ORIENTIERUNGEN - Ludwig-Erhard-Stiftung
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Editorial<br />
Unsoziale Sozialwirtschaft<br />
statt Sozialer Marktwirtschaft<br />
Sozialpolitiker berufen sich auffallend gern auf die Soziale Marktwirtschaft. Sie<br />
tun das vor allem dann, wenn sie neue Reglementierungen planen, die gerade<br />
auf das Gegenteil dessen zulaufen, was <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> meinte: auf Bevormundung<br />
statt auf Wahlfreiheit, auf das diskriminierende Sortieren von Antragstellern<br />
statt auf die Gleichrangigkeit von Marktpartnern, auf die<br />
Verwaltung des Mangels statt auf den Dienst am Kunden. Die von keiner<br />
marktwirtschaftlichen Idee geleiteten Basteleien am Gesundheitswesen bieten<br />
dafür ein belegkräftiges Beispiel.<br />
Wer in Deutschland Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, muss sich<br />
darauf einstellen, in den Arztpraxen demnächst vor allem als Kostenfaktor betrachtet<br />
zu werden. Die Politiker bestreiten das. Aber die Ärzte nennen überzeugende<br />
Gründe dafür, dass es gegen ihren Willen so kommen wird, weil das<br />
System der gesetzlichen Krankenversicherung mit unerbittlicher Logik dahin<br />
führt. Zum Ende eines Quartals, wenn „das Budget“ für die Abrechnung mit<br />
den Krankenkassen bereits erschöpft ist, muss der Arzt den Patienten ohne<br />
Entgelt behandeln, denn er kann sein „Punktekonto“ nicht mehr erhöhen.<br />
Ist es da verwunderlich, dass knappe Termine für Privatpatienten frei gehalten<br />
werden, wenn nicht gerade ein Notfall vorliegt So entstehen Wartezeiten,<br />
die dem Kassenpatienten nicht das Gefühl vermitteln werden, in der „großen<br />
Solidargemeinschaft“ gut aufgehoben zu sein. Sieht der Arzt aber nicht<br />
mit mindestens einem Auge auf den Versicherungsstatus seines Patienten,<br />
bleibt seine Praxis möglicherweise hinter der technischen Ausstattung zurück,<br />
die von Praxen geboten wird, in denen man sich nicht scheut, dem privat Versicherten<br />
Vorrang zu geben. Auch diese Wirkung des Punktesystems sollte<br />
nicht zu dem gehören, auf das eine „große Solidargemeinschaft“ stolz sein<br />
kann. Das Budget, unter dessen Diktat die Ärzte arbeiten sollen, führt indessen<br />
nicht nur zur Diskriminierung von Patientengruppen, sondern auch zur<br />
Verschwendung. Hausärzte werden der Versuchung ausgesetzt, keine teuren<br />
Präparate mehr zu verschreiben, weil sie fürchten, von den Kassen in Regress<br />
genommen zu werden. Also verfallen sie auf einen Ausweg, der dem Patienten<br />
medizinisch hilft, aber der Versichertengemeinschaft wirtschaftlich schadet:<br />
Sie überweisen an einen Facharzt, obwohl sie sich der Diagnose und der<br />
Therapie sicher sind.<br />
Gesundheitspolitiker, die auf solche Folgen ihrer marktfernen Systembasteleien<br />
angesprochen werden, schieben die Verantwortung dafür vor allem den<br />
Anbietern von Gesundheitsleistungen zu: den Hausärzten, den Fachärzten,<br />
den Krankenhäusern, den Apothekern, der Pharmaindustrie. Sie offenbaren<br />
damit, wie wenig sie von der moralischen Dimension der Sozialen Marktwirtschaft<br />
<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s verstanden haben: im Wettbewerb der Anbieter den Kunden<br />
diskriminierungsfrei dienstbar zu sein. Das deutsche Gesundheitssystem<br />
kann das nicht leisten. Und das erkennbare Muster der Reform kann es schon<br />
gar nicht. Hier waltet nicht die Soziale Marktwirtschaft, sondern die Unsoziale<br />
Sozialwirtschaft.<br />
Hans D. Barbier<br />
Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)<br />
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