir mîn leben getroumet, o<strong>der</strong> ist ez wâr<br />
daz ich ie wânde daz iht wære, was daz iht<br />
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.<br />
nû bin ich erwaht, und ist mir unbekant<br />
daz mir hie vor was kündic als mîn an<strong>der</strong> hant.<br />
liut unde lant, dâ ich von kinde bin erzogen,<br />
die sint mir frömde reht als ob ez sî gelogen.<br />
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.<br />
vereitet ist daz velt, verhouwen ist <strong>der</strong> walt:<br />
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,<br />
für wâr ich wânde mîn unglücke wurde grôz,<br />
mich grüezet maneger trâge, <strong>der</strong> mich kande ê wol.<br />
diu welt ist allenthalben ungenâden vol.<br />
als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac,<br />
die mir sint enpfallen gar als in daz mer ein slac,<br />
iemer mêre ouwê.
Owê wie jæmerlîche junge liute tuont,<br />
den ê vil hovelîchen ir gemüete stuont!<br />
die kunnen niuwan sorgen: ouwê wie tuont si sô<br />
swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman frô:<br />
tanzen, lachen, singen zergât mit sorgen gar:<br />
nie kein kristenman gesach sô jæmerlîche schar.<br />
nû merkent wie den frouwen ir gebende stât:<br />
die stolzen ritter tragent dörperllîche wât.<br />
uns sint unsenfte brieve her von Rôme komen,<br />
uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen.<br />
daz müet mich inneclîchen (wir lebten iê vil wol),<br />
daz ich nû für mîn lachen weinen kiesen sol.<br />
die vogel in <strong>der</strong> wilde betrüebet unser klage:<br />
waz wun<strong>der</strong>s ist ob ich dâ von an fröiden gar verzage<br />
waz spriche ich tumber durch mînen bœsen zorn<br />
swer dirre wünne volget, hât jene dort verlorn,<br />
iemer mêre ouwê.<br />
Owê wie uns mit süezen dingen ist vergeben!<br />
ich sihe die gallen mitten in dem honege sweben:<br />
die welt ist ûzen schœne, wîz grüen unde rôt,<br />
und innân swarzer varwe, vinster sam <strong>der</strong> tôt.<br />
swen sie nû habe verleitet, <strong>der</strong> schouwe sînen trôst:<br />
er wirt mit swacher buoze grôzer sünde erlôst.<br />
dar an gedenkent, ritter: ez ist iuwer dinc.<br />
ir tragent die liehten helme und manegen herten rinc,<br />
dar zuo die vesten schilte und diu gewîhten swert.<br />
wolte got, wan wære ich <strong>der</strong> sigenünfte wert!<br />
sô wolte ich nôtic armman verdienen rîchen solt.<br />
joch meine ich niht die huoben noch <strong>der</strong> hêrren golt:<br />
ich wolte sælden krône êweclîchen tragen:<br />
die mohte ein soldenære mit sîme sper bejagen.<br />
möht ich die lieben reise gevaren über sê,<br />
sô wolte ich denne singen wol, und niemer mêr ouwê,<br />
niemer mêr ouwê.<br />
Walther von <strong>der</strong> Vogelweide (ca. 1170 – 1230)<br />
(Aus dem Althochdeutschen übertragen von Matthias Klemm)
Die Goldgräber<br />
Sie waren gezogen über das Meer,<br />
Nach Glück und Gold stand ihr Begehr,<br />
Drei wilde Gesellen, vom Wetter gebräunt,<br />
Und kannten sich wohl und waren sich freund.<br />
Sie hatten gegraben Tag und Nacht,<br />
Am Flusse die Grube, im Berge den Schacht,<br />
In Sonnengluten und Regengebraus<br />
Bei Durst und Hunger hielten sie aus.<br />
Und endlich, endlich, nach Monden voll Schweiß,<br />
Da sah’n aus <strong>der</strong> Tiefe sie winken den Preis,<br />
Da glüht es sie an durch das Dunkel so hold,<br />
Mit Blicken <strong>der</strong> Schlange, das feurige Gold.<br />
Sie brachen es los aus dem finsteren Raum,<br />
Und als sie’s faßten, sie hoben es kaum,<br />
Und als sie’s wogen, sie jauchzten zugleich:<br />
»Nun sind wir geborgen, nun sind wir reich!«<br />
Sie lachten und kreischten mit jubelndem Schall,<br />
Sie tanzten im Kreis um das blanke Metall,<br />
Und hätte <strong>der</strong> Stolz nicht bezähmt ihr Gelüst,<br />
Sie hätten’s mit brünstiger Lippe geküßt.<br />
Sprach Tom, <strong>der</strong> Jäger: »Nun laßt uns ruh’n!<br />
Zeit ist’s, auf das Mühsal uns gütlich zu tun.<br />
Geh’, Sam, und hol’ uns Speisen und Wein,<br />
Ein lustiges Fest muß gefeiert sein.«<br />
Wie trunken schlen<strong>der</strong>te Sam dahin<br />
Zum Flecken hinab mit verzaubertem Sinn;<br />
Sein Haupt umnebelnd beschlichen ihn sacht<br />
Gedanken, wie er sie nimmer gedacht.<br />
Die an<strong>der</strong>n saßen am Bergeshang,<br />
Sie prüften das Erz, und es blitzt’ und es klang.<br />
Sprach Will, <strong>der</strong> Rote: »Das Gold ist fein;<br />
Nur schade, daß wir es teilen zu drein!«
»Du meinst« — »Je nun, ich meine nur so.<br />
Zwei würden des Schatzes besser froh« —<br />
»Doch wenn — « — »Wenn was« — »Nun, nehmen wir an,<br />
Sam wäre nicht da« — »Ja, freilich, dann — — «<br />
Sie schwiegen lang; die Sonne glomm<br />
Und gleißt’ um das Gold; da murmelte Tom:<br />
»Siehst du die Schlucht dort unten« — »Warum« —<br />
»Ihr Schatten ist tief, und die Felsen sind stumm.« —<br />
»Versteh’ ich dich recht« — »Was fragst du noch viel!<br />
Wir dachten es beide und führen’s ans Ziel.<br />
Ein tüchtiger Stoß und ein Grab im Gestein,<br />
So ist es getan, und wir teilen allein.«<br />
Sie schwiegen aufs neu’. Es verglühte <strong>der</strong> Tag,<br />
Wie Blut auf dem Golde das Spätrot lag;<br />
Da kam er zurück, ihr junger Genoß,<br />
Von bleicher Stirne <strong>der</strong> Schweiß ihm floß.<br />
»Nun her mit dem Korb und dem bauchigen Krug!«<br />
Und sie aßen und tranken mit tiefem Zug.<br />
»Hei lustig, Bru<strong>der</strong>! Dein Wein ist stark;<br />
Er rollt wie Feuer durch Bein und Mark.<br />
Komm, tu’ uns Bescheid!« — »Ich trank schon vorher;<br />
Nun sind vom Schlafe die Augen mir schwer.<br />
Ich streck’ ins Geklüft mich.« — »Nun, gute Ruh’!<br />
Und nimm den Stoß und den dazu!«<br />
Sie trafen ihn mit den Messern gut;<br />
Er schwankt’ und glitt im rauchenden Blut.<br />
Noch einmal hub er sein blaß Gesicht:<br />
»Herr Gott im Himmel, du hältst Gericht!<br />
Wohl um das Gold erschluget ihr mich;<br />
Weh euch! Ihr seid verloren wie ich.<br />
Auch ich, ich wollte den Schatz allein<br />
Und mischt’ euch tödliches Gift an den Wein.«<br />
Emmanuel Geibel (1815 – 1884)
Schnee
Hoch im Norden<br />
Hun<strong>der</strong>t Meilen unter Eis<br />
Tausend Meilen wehen<strong>der</strong> Schnee<br />
Beidseits <strong>der</strong> Großen Mauer<br />
Nur eine weiße Unendlichkeit<br />
Der schnelle Lauf des Gelben Flußes<br />
Ist gedämpft im ganzen Strom<br />
Die Berge tanzen wie Silberschlangen<br />
Das Hochland wie wachsfarbene Elephanten<br />
Wetteifern mit dem Himmel an Gestalt<br />
An einem klaren Tag liegt das Land<br />
In weiß gekleidet, geschmückt mit Rot,<br />
Und wird immer zauberhafter.<br />
Das Land so reich an Schönheit<br />
ließ seine Helden in Ehrfurcht sich verbeugen.<br />
Doch Tang Tai-tsung und Sung Tai-tsu<br />
Mangelte es an bilden<strong>der</strong> Anmut<br />
Auch Tang Tai-tsung und Sung Tai-tsu<br />
Trugen wenig in ihren Herzen,<br />
Und Genghis Khan<br />
War ein stolzer Sohn nur für kurz,<br />
Konnte bloß den Adler mit dem Bogen schießen,<br />
Vergangen alles und vorbei.<br />
Suchst du wirklich große Menschen<br />
Schau dich um in deiner Zeit.<br />
Mao Tse-tung (1893 – 1976)<br />
(Auf deutsch nachempfunden von milalis;<br />
unterstützt von ihrer chinesischen Freundin Lu Chen.)
Die Muschel<br />
Su, susu,<br />
O, schlaf im schimmernden Bade,<br />
Hörst du sie plätschern und rauschen,<br />
Meine hüpfende blanke Najade<br />
Ihres Haares seidenen Tang<br />
Über <strong>der</strong> Schultern Perlenschaum;<br />
Horch! sie singt den Wellengesang,<br />
Süß wie Vögelein, zart wie Traum:<br />
»Webe, woge, Welle, wie<br />
Westes Säuselmelodie,<br />
Wie die Schwalbe übers Meer<br />
Zwitschernd streicht von Süden her,<br />
Wie des Himmels Wolken tauen<br />
Segen auf des Eilands Auen,<br />
Wie die Muschel knirrt am Strand,<br />
Von <strong>der</strong> Düne rieselt Sand.<br />
Woge, Welle, sachte, sacht,<br />
Daß <strong>der</strong> Triton nicht erwacht.<br />
In <strong>der</strong> Hand das plumpe Horn<br />
Schlummert er, am Strudelborn.<br />
In <strong>der</strong> Muschelhalle liegt er,<br />
Seine grünen Zöpfe wiegt er;<br />
Riesle, Woge, Sand und Kies,<br />
In des Bartes zottig Vlies.<br />
Leise, leise, Wellenkreis,<br />
Wie des Liebsten Ru<strong>der</strong> leis<br />
Streift dein leuchtend Glas entlang<br />
Zu dem nächtlich süßen Gang;<br />
Wenn das Boot, im Strauch geborgen,<br />
Tändelt, schaukelt, bis zum Morgen.<br />
In <strong>der</strong> Kammer flimmert Licht;<br />
Ruhig, Kiesel, knistert nicht!«
Das Lied verhaucht, wie Echo am Gestade,<br />
Und leiser, leiser wiegt sich die Najade,<br />
Beginnt ihr strömend Flockenhaar zu breiten,<br />
Läßt vom Korallenkamm die Tropfen gleiten,<br />
Und sachte strählend schwimmt sie, wie ein Hauch,<br />
Im Strahl <strong>der</strong> dämmert durch den Nebelrauch;<br />
Wie glänzt ihr Regenbogenschleier! — o,<br />
Die Sonne steigt, — das Meer beginnt zu zittern, —<br />
Ein Silbernetz von Myriaden Flittern!<br />
Mein Auge zündet sich — wo bin ich — wo<br />
Tief atmend saß ich auf, aus Westen<br />
Bohrte <strong>der</strong> schräge Sonnenstrahl,<br />
Es tropft’ und rieselt’ von den Ästen,<br />
Die Lerche stieg im Äthersaal;<br />
Vom blanken Erzgewürfel traf<br />
Mein Aug’ ein Leuchten, schmerzlich flirrend,<br />
Und in des Zuges Hauche schwirrend<br />
Am Boden lag das Autograph.<br />
So hab’ ich Donner, Blitz und Regenschauer<br />
Verträumt, in einer Sommerstunde Dauer.<br />
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)
Zu Abend mein Herz<br />
Am Abend hört man den Schrei <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse.<br />
Zwei Rappen springen auf <strong>der</strong> Wiese.<br />
Der rote Ahorn rauscht.<br />
Dem Wan<strong>der</strong>er erscheint die kleine Schenke am Weg.<br />
Herrlich schmecken junger Wein und Nüsse.<br />
Herrlich: betrunken zu taumeln in dämmernden Wald.<br />
Durch schwarzes Geäst tönen schmerzlich Glocken.<br />
Auf das Gesicht tropft Tau.<br />
Georg Trakl (1887 – 1914)
Tänzerin<br />
O, plötzlich branntest du im weißen Licht,<br />
in dich versunkner Blitz von blauer Seide!<br />
Warfst deine Arme, schlank und grausam beide,<br />
warfst deinen Körper wirr in mein Gesicht!<br />
Licht Schreitende auf sommerlicher Heide!<br />
Flicht mild dein Leben Locken-Gold in dies Gedicht!<br />
Ja! Wirf den Nacken auf das Hoch-Gericht<br />
blitzen<strong>der</strong> Takte, daß <strong>der</strong> Gott entscheide,<br />
dem du entsprühst, <strong>der</strong> in uns allen tobt;<br />
<strong>der</strong> jauchzend dein Fontänen-Dasein lobt<br />
und dich entfaltet wie ein buntes Lied.<br />
Tanze dein Träumen weiter! Sei entblüht<br />
dem Ewigen, das in den Rhythmen glüht<br />
und sich im Glanze heller Augen probt.<br />
Walter Rheiner (1895 – 1925)
Chidher<br />
Chidher, <strong>der</strong> ewig junge, sprach:<br />
»Ich fuhr an einer Stadt vorbei,<br />
Ein Mann im Garten Früchte brach;<br />
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei«<br />
Er sprach und pflückte die Früchte fort:<br />
»Die Stadt steht ewig an diesem Ort<br />
Und wird so stehen ewig fort.«<br />
Und aber nach fünfhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.<br />
Da fand ich keine Spur <strong>der</strong> Stadt;<br />
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,<br />
Die Herde weidete Laub und Blatt;<br />
Ich fragte: »Wie lang’ ist die Stadt vorbei«<br />
Er sprach und blies auf dem Rohre fort:<br />
»Das eine wächst, wenn das andre dorrt;<br />
Das ist mein ewiger Weideort.«<br />
Und aber nach fünfhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.<br />
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,<br />
Ein Schiffer warf die Netze frei;<br />
Und als er ruhte vom schweren Zug,<br />
Fragt’ ich, seit wann das Meer hier sei<br />
Er sprach und lachte meinem Wort:<br />
»So lang’ als schäumen die Wellen dort,<br />
Fischt man und fischt man in diesem Port.«<br />
Und aber nach fünfhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich einen waldigen Raum<br />
Und einen Mann in <strong>der</strong> Siedelei,<br />
Er fällte mit <strong>der</strong> Axt den Baum;<br />
Ich fragte, wie alt <strong>der</strong> Wald hier sei<br />
Er sprach: »Der Wald ist ein ewiger Hort;<br />
Schon ewig wohn’ ich an diesem Ort,<br />
Und ewig wachsen die Bäum’ hier fort.«<br />
Und aber nach fünfhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.<br />
Da fand ich eine Stadt, und laut<br />
Erschallte <strong>der</strong> Markt vom Volksgeschrei.<br />
Ich fragte: »Seit wann ist die Stadt erbaut<br />
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei«<br />
Sie schrien und hörten nicht mein Wort:<br />
»So ging es ewig an diesem Ort<br />
Und wird so gehen ewig fort.«<br />
Und aber nach fünfhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
Will ich desselbigen Weges fahren.<br />
Friedrich Rückert (1788 – 1866)
Fantasieen<br />
Meinen Freunden gewidmet.<br />
Oft glänzt am jungen Morgen<br />
Durch rosiges Gewölke<br />
Der Sonne goldnes Feuer,<br />
Doch eh’ <strong>der</strong> Abend dämmert,<br />
Oft eh’ <strong>der</strong> Mittag glühet,<br />
Umziehen schwarze Wolken<br />
Des Himmels reinen Azur,<br />
Und Regenströme fließen,<br />
Und laute Winde heulen,<br />
Und schwere Hagel fallen;<br />
Zerknickt liegt Halm und Blume,<br />
Entblättert hängt die Rose,<br />
Zerrissen Tulp’ und Lilje;<br />
Des Landmanns frohe Hoffnung,<br />
Die Fluren, reich an Segen,<br />
Schlug mit des Sturmes Flügel<br />
Der schwere Hagel nie<strong>der</strong>;<br />
Der Bäume Blüthenzweige<br />
Steh’n mit zerrißnem Kranze,<br />
Verweht sind nun die Blüthen,<br />
Vernichtet ist die Hoffnung,<br />
Zu ärnten süße Früchte. —<br />
Seht da, geliebte Freunde,<br />
Das Bild von meinem Leben!<br />
In meinen Blüthentagen<br />
Träumt’ ich oft frohe Träume;<br />
Die Freude nannt’ ich Schwester,<br />
Die Unschuld war Gespielin;<br />
Und Fantasie, die holde,<br />
Half mir in frohen Stunden<br />
Oft goldne Schlösser bauen;<br />
Dann formt’ ich idealisch<br />
Die lieblichsten Gestalten,<br />
Gab ihnen Geist und Leben,<br />
Schuf Herzen, je<strong>der</strong> Güte<br />
Und je<strong>der</strong> Tugend fähig.
Ich kannte nur die Menschen<br />
Von ihrer schönsten Seite,<br />
Und traute leicht und willig<br />
Dem Mann mit offnen Blicken.<br />
In meinen süßen Träumen<br />
Schloß ich mit edlen Seelen<br />
Den Bund <strong>der</strong> ew’gen Treue.<br />
Ich malte meine Bil<strong>der</strong><br />
Mit himmlisch-schönen Farben,<br />
Des Götterfunkens würdig,<br />
Der jeden Menschenbusen<br />
Durchglühet und erwärmet,<br />
Der diesen mehr, den min<strong>der</strong><br />
Mit Allgewalt dahinreißt,<br />
Die Tugend anzubeten.<br />
Ich fühlte in dem Feuer,<br />
Das meine Brust durchglühte,<br />
Zu jedem Opfer Stärke,<br />
Zu je<strong>der</strong> Tugend Willen.<br />
Jetzt kenn’ ich, ach! vollkommner<br />
Die Welt und ihre Menschen;<br />
Mein Glaube an die Tugend,<br />
An Redlichkeit und Treue<br />
Liegt da vor meinen Blicken,<br />
Wie schauerliche Trümmer<br />
Von stolzen Fürsten-Sitzen!<br />
O damals hoben hohe<br />
Empfindungen den Busen,<br />
Wenn ich mit stolzer Freude<br />
Mich eine Teutsche nannte:<br />
Dann floh’ die junge Seele<br />
Zurück in jene Zeiten,<br />
Wo reine teutsche Sitten<br />
Germanien beglückten.<br />
Mit tiefer Rührung weilte<br />
Ich froh an den Altären,<br />
Die unsre Väter weih’ten<br />
Den Manen großer Seelen.<br />
Dann malte hohe Röthe<br />
Die jugendlichen Wangen.
Der Vorsatz, das zu werden,<br />
Was unsre Mütter waren,<br />
Erhob die junge Seele<br />
Zu himmlisch reiner Wonne!<br />
Jetzt zittert eine Thräne<br />
Im trüben ernsten Blicke,<br />
Wenn lachend die Fantome<br />
Aus jenen goldnen Tagen<br />
Vor meiner Seele schweben.<br />
Die Bil<strong>der</strong> meines Geistes<br />
Zerflatterten im Nebel<br />
Der jungen Morgenröthe.<br />
In meiner Väter Tagen,<br />
Da galten nur die Kerne,<br />
Und Schalen blieben — Schalen! —<br />
O meine edlen Freunde!<br />
Da liegen alle Bil<strong>der</strong><br />
Aus meinen Blüthen-Tagen,<br />
Zertrümmert und zerrissen!<br />
Die lachenden Gefilde,<br />
Die ich als frohes Mädchen<br />
Einst zu durchwandeln hoffte,<br />
Zerschlugen Sturm und Hagel;<br />
Aus meinen Rosenlauben<br />
Entwuchsen Dorn und Disteln;<br />
Wo ich mit froher Hoffnung<br />
Einst Blumenkränze flochte,<br />
Da sproßten ach! nur Nesseln.<br />
O! hätten sie mir Armen<br />
Die Hände nur verwundet!<br />
Sie brannten bis zum Herzen,<br />
Und brennen unaufhörlich!<br />
Verweht sind nun die Blüthen,<br />
Die Blüthen meines Geistes!<br />
Dies Auge, das mit Wonne<br />
In ferne Tage blickte,<br />
Weint jetzt betrogner Hoffnung,<br />
Getäuschter Freundschaft Thränen!
Euch aber, meine Edlen!<br />
Die ihr allein noch pranget<br />
Auf jenen Morgen-Fluren,<br />
Euch weih’ ich diese Thränen<br />
Der innigsten Empfindung,<br />
Des feuervollsten Dankes!<br />
Daß ich nicht ganz den Glauben<br />
An Menschenwerth und Tugend,<br />
An Freundes Treu und Güte,<br />
Verlohr aus meinem Herzen,<br />
Das dank’ ich eurer Tugend!<br />
Daß ich mit diesem Herzen,<br />
Mit diesem Hang zu stiller<br />
Und schwermuthsvoller Trauer,<br />
Noch nicht bin hingesunken<br />
In dunkle Orkus-Nächte,<br />
Daß ich noch bin, noch athme,<br />
Der Frühling mir noch lächelt,<br />
Der Freundschaft reine Wonnen<br />
Aus Eurem Blick mir stralen,<br />
Wenn ich an Euch mich schließe,<br />
Und, — spottend <strong>der</strong> Chimären<br />
Von frohen Jugend-Träumen,<br />
Von bunten Seifenblasen, —<br />
Mit heit’rer Stirne lächle,<br />
Das alles, meine Lieben,<br />
Verdank’ ich Eurer Freundschaft!<br />
Elise Sommer (1767 – )
Zum Ausklang des Jahres <strong>2004</strong> ein paar Gedanken in Gedichtform von<br />
Johann Wolfgang von Goethe<br />
Zahme Xenien<br />
IX<br />
»Sag, was enthält die Kirchengeschichte<br />
Sie wird mir in Gedanken zunichte;<br />
Es gibt unendlich viel zu lesen,<br />
Was ist denn aber das alles gewesen«<br />
Zwei Gegner sind es, die sich boxen,<br />
Die Arianer und Orthodoxen.<br />
Durch viele Säkla dasselbe geschicht,<br />
Es dauert bis an das Jüngste Gericht.<br />
Der Vater ewig in Ruhe bleibt,<br />
Er hat <strong>der</strong> Welt sich einverleibt.<br />
Der Sohn hat Großes unternommen:<br />
Die Welt zu erlösen, ist angekommen;<br />
Hat gut gelehrt und viel ertragen,<br />
Wie das noch heut in unsern Tagen.<br />
Nun aber kommt <strong>der</strong> Heilig Geist,<br />
Er wirkt am Pfingsten allermeist.<br />
Woher er kommt, wohin er weht,<br />
Das hat noch niemand ausgespäht.<br />
Sie geben ihm nur eine kurze Frist,<br />
Da er doch Erst’ und Letzter ist.<br />
Deswegen wir treulich, unverstohlen<br />
Das alte Credo wie<strong>der</strong>holen:<br />
Anbetend sind wir all’ bereit<br />
Die ewige Dreifaltigkeit.
Mit Kirchengeschichte was hab ich zu schaffen<br />
Ich sehe weiter nichts als Pfaffen;<br />
Wie’s um die Christen steht, die Gemeinen,<br />
Davon will mir gar nichts erscheinen.<br />
Ich hätt auch können Gemeinde sagen,<br />
Ebensowenig wäre zu erfragen.<br />
Glaubt nicht, daß ich fasele, daß ich dichte;<br />
Seht hin und findet mir andre Gestalt!<br />
Es ist die ganze Kirchengeschichte<br />
Mischmasch von Irrtum und von Gewalt.<br />
<br />
<br />
<br />
Ihr Gläubigen! rühmt nur nicht euren Glauben<br />
Als einzigen! Wir glauben auch wie ihr.<br />
Der Forscher läßt sich keineswegs berauben<br />
Des Erbteils, aller Welt gegönnt — und mir.<br />
<br />
Ein Sadduzäer will ich bleiben! —<br />
Das könnte mich zur Verzweiflung treiben,<br />
Wenn von dem Volk, das hier mich bedrängt,<br />
Auch würde die Ewigkeit eingeengt;<br />
Das wäre doch nur <strong>der</strong> alte Platsch,<br />
Droben gäb’s nur verklärten Klatsch.<br />
»Sei nicht so heftig, sei nicht so dumm!<br />
Da drüben bildet sich alles um.«<br />
Ich habe nichts gegen die Frömmigkeit,<br />
Sie ist zugleich Bequemlichkeit;<br />
Wer ohne Frömmigkeit will leben,<br />
Muß großer Mühe sich ergeben:<br />
Auf seine eigne Hand zu wan<strong>der</strong>n,<br />
Sich selbst genügen und den an<strong>der</strong>n
Und freilich auch dabei vertraun,<br />
Gott werde wohl auf ihn nie<strong>der</strong>schaun.<br />
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,<br />
Hat auch Religion;<br />
Wer jene beiden nicht besitzt,<br />
Der habe Religion.<br />
Niemand soll ins Kloster gehn,<br />
Als er sei denn wohl versehn<br />
Mit gehörigem Sündenvorrat,<br />
Damit es ihm so früh als spat<br />
Nicht mög am Vergnügen fehlen,<br />
Sich mit Reue durchzuquälen.<br />
Laßt euch nur von Pfaffen sagen,<br />
Was die Kreuzigung eingetragen!<br />
Niemand kommt zum höchsten Flor<br />
Von Kranz und Orden,<br />
Wenn einer nicht zuvor<br />
Derb gedroschen worden.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Den deutschen Mannen gereicht’s zum Ruhm,<br />
Daß sie gehaßt das Christentum,<br />
Bis Herrn Carolus’ leidigem Degen<br />
Die edlen Sachsen unterlegen.<br />
Doch haben sie lange genug gerungen,<br />
Bis endlich die Pfaffen sie bezwungen<br />
Und sie sich unters Joch geduckt;<br />
Doch haben sie immer einmal gemuckt.<br />
Sie lagen nur im halben Schlaf,<br />
Als Luther die Bibel verdeutscht so brav.
Sankt Paulus, wie ein Ritter <strong>der</strong>b,<br />
Erschien den Rittern min<strong>der</strong> herb.<br />
Freiheit erwacht in je<strong>der</strong> Brust,<br />
Wir protestieren all mit Lust.<br />
»Ist Konkordat und Kirchenplan<br />
Nicht glücklich durchgeführt« —<br />
Ja fangt einmal mit Rom nur an,<br />
Da seid ihr angeführt.<br />
Ein lutherischer Geistlicher spricht:<br />
Heiliger, lieber Luther,<br />
Du schabtest die Butter<br />
Deinen Gesellen vom Brot,<br />
Das verzeihe dir Gott!<br />
Den Vereinigten Staaten<br />
Amerika, du hast es besser<br />
Als unser Kontinent, das alte,<br />
Hast keine verfallene Schlösser<br />
Und keine Basalte.<br />
Dich stört nicht im Innern<br />
Zu lebendiger Zeit<br />
Unnützes Erinnern<br />
Und vergeblicher Streit.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Benutzt die Gegenwart mit Glück!<br />
Und wenn nun eure Kin<strong>der</strong> dichten,<br />
Bewahre sie ein gut Geschick<br />
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Bei einer großen Wassersnot<br />
Rief man zu Hülfe das Feuer,<br />
Da ward sogleich <strong>der</strong> Himmel rot,<br />
Und nirgend war es geheuer:<br />
Durch Wäl<strong>der</strong> und Fel<strong>der</strong> kamen gerannt<br />
Die Blitze zu flammenden Rotten,<br />
Die ganze Erde, sie war verbrannt,<br />
Noch eh die Fische gesotten.<br />
Und als die Fische gesotten waren,<br />
Bereitet’ man große Feste;<br />
Ein je<strong>der</strong> brachte sein Schüsselein mit,<br />
Groß war die Zahl <strong>der</strong> Gäste;<br />
Ein je<strong>der</strong> drängte sich herbei,<br />
Hier gab es keine Faule;<br />
Die Gröbsten aber schlugen sich durch<br />
Und fraßen’s den an<strong>der</strong>n vom Maule.<br />
Die Engel stritten für uns Gerechte,<br />
Zogen den kürzern in jedem Gefechte;<br />
Da stürzte denn alles drüber und drunter,<br />
Dem Teufel gehörte <strong>der</strong> ganze Plun<strong>der</strong>.<br />
Nun ging es an ein Beten und Flehen!<br />
Gott ward bewegt, hereinzusehen.<br />
Spricht Logos, dem die Sache klar<br />
Von Ewigkeit her gewesen war:<br />
Sie sollten sich keineswegs genieren,<br />
Sich auch einmal als Teufel gerieren,<br />
Auf jede Weise den Sieg erringen<br />
Und hierauf das Tedeum singen.<br />
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen,<br />
Und siehe! die Teufel waren geschlagen.<br />
Natürlich fanden sie hinterdrein,<br />
Es sei recht hübsch, ein Teufel zu sein.
Wenn auch <strong>der</strong> Held sich selbst genug ist,<br />
Verbunden geht es doch geschwin<strong>der</strong>;<br />
Und wenn <strong>der</strong> Überwundne klug ist,<br />
Gesellt er sich zum Überwin<strong>der</strong>.<br />
Die reitenden Helden vom festen Land<br />
Haben jetzt gar viel zu bedeuten;<br />
Doch stünd es ganz in meiner Hand,<br />
Ein Meerpferd möcht ich reiten.<br />
Am Jüngsten Tag vor Gottes Thron<br />
Stand endlich Held Napoleon.<br />
Der Teufel hielt ein großes Register<br />
Gegen denselben und seine Geschwister,<br />
War ein wun<strong>der</strong>sam verruchtes Wesen:<br />
Satan fing an, es abzulesen.<br />
Gott Vater o<strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Sohn,<br />
Einer von beiden sprach vom Thron,<br />
Wenn nicht etwa gar <strong>der</strong> Heilige Geist<br />
Das Wort genommen allermeist:<br />
»Wie<strong>der</strong>hol’s nicht vor göttlichen Ohren!<br />
Du sprichst wie die deutschen Professoren.<br />
Wir wissen alles, mach es kurz!<br />
Am Jüngsten Tag ist’s nur ein …<br />
Getraust du dich, ihn anzugreifen,<br />
So magst du ihn nach <strong>der</strong> Hölle schleifen.«<br />
Ich kann mich nicht betören lassen,<br />
Macht euren Gegner nur nicht klein:<br />
Ein Kerl, den alle Menschen hassen,<br />
Der muß was sein!
Wolltet ihr in Leipzigs Gauen<br />
Denkmal in die Wolken richten,<br />
Wan<strong>der</strong>t, Männer all und Frauen,<br />
Frommen Umgang zu verrichten!<br />
Je<strong>der</strong> werfe dann die Narrheit,<br />
Die ihn selbst und andre quälet,<br />
Zu des runden Haufens Starrheit,<br />
Nicht ist unser Zweck verfehlet.<br />
Ziehen Junker auch und Fräulen<br />
Zu <strong>der</strong> Wallfahrt stillem Frieden,<br />
Wie erhabne Riesensäulen<br />
Wachsen unsre Pyramiden.<br />
Die Sprachreiniger<br />
Gott Dank! daß uns so wohl geschah:<br />
Der Tyrann sitzt auf Helena!<br />
Doch ließ sich nur <strong>der</strong> eine bannen,<br />
Wir haben jetzo hun<strong>der</strong>t Tyrannen.<br />
Die schmieden, uns gar unbequem,<br />
Ein neues Kontinentalsystem.<br />
Teutschland soll rein sich isolieren,<br />
Einen Pestkordon um die Grenze führen,<br />
Daß nicht einschleiche fort und fort Kopf,<br />
Körper und Schwanz von fremdem Wort.<br />
An die T … und D …<br />
Verfluchtes Volk! kaum bist du frei,<br />
So brichst du dich in dir selbst entzwei.<br />
War nicht <strong>der</strong> Not, des Glücks genug<br />
Deutsch o<strong>der</strong> teutsch, du wirst nicht klug.
Ein ewiges Kochen statt fröhlichem Schmaus!<br />
Was soll denn das Zählen, das Wägen, das Grollen<br />
Bei allem dem kommt nichts heraus,<br />
Als daß wir keine Hexameter machen sollen,<br />
Und sollen uns patriotisch fügen,<br />
An Knittelversen uns zu begnügen.<br />
<br />
Sagst du »Gott«, so sprichst du vom Ganzen;<br />
Sagst du »Welt«, so sprichst du von Schranzen.<br />
Hofschranzen sind noch immer die besten —<br />
*** schranzen fürchte, die allerletzten.<br />
Hatte sonst einer ein Unglück getragen,<br />
So durft er es wohl dem an<strong>der</strong>n klagen;<br />
Mußte sich einer im Felde quälen,<br />
Hatt er im Alter was zu erzählen.<br />
Jetzt sind sie allgemein, die Plagen,<br />
Der einzelne darf sich nicht beklagen;<br />
Im Felde darf nun niemand fehlen —<br />
Wer soll denn hören, wenn sie erzählen<br />
Die Deutschen sind recht gute Leut,<br />
Sind sie einzeln, sie bringen’s weit,<br />
Nun sind ihnen auch die größten Taten<br />
Zum ersten Mal im Ganzen geraten.<br />
Ein je<strong>der</strong> spreche Amen darein,<br />
Daß es nicht möge das letzte Mal sein.<br />
Die Franzosen verstehn uns nicht;<br />
Drum sagt man ihnen deutsch ins Gesicht,<br />
Was ihnen wär verdrießlich gewesen,<br />
Wenn sie es hätten franzö’sch gelesen.
Epimenides’ Erwachen. Letzte Strophe<br />
Verflucht sei, wer nach falschem Rat,<br />
Mit überfrechem Mut,<br />
Das, was <strong>der</strong> Korse-Franke tat,<br />
Nun als ein Deutscher tut!<br />
Er fühle spät, er fühle früh,<br />
Es sei ein dauernd Recht;<br />
Ihm geh es, trotz Gewalt und Müh,<br />
Ihm und den Seinen schlecht!<br />
<br />
Was haben wir nicht für Kränze gewunden!<br />
Die Fürsten, sie sind nicht gekommen;<br />
Die glücklichen Tage, die himmlischen Stunden,<br />
Wir haben voraus sie genommen.<br />
So geht es wahrscheinlich mit meinem Bemühn,<br />
Den lyrischen Siebensachen;<br />
Epimenides, denk ich, wird in Berlin<br />
Zu spät, zu früh erwachen.<br />
Ich war von reinem Gefühl durchdrungen;<br />
Bald schein ich ein schmeicheln<strong>der</strong> Lober:<br />
Ich habe <strong>der</strong> Deutschen Juni gesungen,<br />
Das hält nicht bis in Oktober.<br />
Was die Großen Gutes taten,<br />
Sah ich oft in meinem Leben;<br />
Was uns nun die Völker geben,<br />
Deren auserwählte Weisen<br />
Nun zusammen sich beraten,<br />
Mögen unsre Enkel preisen,<br />
Die’s erleben.<br />
<br />
<br />
Sonst, wie die Alten sungen,<br />
So zwitscherten die Jungen;<br />
Jetzt, wie die Jungen singen,<br />
Soll’s bei den Alten klingen.
Bei solchem Lied und Reigen<br />
Das Beste — ruhn und schweigen.<br />
Calan empfahl sich Alexan<strong>der</strong>n,<br />
Um jenen Rogus zu besteigen.<br />
Der König fragte, so die an<strong>der</strong>n<br />
Des Heeres auch: »Was willst du zeigen«<br />
»Nichts zeigen will ich, aber zeigen,<br />
Daß vor dem Könige, dem Heere,<br />
Vor blinkend blitzendem Gewehre<br />
Dem Weisen sich’s geziemt zu schweigen.«<br />
»Warum denn aber bei unsern Sitzen<br />
Bist du so selten gegenwärtig«<br />
Mag nicht für Langerweile schwitzen,<br />
Der Mehrheit bin ich immer gewärtig.<br />
Was doch die größte Gesellschaft beut<br />
Es ist die Mittelmäßigkeit.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Konstitutionell sind wir alle auf Erden;<br />
Niemand soll besteuert werden,<br />
Als wer repräsentiert ist.<br />
Da dem also ist, Frag ich und werde kühner:<br />
Wer repräsentiert denn die Diener<br />
Wie alles war in <strong>der</strong> Welt entzweit,<br />
Fand je<strong>der</strong> in Mauern gute Zeit:<br />
Der Ritter duckte sich hinein,<br />
Bauer in Not fand’s auch gar fein.<br />
Wo kam die schönste Bildung her,<br />
Und wenn sie nicht vom Bürger wär
Wenn aber sich Ritter und Bauern verbinden,<br />
Da werden sie freilich die Bürger schinden.<br />
Laßt euch mit dem Volk nur ein,<br />
Popularischen! Entschied’ es,<br />
Wellington und Aristides<br />
Werden bald beiseite sein.<br />
Beson<strong>der</strong>s, wenn die Liberalen<br />
Die Pinsel fassen, kühnlich malen,<br />
Man freut sich am Originalen;<br />
Da zeigt sich nun ein je<strong>der</strong> frei:<br />
Er ist von Kindesbeinen tüchtig,<br />
Sein Urteil ist ihm nur gewichtig,<br />
Die Kunst ist selbst schon Tyrannei.<br />
Ich bin so sehr geplagt<br />
Und weiß nicht, was sie wollen,<br />
Daß man die Menge fragt,<br />
Was einer hätte tun sollen.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Mir ist das Volk zur Last,<br />
Meint es doch dies und das:<br />
Weil es die Fürsten haßt,<br />
Denkt es, es wäre was.<br />
»Sage mir, was das für Pracht ist<br />
Äußre Größe, leerer Schein!« —<br />
O zum Henker! Wo die Macht ist,<br />
Ist doch auch das Recht, zu sein.
Bürgerpflicht<br />
Ein je<strong>der</strong> kehre vor seiner Tür,<br />
Und rein ist jedes Stadtquartier.<br />
Ein je<strong>der</strong> übe sein’ Lektion,<br />
So wird es gut im Rate stohn.<br />
»Warum denn wie mit einem Besen<br />
Wird so ein König hinausgekehrt«<br />
Wären’s Könige gewesen,<br />
Sie stünden alle noch unversehrt.<br />
Geburt und Tod betrachtet ich<br />
Und wollte das Leben vergessen;<br />
Ich armer Teufel konnte mich<br />
Mit einem König messen.<br />
<br />
<br />
<br />
»Der alte, reiche Fürst<br />
Blieb doch vom Zeitgeist weit,<br />
Sehr weit!« —<br />
Wer sich aufs Geld versteht,<br />
Versteht sich auf die Zeit,<br />
Sehr auf die Zeit!<br />
»Geld und Gewalt, Gewalt und Geld,<br />
Daran kann man sich freuen;<br />
Gerecht— und Ungerechtigkeit,<br />
Das sind nur Lumpereien.«<br />
Die gute Sache kommt mir vor<br />
Als wie Saturn, <strong>der</strong> Sün<strong>der</strong>:<br />
Kaum sind sie an das Licht gebracht,<br />
So frißt er seine Kin<strong>der</strong>.
Daß du die gute Sache liebst,<br />
Das ist nicht zu vermeiden;<br />
Doch von <strong>der</strong> schlimmsten ist sie nicht<br />
Bis jetzt zu unterscheiden.<br />
Grabschrift, gesetzt von A. v. J.<br />
Verstanden hat er vieles recht,<br />
Doch sollt er an<strong>der</strong>s wollen;<br />
Warum blieb er ein Fürstenknecht<br />
Hätt unser Knecht sein sollen.<br />
<br />
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)