ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Demographischer Wandel<br />
Der Staat sprengt die Familie, andererseits<br />
versucht er, sie zusammenzuhalten<br />
Im globalen Wettbewerb lassen sich die Lohnnebenkosten<br />
als Nahrungsquelle der gesetzlichen Sicherungssysteme<br />
in Europa nicht mehr unbegrenzt<br />
anzapfen. Hier wird deshalb zusehends umgestellt:<br />
Von lohngebundenen Beiträgen auf indirekte<br />
Steuern und auf privates Vorsorgesparen.<br />
Auch die Leistungen sind in den vergangenen Jahren<br />
allmählich abgesenkt worden. Das ist unangenehm<br />
für Rentner und Kranke. Die soziale Sicherung<br />
insgesamt aber stabilisiert sich durch solche<br />
internen Umschichtungen.<br />
Dies geht allerdings, ungewollt und unbewusst, auf<br />
Kosten von Familien mit Kindern. Denn sie sind<br />
von höheren Verbrauchssteuern besonders betroffen.<br />
Und wer sich privat versichern soll, muss Kinder<br />
gesondert versichern – ein Aufwand, der ihm<br />
bei der gesetzlichen Versicherung erspart bleibt.<br />
Auch der Versuch, die gesetzliche Versicherung zu<br />
entlasten, indem man Arbeitslose auf ihre Familie<br />
als Einkommensquelle verweist (Hartz IV), führt<br />
dazu, dass Familien als Bedarfsgemeinschaften<br />
aufgelöst werden. Kinder lassen sich ihren Auszug<br />
aus dem Elternhaus vom Staat finanzieren. Mit der<br />
einen Hand sprengt der Staat – sozialpolitisch –<br />
die Familien, die er doch mit der anderen Hand –<br />
familienpolitisch – fördern und auf die er zurückgreifen<br />
will. Wie immer man es dreht und wendet,<br />
die Systeme sozialer Sicherung fahren besser ohne<br />
Kinder als mit ihnen. Die kollektiven Sicherungssysteme<br />
haben diese Entwicklung vor mehr als 100<br />
Jahren angestoßen, und ihre Reprivatisierung<br />
kann sie schwerlich umkehren.<br />
Warum sollte sie auch Es geht ja ohne selbst geborenen<br />
Nachwuchs, oder mit einem Minimum,<br />
sofern Produktivität und Dienstleistungen weiter<br />
wachsen. Die dazu nötigen Menschen können Systeme<br />
sozialer Sicherung, auch wenn sie im nationalen<br />
Rahmen organisiert sind, einführen. Einführen<br />
können sie auch Lebensmittel, Kleidung,<br />
Elektronik, die anderswo preisgünstiger produziert<br />
werden. Beides geschieht bereits in hohem<br />
Maße.<br />
Die Selbsterhaltungsmechanismen<br />
der Familie<br />
Die Systeme sozialer Sicherung können sich ohne<br />
eigenen Nachwuchs selbst erhalten. Aber für die<br />
Familien scheint das undenkbar. Doch auch hier<br />
trügt der Schein. Durch den säkularen Fall der<br />
Geburtenrate ist zwar die „statistische Kernfamilie“<br />
– Eltern und Kinder – sehr geschrumpft. Es ist<br />
aber unwahrscheinlich, dass sie noch kleiner wird.<br />
Denn die weiter sinkende Geburtenrate verringert<br />
die Zahl der Zwei-Kinder-Familien kaum, erhöht<br />
dagegen die Zahl der kinderlosen Paare und<br />
Frauen. Dass 40 Prozent der Akademikerinnen<br />
kinderlos bleiben, ist in der öffentlichen Diskussion<br />
zu einem Fanal geworden. Auf sie konzentrieren<br />
sich die finsteren Visionen vom Aussterben<br />
der Familie.<br />
Wenn aber etwas ausstirbt, dann sind es die kinderlosen<br />
Frauen – und damit die Kinderlosigkeit.<br />
Die Familie dagegen bleibt bestehen. Sie verfügt<br />
über mindestens drei Mechanismen der Selbsterhaltung:<br />
Erweiterung durch Verwandtenwahl: Einzelgänger<br />
und Paare ohne Kinder, auch wenn sie<br />
selbst schon Einzelkinder sind, sind Bestandteil einer<br />
Herkunftsfamilie mit Cousins, Großneffen<br />
und anderen entfernteren Verwandten sowie hinzugewählten<br />
Vertrauten, die sie zu ihrer Familie<br />
machen. Denn wer zur Familie gehört, entscheiden<br />
nicht Biologen, Demographen und Statistiker<br />
aufgrund vorgefasster Kriterien, sondern die Beteiligten<br />
selbst, indem sie sich gegenseitig Liebe,<br />
Intimität und Halt schenken, also die zentralen Familienfunktionen<br />
erfüllen. In der Tat zeigen Umfragen,<br />
dass Familien im Urteil der Mitglieder<br />
selbst in den letzten 50 Jahren nicht kleiner, sondern<br />
größer geworden sind. Das läuft den Vorurteilen,<br />
dass zur Familie nur Eltern und Kinder gehören,<br />
und den darauf basierenden Statistiken zuwider.<br />
Verringerung der Zahl der Kernfamilien: Menschen,<br />
die kinderlos sterben, sterben als Individuen<br />
aus; allenfalls stirbt die Kernfamilie ihrer Eltern<br />
mit. Aber die weiteren Seitenzweige der Herkunftsfamilie<br />
bleiben bestehen, und neben der<br />
Wahlverwandtenfamilie auch die nicht verwandten<br />
Familien (die allerdings zu verwandten werden,<br />
je weiter man die Herkunftslinie zurückverfolgt).<br />
Was der sich fortsetzende Geburtenrückgang<br />
heute und in Zukunft bewirkt, ist also eine<br />
Verringerung der Zahl der Kernfamilien. Daraus<br />
zu schließen, die Familie sterbe aus, ist genauso<br />
falsch wie der Schluss, die Zehntausende von<br />
Unternehmen, die jährlich durch Konkurs, Übernahme<br />
oder Fusion verschwinden, bedeuteten das<br />
Ende der Unternehmens-Wirtschaft. Das Gegenteil<br />
ist richtig: Die Unternehmen, die übrig bleiben,<br />
sind die ökonomisch effizienteren und erfolgreicheren.<br />
Der Ausleseprozess macht die Wirt-<br />
Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)<br />
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