ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Gerechtigkeit im Steuersystem<br />
Die schonungslose, nicht schönfärbende Beschreibung<br />
des miserablen Gegenwartszustandes des<br />
Einkommensteuergesetzes reicht zur Abhilfe nicht<br />
aus. Es müssen möglichst auch die Ursachen aufgedeckt<br />
werden, die diesen Zustand bewirkt haben.<br />
Selbst wenn eine gewisse Reform gelingen<br />
sollte: Sie wäre bald wieder verschüttet, wenn sich<br />
an den Ursachen nichts ändern würde.<br />
Der verhängnisvolle Einfluss der Wähler<br />
Von Verschulden sprechen wir hier bewusst nicht;<br />
denn das Verhalten der Politiker und ihrer Wähler,<br />
der Interessenverbände, der Medien, der Steuerabteilung<br />
des Bundesfinanzministeriums, des Finanzausschusses<br />
des Deutschen Bundestages, der Opposition<br />
und des Bundesrates ist zu gutem Teil im politischen<br />
und verfassungsrechtlichen System angelegt.<br />
Für Politiker ist Steuerpolitik an Wahlen und Wählern<br />
orientierte Interessenpolitik. Politiker im Allgemeinen<br />
und Steuerpolitiker im Besonderen wissen,<br />
dass die Mehrheit der stimmberechtigten Bürger<br />
von der Einkommensteuer betroffen ist und<br />
dass die Steuerpolitik den Ausgang von Wahlen<br />
beeinflussen kann. Daher orientieren sie sich mit<br />
ihren Maßnahmen hauptsächlich an deren vermeintlichen<br />
Auswirkungen auf die Wählerklientel.<br />
So wie nämlich Unternehmer auf Gewinne, Ballsportler<br />
auf Tore, die Medien auf Auflagen oder<br />
Einschaltquoten angewiesen sind, hängen Politiker,<br />
die Macht ausüben wollen, von Wahlergebnissen<br />
ab, von Stimmenmehrheiten. Daher werden<br />
Parteiprogramme und -manifeste, Koalitionsvereinbarungen<br />
und Wahlkampfaktionen an der vermeintlichen<br />
Wählerwirkung orientiert. Von den<br />
Politikern zu verlangen, sie sollten „mutig über<br />
den Tellerrand der nächsten Wahlen hinausschauen“,<br />
„nicht feige vor den Wählern sein“, den Wählern<br />
die reine Wahrheit sagen und das Gemeinwohl<br />
im Auge haben, heißt: Sie sollten ohne Rücksicht<br />
auf die kraft Fiktion als „unfehlbar“ geltenden<br />
Wähler handeln.<br />
Vor Wahlen regiert daher im Allgemeinen die Taktik.<br />
Was erhöht, was vermindert die Wahlchancen<br />
Wer zum Beispiel die Steuern für nichtbuchführende<br />
Landwirte, Nachtarbeiter, Pendler, Hauseigentümer,<br />
Eheleute erhöhen will, wer die Umsatzsteuer<br />
anheben will, und das vor der Wahl offen<br />
ankündigt, muss mit Stimmeneinbußen rechnen,<br />
vielleicht sogar mit dem Verlust der Wahl. Ein Politiker<br />
ohne Wählermehrheit, ein ungewählter Politiker<br />
kann aber wenig ausrichten. Zur Sicherung<br />
der Mehrheitsfähigkeit wird vor allem vor Wahlen<br />
kurzfristig auf gegenwärtige Wählerwünsche reagiert.<br />
So kommt es ständig zu Gesetzesändereien –<br />
ohne Rücksicht auf Stimmigkeit, Klarheit und<br />
Widerspruchslosigkeit. Zur Erringung der Wählergunst<br />
hat jeder Wahlkampf zur Folge, dass die<br />
Staatsschulden unverantwortlich anwachsen.<br />
Politikern, die ohne Rücksicht auf die Wähler handeln,<br />
die die Wahlniederlage nicht scheuen, auf<br />
das politische Überleben pfeifen, ist ihre Haltung<br />
hoch anzurechnen. Sie sind aber eher Ausnahmen<br />
1 und unterliegen durchweg im politischen<br />
Wettbewerb.<br />
Da zu viele nur auf Wahlerfolge bedachte Politiker<br />
sich über Jahrzehnte zur Erfüllung von Wählerwünschen<br />
als Volksbeglücker geriert haben, fehlt<br />
den Konsum- und Freizeitverwöhnten jetzt das Verständnis<br />
für einen Verzicht auf Wohltaten, für den<br />
Abbau von Steuervergünstigungen, für Besitzstandseinschränkungen,<br />
für das Ende des exzessiven<br />
Wohlfahrtsstaates. Vor dem 16. Deutschen<br />
Steuerberatertag äußerte Finanzminister Theo Waigel<br />
sarkastisch: „Ein vollständig gerechtes Steuersystem<br />
hätten wir nur dann, wenn jeder das zahlt, was<br />
er selbst als gerechten Beitrag für die Finanzierung<br />
der Gemeinschaftsaufgaben ansieht. Von dem, was<br />
in einem solchen System an Finanzmasse zusammenkommt,<br />
könnten wir drei Kilometer Autobahn<br />
und 1 000 Sozialhilfefälle finanzieren.“ Allzu<br />
viele Wähler halten in der Tat die Steuern für gerecht,<br />
die nicht sie selbst, sondern andere zahlen<br />
sollen, zum Beispiel eine Vermögensteuer, eine<br />
„Reichensteuer“. Gerechtigkeitsvorstellung und Eigeninteresse<br />
fallen weithin zusammen. Je niedriger<br />
eine Steuer ist, desto gerechter erscheint sie vielen.<br />
Für das, was er nicht versteht, ist der Durchschnittswähler<br />
in der Regel nicht empfänglich,<br />
auch nicht für die ausführliche Darstellung einer<br />
komplizierten Materie. Die Wählermassen gewinnt<br />
man nicht dadurch, dass man ihnen System<br />
und Prinzipien des Steuerrechts näher zu bringen<br />
versucht, sondern indem man auf Begehrlichkeiten,<br />
auf Stimmungen und Gefühle, auf Vorlieben<br />
und Abneigungen der Wähler reagiert.<br />
Die Wählerabhängigkeit der Politiker lässt auf der<br />
politischen Bühne in den Hintergrund treten,<br />
1 Bundeskanzler Gerhard Schröder wusste zum Beispiel, wie unpopulär<br />
seine Agenda 2010 und die mit ihr verbundenen Reformen<br />
sein würden. Er hat die Stimmenverluste in Kauf genommen.<br />
Selbst wenn er nicht als Reformkanzler in die Geschichte eingehen<br />
sollte; er war seit <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> der erste Kanzler, der mit<br />
dem „Weiter so, Deutschland“ gebrochen hat – mit der Folge,<br />
dass „Rot/Grün“ nicht allein weiterregieren konnte.<br />
58 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)