ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Zukunft der Arbeitsgesellschaft<br />
wegen der eigenen Bildung, Berufssicherheit und<br />
Berufskarriere den Wunsch nach Kindern immer<br />
weiter aufschieben, kommen sie in ihren Wunschund<br />
Wertbildern den Erwartungen der Wirtschaft<br />
entgegen und verwandeln sie zugleich in unanfechtbare<br />
Kulturwerte: Bildung für alle, Gleichberechtigung,<br />
Freiheit und Selbstbestimmung.<br />
Die Wirtschaft folgt ihrem eigenen Leitbild, wenn<br />
sie von Kindern, Älteren, Ungebildeten und Unbeweglichen<br />
Abstand nimmt. Der Leitwert der<br />
Wirtschaft ist: mit geringerem Aufwand ein besseres<br />
Ergebnis erzielen. Die Steigerung der Produktivität<br />
der Arbeit ist denn auch die Erklärung für<br />
das, was die Wirtschaft mit Menschen tut: Sie stößt<br />
diejenigen ab, die, gemessen an ihrem Lohn, nicht<br />
mehr oder noch nicht produktiv sind. Sie braucht,<br />
trotz erhöhter Produktion, weniger Menschen als<br />
früher.<br />
Menschenfreunde, Politiker oder Gerontologen<br />
versuchen mit aller Macht, die Wirtschaft vom<br />
Gegenteil zu überzeugen. Der Altersforscher Paul<br />
Baltes plädiert für eine längere Lebensarbeitszeit<br />
und schlägt vor, dass man sich in schwierigen Berufen<br />
wie dem des Dachdeckers rechtzeitig umschulen<br />
lässt. Aber wer, wie manche Rechtsanwälte,<br />
Professoren oder Handwerker bis 65 oder länger<br />
berufstätig bleibt, schafft das nur, weil er gerade<br />
nicht neu lernen muss, sondern im vertrauten<br />
Beruf und mit vertrauten Personen weitermachen<br />
und seine Erfahrungen produktiv einsetzen kann,<br />
während ihm seine Mitarbeiter – im Sinne einer<br />
informalen Arbeitsteilung zwischen Jung und Alt –<br />
die Anforderungen neuer Technologien, Methoden<br />
usw. abnehmen.<br />
Hohe Produktivität der Arbeit hat unzählige soziokulturelle<br />
Voraussetzungen und Folgeerscheinungen.<br />
Eine davon ist niedrige Reproduktivität. Als<br />
der Osten Deutschlands durch die Wiedervereinigung<br />
auf ein hohes Produktivitätsniveau katapultiert<br />
wurde, sackte die Geburtenrate schlagartig<br />
ab. Die dynamischsten Volkswirtschaften der Welt<br />
haben die niedrigste Geburtenrate, allen voran<br />
Südkorea, wo zwei Erwachsene im Durchschnitt<br />
nur noch ein Kind bekommen.<br />
Nicht nur die Alten, auch<br />
die Kinder müssen versorgt werden<br />
Auf den ersten Blick scheint es, als bringe der freie<br />
Fall der Geburtenrate, der für die Wirtschaft mit<br />
hoher Produktivität eher eine Lösung ist, Probleme<br />
für die Systeme sozialer Sicherung. Das Argument<br />
lautet, dass immer weniger Junge immer<br />
mehr Alte mitversorgen müssen. Es ist schon im<br />
Ansatz verkehrt. Die Last der Kranken- und Altersversorgung<br />
tragen die mittleren Jahrgänge: Sie<br />
müssen nicht nur die Alten, Arbeitslosen und<br />
Kranken mitversorgen, sondern auch die Jungen.<br />
Würden die Geburtenraten steigen, hätten die<br />
mittleren Jahre als Leistungsträger der Gesellschaft<br />
nicht nur mehr Alte zu versorgen, sondern<br />
auch mehr Junge. So gesehen ist der Geburtenrückgang<br />
sozialpolitisch kein Problem, sondern eine<br />
relativ schmerzlose Problemlösung: So entfallen<br />
die Kosten für Mütter (die keine Mütter werden),<br />
für Kinder (die nicht geboren werden) und<br />
für Jugendliche (die nicht gebildet und erzogen<br />
werden müssen).<br />
Über solch eine Sichtweise empören sich die Wortführer<br />
der demographischen Angstgemeinschaft:<br />
Der sogenannte Altersquotient – die Zahl der<br />
Rentner im Verhältnis zur Zahl der Erwerbsfähigen<br />
– werde immer ungünstiger. In der Tat: 1995<br />
hatten in Deutschland vier Erwerbstätige einen<br />
Rentner mitzuversorgen, 2010 müssen sich drei<br />
diese Aufgabe teilen, 2030 werden es nur noch<br />
zwei sein. In anderen Ländern ist die Tendenz<br />
ähnlich. Selbst in den USA lässt sich für die dortige<br />
Rentenversicherung eine dramatische Verschlechterung<br />
konstatieren: 1950 gab es 16 beitragszahlende<br />
Arbeitnehmer je Rentner, heute<br />
sind es nur noch 3,3, im Jahr 2030 werden es kaum<br />
mehr als zwei sein. Und das, obwohl dort eine Geburtenrate<br />
von mehr als zwei Kindern pro Frau zu<br />
verzeichnen ist.<br />
Das Problem hat aber mit Geburtenrückgang<br />
kaum etwas zu tun – wohl aber mit unserem Altwerden,<br />
ferner mit verlängerter Jugend, mit Arbeitslosigkeit,<br />
mit Einwanderung in die Sozialsysteme<br />
(statt in den Arbeitsmarkt). Doch gegen die<br />
Lösung, die hierzu vorgeschlagen werden muss –<br />
früher ins Arbeitsleben hinein und später hinaus –<br />
sperrt sich, wie oben gezeigt, die Wirtschaft selbst.<br />
Indem sie die weniger Produktiven in die Systeme<br />
sozialer Sicherung abschiebt, schafft sie deren Probleme<br />
– und löst sie zugleich: Das Lösungswort<br />
heißt Produktivitätssteigerung. Sie verwandelt den<br />
absinkenden Altersquotienten in ansteigenden<br />
Wohlstand, und sie wird dies auch weiterhin tun,<br />
obwohl Produktivität auf hohem Niveau in den<br />
spätindustriellen Gesellschaften nicht mehr so<br />
stark wachsen kann, wie in Staaten, die weiter unten<br />
starten.<br />
36 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)