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ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung

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Zukunft der Arbeitsgesellschaft<br />

Der demographische Wandel in<br />

ökonomischer und sozialpsychologischer Sicht<br />

Prof. Dr. Karl Otto Hondrich<br />

Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt<br />

Der Geburtenrückgang ist aus vielerlei Hinsicht nicht dramatisch. Die Wirtschaft kann fehlende Arbeitskräfte durch Produktivitätssteigerungen<br />

ausgleichen. Als Verbraucher sind Kinder nicht wichtig, weil sie kein eigenes Einkommen haben.<br />

Aus sozialer Sicht ist zu bedenken, dass nicht nur die Alten, sondern auch die Kinder Geld kosten. Möglicherweise<br />

führen weniger Kinder auch zu einer Intensivierung des Familienlebens.<br />

„Ob wir mit unserer Wissenschaft und Technik<br />

noch auf dem richtigen Weg sind, ist zweifelhaft<br />

geworden. Die modernen Vernichtungswaffen liegen<br />

an diesem Weg, und auch in Bezug auf die<br />

außermenschliche Natur verbindet sich ein Übermaß<br />

an Zerstörungswissen mit einem Mangel an<br />

Erhaltungswissen“, schreibt der Philosoph Klaus-<br />

Michael Meyer-Abich. Man könnte dieser Feststellung<br />

viele weitere Beispiele anfügen. Überall<br />

scheint Erhaltungswissen zu fehlen: in Bezug auf<br />

ökologische Kreisläufe, auf den Frieden in der<br />

Welt, auf Arbeitsplätze in Europa sowie – neuerdings<br />

in Deutschland und der Schweiz mit besonderer<br />

Verve beklagt – in Bezug auf eine stabil zu<br />

haltende Bevölkerung und Alterspyramide.<br />

Unter dem Stichwort der schrumpfenden und vergreisenden<br />

Gesellschaft hat sich, von besorgten<br />

Demographen angestimmt und von publizistischen<br />

Schaumschlägern schrill vermarktet, ein<br />

Alarmismus ausgebreitet, der keine Zweifel kennt:<br />

Die Wirtschaft erlahmt, die Systeme sozialer Sicherung<br />

bluten aus, die Familien bieten keinen Halt<br />

mehr.<br />

Geringe Aussagekraft<br />

demographischer Prognosen<br />

Schuld daran trage der Fall der Geburtenrate. Besonders<br />

die Frauen, die keine Kinder bekommen,<br />

stehen am Pranger. Das ist töricht, denn die Geburtenrate<br />

ist keine individuelle, sondern eine kollektive<br />

Größe. Sie ist ein Glied in einer langen Zusammenhangskette.<br />

Man kann sie nicht durch individuelle<br />

Schuld, sondern nur durch Zusammenhänge<br />

erklären. Eins greift ins andere: Der säkulare<br />

Rückgang der Geburtenrate seit dem 19. Jahrhundert<br />

ist ein Stein unter vielen im Mosaik positiver<br />

Errungenschaften: Hygiene, Medizin, Wissenschaft,<br />

Bildung, Armutsbekämpfung, soziale Sicherheit,<br />

private Freiheiten, individuelle Lebenserwartung<br />

etc.<br />

Und die Fortschritte beschleunigen sich, obwohl<br />

seit längerem die Geburtenrate in allen Industriegesellschaften<br />

unter die magische Ziffer 2,1 (Geburten<br />

pro Frau) gefallen ist, wodurch sich die Gesellschaften<br />

angeblich nicht mehr selbst reproduzieren<br />

können. Aber statt sich dadurch zu schaden,<br />

profitieren moderne Gesellschaften offenbar<br />

von den Kindern, die nicht geboren werden. Sie<br />

brauchen die Kinder nicht. Die Zahlen- und Altersstruktur<br />

sowie die kulturelle Gliederung der<br />

Bevölkerung, über die Demographen berichten,<br />

sind offensichtlich irrelevant. Die Frage ist vielmehr,<br />

über welche Mechanismen der Bestandserhaltung<br />

und der Leistungssteigerung soziale Systeme<br />

verfügen, auch wenn Geburtenraten gegen<br />

Null tendieren.<br />

Die Industriegesellschaft hat wenig<br />

Interesse an Kindern<br />

Die Wirtschaft hat die Kinder zwar als Konsumenten<br />

entdeckt – und entzückt sich bisweilen an den<br />

Milliardenbeträgen, die sie für elektronisches<br />

Spielgerät, Baseballjacken, immer raffiniertere<br />

Schokoriegel und Handys ausgeben. Aber Kinder<br />

haben kein eigenes Einkommen. Ihre Nachfrage<br />

wird, über Geschenke und Taschengeld, mit dem<br />

Einkommen der Eltern und Großeltern befriedigt.<br />

Da macht es für Anbieter mehr Sinn, sich direkt<br />

an die Kaufkräftigen, an die Alten zu halten – die<br />

ohnehin immer mehr werden und immer mehr<br />

Medikamente, Gesundheits- und Pflegeleistungen<br />

benötigen.<br />

34 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

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