ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Einkommensteuer-Reform<br />
dass die rechtsstaatliche Demokratie auch eine<br />
rechtsstaatliche Komponente hat. Die für die Gesetzgebung<br />
Verantwortlichen dürfen daher nicht<br />
nur nach Wählerwirkungen fragen, sondern müssen<br />
auch für eine gerechte Verteilung der Steuerlast<br />
sorgen. Steuerpolitik, die nur auf Stimmenmaximierung<br />
aus ist, ist keine Steuerrechtspolitik.<br />
Blendet die Steuerpolitik das auf sachgerechte<br />
Prinzipien gegründete Recht aus, so wird sie zum<br />
System- und Rechtsverderber, zum Verderber der<br />
Steuerrechtsordnung.<br />
Verständnis für das Streben der Politiker nach<br />
Wählerstimmen kann man durchaus haben. Dieses<br />
Streben muss im Rechtsstaat aber Grenzen haben;<br />
es darf „nicht vor Recht ergehen“. Auch die<br />
Frage, ob Steuervergünstigungen gerechtfertigt<br />
sind, ist eine Rechtsfrage und keine Frage politischen<br />
Beliebens. Selbst wenn verschiedene Auffassungen<br />
von Recht vertretbar sind: Es ist nicht alles<br />
relativ! Und das Erjagen von Wählerstimmen mit<br />
allen Mitteln ist oft nicht zur Deckung zu bringen<br />
mit dem gebotenen Streben nach Recht. Ohne<br />
Systematik gibt es keine Ordnung und kein Recht,<br />
keine Rechtsordnung. Eine Rechtsordnung entsteht<br />
nur, wenn man Steuerpolitik als Steuerrechtspolitik<br />
versteht und entsprechend handelt.<br />
Die Abhängigkeit<br />
von organisierten Interessen<br />
Deutschland ist – wie andere Länder auch – laut<br />
Verfassung nicht nur ein demokratischer Rechtsstaat.<br />
Er ist tatsächlich auch ein gut durchorganisierter<br />
Staat der Interessenverbände. Die Interessenverbände<br />
betreiben, im heutigen Sprachgebrauch,<br />
Lobbyarbeit und Lobbying. Dazu gehört<br />
die Kunst des Einwirkens auf den Gesetz- und Verordnungsgeber<br />
mit dem Ziel, Sonder- oder Partikularinteressen<br />
durchzusetzen.<br />
In Deutschland gibt es zurzeit etwa 14 000 Verbände,<br />
insbesondere Wirtschafts- und Berufsverbände.<br />
Beim Bundestag sind etwa 1 900 Verbände und<br />
Unternehmen registriert, die auf die Politik einwirken.<br />
Auf jeden Bundestagsabgeordneten<br />
kommt ein Mehrfaches von Lobbyisten. Das dichte<br />
Lobbyistennetz wirkt nicht zuletzt an Steuergesetzen<br />
entscheidend mit. Denn den Parteien sind<br />
die Interessenverbände als Mehrheitsbeschaffer<br />
bei der Wahl willkommen. Da nur wenige Stimmenprozente<br />
über die Regierungsmacht entscheiden<br />
können, können einflussreiche, mitgliederstarke<br />
Verbände – die ihre Klientel zu Wechselwählern<br />
machen können – sich immer wieder<br />
durchsetzen. Für ihre Unterstützung erwarten die<br />
Interessenverbände Gegenleistungen oder Entgegenkommen.<br />
Nach § 47 der Gemeinsamen Geschäftsordnung<br />
der Bundesministerien vom 26. Juli 2000 werden<br />
die Verbände vor den Abgeordneten mit den Gesetzen<br />
befasst. Die Abgeordneten erhalten erst die<br />
schon „verbandsfesten“ Vorlagen. Nach § 70 der Geschäftsordnung<br />
des Bundestages (GOBT) können<br />
die beim Bundestagspräsidenten registrierten Verbände<br />
zu den öffentlichen Anhörungen der Fachausschüsse<br />
geladen werden. Ihr Wirken gilt jedenfalls<br />
unter Politikern durchaus nicht als anrüchig.<br />
Auch ein Teil der Abgeordneten wirkt als Lobbyist<br />
(sogenannte „eingebaute Lobby“). Wie hoch dieser<br />
Anteil ist, kann nur geschätzt werden, da die<br />
Abgeordneten sich gegenüber den Wählern nicht<br />
als Lobbyisten dekuvrieren. Verbandsabhängige<br />
Abgeordnete dienen nicht dem Wohl des ganzen<br />
Volkes (wie Art. 38 I GG es verlangt); sie sind nicht<br />
unabhängige Volksvertreter, sondern Vertreter von<br />
Sonderinteressen. Lobbyisten werden Parlamentarier,<br />
und Parlamentarier, die nicht wiedergewählt<br />
werden, werden nicht selten Lobbyisten. Soll Art.<br />
38 I GG nicht auf dem Papier stehen, so muss sichergestellt<br />
werden, dass Abgeordnete nicht von<br />
großen Unternehmen oder Interessenverbänden<br />
als Lobbyisten „gekauft“ werden. Eine freiwillige<br />
Meldung von Nebenverdiensten an den Parlamentspräsidenten<br />
reicht als Kontrolle nicht aus.<br />
Der Wähler muss wissen, ob ein Wahlkandidat „das<br />
ganze Volk vertreten“ will oder zum Beispiel<br />
irgendein Großunternehmen. Es fehlen ein Verhaltenskodex<br />
für Abgeordnete und die wirksame<br />
Kontrolle ihres Verhaltens.<br />
Steuerpolitik muss Steuerrechtspolitik sein<br />
Steuerjuristen, die sich steuerrechtspolitisch engagieren,<br />
wird von Steuerpolitikern gern vorgehalten,<br />
ihre Konzepte und Vorschläge seien „politisch<br />
nicht durchsetzbar“. Das soll heißen, sie würden<br />
an der steuerpolitischen Wirklichkeit – an dem<br />
Willen von Parteipolitikern, Verbandsvertretern<br />
und Wählermehrheiten – scheitern. Dahinter<br />
steckt die Vorstellung, allein die Mehrheit bestimme,<br />
was Gesetzesinhalt werden soll. Deutschland<br />
ist aber nicht nur eine Demokratie, sondern auch<br />
ein Rechts- und Verfassungsstaat. Daraus ergibt<br />
sich, dass das Steuerwesen keine politisch beliebig<br />
knetbare Verfügungsmasse ist.<br />
Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)<br />
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