ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Gerechtigkeit im Steuersystem<br />
Die praktische Steuerpolitik sieht in der Steuer<br />
nicht nur ein Mittel der Staatsfinanzierung, sie<br />
sieht in ihr auch ein Allerwelts-Lenkungsmittel. So<br />
wird wirtschaftspolitisch im weiteren Sinne, umweltpolitisch,<br />
energiepolitisch, kultur-politisch,<br />
wohnungsbaupolitisch, verkehrspolitisch, vermögensbildungspolitisch,<br />
kurz: interessenpolitisch gelenkt<br />
oder beeinflusst. Auch wenn man annimmt,<br />
dass mit Steuern gelenkt werden dürfe: Beliebige<br />
oder willkürliche Interventionen sind nicht zulässig.<br />
Vergünstigungen, die nur zum Zwecke des<br />
Stimmenfangs gewährt werden, sind willkürlich.<br />
Da im Rechtsstaat Steuern nur aufgrund von Gesetzen<br />
erhoben werden dürfen, ist Steuerpolitik<br />
gedachte oder geplante Gesetzgebung. Da die Gesetzgebung<br />
aber an die Verfassung, insbesondere<br />
an die Grundrechte der Verfassung, ferner an das<br />
Europarecht und an Doppelbesteuerungsabkommen<br />
gebunden ist, gilt diese Bindung auch für die<br />
Steuerpolitik, die eben Steuerrechtspolitik sein<br />
muss. Die Steuerpolitik ist also nur in rechtlichen<br />
Grenzen Herr über die Gesetzgebung. Im Rechtsstaat<br />
ist nicht alles Recht, wofür sich eine Mehrheit<br />
findet. Gesetzesvorschriften erhalten ihre Legitimation<br />
nicht allein dadurch, dass sie von einer<br />
Mehrheit beschlossen worden sind; hinzukommen<br />
muss im Rechtsstaat die Verankerung im Recht,<br />
insbesondere im Verfassungsrecht. Einen Primat<br />
der Politik vor dem Recht gibt es nicht. Die Legitimation<br />
der Mehrheitsentscheidung wird durch die<br />
Verfassung begrenzt; dadurch wird zugleich die<br />
Minderheit geschützt.<br />
Das Leistungsfähigkeitsprinzip<br />
ist Verfassungsprinzip<br />
Was die Bindung an die Verfassung angeht: Der<br />
Gesetzgeber ist der erste, der sein Vorhaben an der<br />
Verfassung messen muss. Er trägt damit die Erstverantwortung<br />
für sie. So wenig wie das Verfassungsgericht<br />
sich an Wählerwünschen orientiert,<br />
darf das die Gesetzgebung tun. Die Bindung an<br />
das Recht des Grundgesetzes (siehe Art. l Abs. 3;<br />
Art. 20 Abs. 3 GG) ist vor allem Bindung an den<br />
Gleichheitssatz (Art. 3 GG). Die Anwendung des<br />
Gleichheitssatzes ist auf einen Vergleichsmaßstab<br />
angewiesen. Dieser Maßstab ist für das Steuerrecht<br />
grundsätzlich das Leistungsfähigkeitsprinzip. Damit<br />
sich eine gleichmäßige Besteuerung nach der<br />
Leistungsfähigkeit einstellt, darf der Gesetzgeber<br />
für das Fiskalsteuerrecht nur solche Steuerbemessungsgrundlagen<br />
bestimmen, die diesem Grundsatz<br />
entsprechen. Die angewandte Steuerpolitik<br />
hat also Rechtsentscheidungen, Entscheidungen<br />
mit Rechtsqualität zu treffen, das heißt sich konsequent<br />
an Rechtsprinzipien oder Wertungen zu<br />
orientieren.<br />
Anders als die exakten (harten) Naturwissenschaften<br />
ist die Steuerrechtswissenschaft eine auf Wertungen<br />
angewiesene Geisteswissenschaft. Die Wertungen,<br />
die das Leistungsfähigkeitsprinzip und seine<br />
Unterprinzipien verlangen, lassen sich mehr oder<br />
weniger schwer objektivieren. Aus der Verfassung<br />
lässt sich wegen bestehender Wertungsspielräume<br />
kein bis in die Details hinein bestimmtes Steuerrecht<br />
ableiten. Soweit innerhalb des Wertungsspielraums<br />
mehrere Wertungen vertretbar, begründbar,<br />
diskutabel sind, darf der Gesetzgeber diejenige Wertung<br />
bevorzugen, die ihm am plausibelsten erscheint,<br />
und ebenso darf es der Steuerpolitiker.<br />
Immer müssen Steuerrechtspolitik und Gesetzgeber<br />
aber darauf bedacht sein, dem Gemeinwesen eine<br />
dem Recht verpflichtete Steuerordnung zu geben.<br />
Mit dieser Aufgabe sind freischöpferische Entscheidungen<br />
der Beliebigkeit oder Willkürlichkeit<br />
nicht vereinbar. Daher darf nicht beschlossen werden,<br />
was prinzipiell unvertretbar, indiskutabel, unbegründbar<br />
ist. Eine Politik, die sich opportunistisch<br />
nur an den Wünschen der eigenen Wählerklientel<br />
orientiert, oder an den Wünschen von<br />
Interessenverbänden oder DAX-Unternehmen, ist<br />
keine Rechtspolitik. Allein die demokratische Legitimation<br />
der Abgeordneten reicht nicht aus, gesetzliche<br />
Privilegien und Diskriminierungen zu rechtfertigen.<br />
Kein Abgeordneter ist durch seine Wahl<br />
legitimiert, an ungerechten, unnötig komplizierten<br />
und unverständlichen Steuergesetzen mitzuwirken.<br />
Die vorhandenen Bewertungsspielräume<br />
Steuerpolitik und Steuergesetzgebung sind relativ<br />
frei, wenn es um die Höhe von Steuersätzen – Eingangs-<br />
und Spitzensteuersatz eingeschlossen –<br />
geht oder um die Höhe einer Steuerentlastung,<br />
um die Art einer Gegenfinanzierung; in Grenzen<br />
auch, wenn das Verhältnis der Belastung mit direkten<br />
oder indirekten Steuern zu bestimmen ist.<br />
Oft stehen der einen vertretbaren Lösung eine<br />
oder mehrere andere Lösungen gegenüber, die<br />
ebenfalls vertretbar sind. Wer daran zweifelt, mag<br />
sich die von Steuerwissenschaftlern stammenden<br />
Einkommensteuergesetz-Entwürfe ansehen. Trotz<br />
gemeinsamer Grundüberzeugungen überwiegt<br />
nicht selten die Vielfalt der Detaillösungen, nicht<br />
die einheitliche Lösung. Konsequenz muss allerdings<br />
auf jeden Fall verlangt werden.<br />
60 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)