06.01.2015 Aufrufe

die pdf-Version zum Herunterladen - Wentzinger Gymnasium

die pdf-Version zum Herunterladen - Wentzinger Gymnasium

die pdf-Version zum Herunterladen - Wentzinger Gymnasium

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Abitur 2004<br />

...<br />

Nach den Glückwünschen und Danksagungen ist es gemeinhin üblich, dass der<br />

Schulleiter seinen Abiturienten noch einige Worte mit auf den Weg gibt, sozusagen<br />

als letzte „pädagogische Chance“. Meist sind <strong>die</strong>s erbauliche Worte nach dem Motto:<br />

„Nun stehen Ihnen alle Türen offen“ oder „Sie sind <strong>die</strong> Elite“...<br />

Keine Angst, ich möchte <strong>die</strong>se Gelegenheit nicht missbrauchen, mich an der<br />

unglückseligen Diskussion über „Eliten“ zu beteiligen. Mir genügt es, Menschen zu<br />

entlassen – und <strong>die</strong>s ist nur bei oberflächlicher Betrachtung ein bescheidener<br />

Anspruch.<br />

Aber was sagt man jungen Menschen anlässlich einer solchen Abiturfeier in der<br />

heutigen Zeit Hoffnungsvoll sollen <strong>die</strong> Worte ja sein, Freude und Optimismus<br />

verbreiten!<br />

Als ich hierzu etwas niederschreiben wollte, wurde ich sehr nachdenklich.<br />

Ist es überhaupt möglich, jungen Menschen echte Perspektiven zu eröffnen<br />

angesichts der Tatsache, dass für immer mehr Menschen auf der Welt und gerade<br />

bei uns in Deutschland immer weniger Arbeit da ist<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht neue Hiobs-Botschaften erreichen, wie viele<br />

Arbeitsplätze erneut den Börsenkursen geopfert werden müssen.<br />

Ist es überhaupt möglich, jungen Menschen das Gefühl von Zuversicht und<br />

Sicherheit zu geben angesichts der Tatsache, dass <strong>die</strong> weltweite Bedrohung durch<br />

Krieg und Terror eher größer zu werden scheint<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht <strong>die</strong> Nachrichten nicht von Bombar<strong>die</strong>rungen<br />

und Terroranschlägen berichten.<br />

Ist es überhaupt möglich, jungen Menschen Vertrauen in Redlichkeit von Staat und<br />

Gesellschaft zu geben angesichts der Tatsache, dass Staaten, <strong>die</strong> für sich<br />

reklamieren, Hüter der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit zu sein, <strong>die</strong> Welt<br />

in sinnlose Kriege verwickeln<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Lügen, Machenschaften und strategische<br />

Kalküle des Machterhalts entlarvt werden.<br />

Ist es überhaupt möglich, jungen Menschen guten Gewissens unsere Welt zu<br />

übergeben angesichts der Tatsache, dass wir trotz gegenteiliger Beteuerungen<br />

unsere Natur und Umwelt radikal einer Wachstumsideologie opfern, für <strong>die</strong> Fortschritt<br />

lediglich in Quantitäten fassbar ist.<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht mit neuen Umweltkatastrophen konfrontiert<br />

werden.<br />

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.<br />

Ist es da verwunderlich, dass ein Schulleiter ins Grübeln gerät, wenn er an seiner<br />

Abi-Rede bastelt<br />

Sind nicht <strong>die</strong> Optimismus verbreitenden Abiturreden nichts anderes als<br />

Schönfärberei, versöhnliche Sonntagsreden, <strong>die</strong> vertuschen wollen, dass wir, <strong>die</strong><br />

Alten, <strong>die</strong> Zukunft der Jugend schon längst verspielt haben


Ich gebe zu, <strong>die</strong>se wenig erbaulichen Worte scheinen so ganz und gar nicht in <strong>die</strong><br />

Fröhlichkeit einer Abschlussfeier passen zu wollen.<br />

Und es wäre in der Tat unverantwortlich, würde ich Sie allein mit einem solchen<br />

Szenario der Hoffnungslosigkeit hier und heute verabschieden.<br />

Ich habe einige der drängenden Fragen gestellt, weil es unredlich wäre so zu tun, als<br />

gäbe es sie nicht. Aber ich habe sie auch gestellt, weil ich zutiefst davon überzeugt<br />

bin dass es Aus-Wege gibt, dass auch Sie eine Zukunft haben, in <strong>die</strong> es sich lohnt zu<br />

investieren.<br />

Denn trotz allem oder besser: „Allem <strong>zum</strong> Trotz“, ich behaupte, es gibt eine Antwort.<br />

Kein Patentrezept! Aber einen Weg. Und das Schöne daran ist, einen Teil <strong>die</strong>ses<br />

Weges sind wir bis letzte Woche gemeinsam gegangen, und – ganz ohne<br />

Zweckoptimismus – ich bin zuversichtlich, dass Sie <strong>die</strong>sen Weg nun alleine und<br />

eigenverantwortlich weiter gehen werden.<br />

Dieser Weg heißt „Bildung“.<br />

Aber was meint <strong>die</strong>ser schillernde Begriff eigentlich, der aus der Mottenkiste des 19.<br />

Jahrhunderts auf einmal wieder überall herumgeistert Manch einer denkt bei<br />

„Bildung“ vielleicht an Günter Jauch oder Jörg Pilawa, manch einer bekommt bei dem<br />

Gedanken an „Bildung“ vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil der den letzten<br />

Volkshochschulkurs abgebrochen hat, manch einer glaubt vielleicht, Bildung sei das,<br />

was das Kultusministerium uns verordnet.<br />

Dies alles meint „Bildung“ sicherlich nicht.<br />

Es gibt einen Grund und einen Anlass, warum ich gerade <strong>die</strong>sen Begriff in das<br />

Zentrum meiner Überlegungen stelle.<br />

Der Anlass ist der heutige Tag. Damit meine ich zwar auch <strong>die</strong>sen Anlass, der uns<br />

hier zusammengeführt hat; aber der heutige Tag hat noch eine andere Relevanz: es<br />

ist der letzte Tag, da Johannes Rau unser Bundespräsident ist. Schon morgen wird<br />

Horst Köhler in Schloss Bellevue einziehen. Und ich hoffe, dass der Wechsel vom<br />

Sohn eines Predigers <strong>zum</strong> Globalökonomen nicht gleichzeitig Symbol für den<br />

Paradigmen-Wechsel in der Gesellschaft ist.<br />

Johannes Rau hat in <strong>die</strong>sem Jahr, dem Jahr Ihres Abiturs, ein Buch geschrieben,<br />

das in der Öffentlichkeit leider – wie ich meine – viel zu wenig Beachtung gefunden<br />

hat. Es trägt den Titel: „Den ganzen Menschen bilden – wider den<br />

Nützlichkeitszwang“.<br />

Darin ist viel von dem zu lesen, was den Grund ausmacht, warum ich an <strong>die</strong>ser Stelle<br />

unser Augenmerk auf „Bildung“ lenken möchte.<br />

„Die Anforderungen des Arbeitsmarktes sind heute anders als vor 30 Jahren und oft<br />

auch höher. Dennoch: wir dürfen Bildung nicht darauf beschränken, junge Menschen<br />

auf den Beruf und den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Wer ausschließlich vom Bedarf<br />

her denkt, hat schon verfehlt, was mit Bildung eigentlich gemeint ist.<br />

Ziel der Bildung ist nicht zuerst <strong>die</strong> Befähigung <strong>zum</strong> Geldver<strong>die</strong>nen. Bildung schielt<br />

und zielt nicht auf Reichtum. Aber sie ist ein guter Schutz vor Armut, vielleicht sogar<br />

der Wirksamste.<br />

Bildung ist auch etwas anderes als Wissen. Wissen lässt sich büffeln, aber Begreifen<br />

braucht Zeit und Erfahrung.<br />

Ich beobachte eine Ungeduld, <strong>die</strong> schnell nach den Früchten der Bildung fragt, ohne<br />

zu bedenken, dass eine gute Frucht auch eine gute Blüte und eine Zeit der Reife<br />

braucht.


Selbstständig und frei denken zu lernen: darum geht es nach wie vor.<br />

Denken und Verstehen: Das hat zu tun mit dem ganzen Menschen, mit Leib und<br />

Seele, mit Herz und Verstand.<br />

Denken und Verstehen: Das hat zu tun mit analytischen Fähigkeiten und Phantasie,<br />

mit Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen.<br />

Denken Und Verstehen: Das bedeutet, Orientierung suchen, Orientierung haben und<br />

Orientierung geben können in einer Welt, <strong>die</strong> uns mit immer mehr Einfällen,<br />

Eindrücken und Einsichten überhäuft.“ – Soweit der scheidende Bundespräsident<br />

Johannes Rau.<br />

Mit dem Abitur haben Sie einen Wissensstand, den Sie in <strong>die</strong>ser Breite kaum mehr<br />

später im Leben haben werden. Als Mathematiker kann ich zwar immer noch ganz<br />

gut Gleichungen lösen oder Integrale berechnen, aber bei der Übersetzung aus dem<br />

Lateinischen oder der Kenntnis von Geschichtszahlen stoße selbst ich – offen<br />

gestanden – schnell an meine Grenzen.<br />

Sie haben viel Nützliches gelernt. Sie sprechen Fremdsprachen, können Themen<br />

sachgerecht erörtern, berechnen Extremstellen von Funktionsgraphen, wissen über<br />

den Aufbau von Zellsystemen Bescheid und können <strong>die</strong>s sogar mit Power-Point<br />

präsentieren... Mit all dem sind Sie gut gerüstet, um in den Wettbewerb um Stu<strong>die</strong>noder<br />

Arbeitsplätze einzutreten, und allen Pisa-, Tosca- und sonstigen Stu<strong>die</strong>n <strong>zum</strong><br />

Trotz mache ich mir <strong>die</strong>sbezüglich um Ihre Zukunft keine Sorgen und entlasse ich Sie<br />

guten Gewissens.<br />

Aber ich hoffe, Sie alle haben während Ihrer Schulzeit viel Unnutzes gelernt!<br />

Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, mit Leib und Seele denken und verstehen zu<br />

lernen.<br />

Ich hoffe, Sie haben bei allem analytischen Sachverstand Phantasie bewahrt.<br />

Ich hoffe, Sie hatten eine gute Blüte und Zeit zur Reife.<br />

Ich hoffe schließlich, Sie haben Orientierung gewonnen und werden in der Lage sein,<br />

Orientierung zu geben.<br />

Lassen Sie mich nun noch einmal genauer darauf eingehen, warum ich denke, dass<br />

Bildung im gerade skizzierten Sinne <strong>die</strong> einzig mögliche Antwort auf <strong>die</strong> düsteren<br />

Fragen ist und warum ich überzeugt bin, dass gerade Sie, <strong>die</strong> Abiturientinnen und<br />

Abiturienten des <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong>s 2004, Auswege finden werden.<br />

Wenn ich gesehen habe, mit welcher Ernsthaftigkeit Sie bereit sind, Leistung zu<br />

erbringen und sich mit vielfältigsten Anforderungen auseinander zu setzen, dann bin<br />

ich zuversichtlich, dass Sie auch im Berufsleben Ihren Mann / Ihre Frau stehen<br />

werden.<br />

Das Jahr 2004, das Jahr Ihres Abiturs, ist ein großes Jahr für Europa. Die<br />

Osterweiterung des 1. Mai ist ein mutiger Schritt. Noch vor wenigen Jahren trennten<br />

Mauern und Stacheldraht Ost und West, ließen junge Menschen ihr Leben bei dem<br />

Versuch, <strong>die</strong>se schrecklichen Grenzen zu überwinden. Hätte uns zu der Zeit, da Sie<br />

etwa geboren wurden, jemand gesagt, bei Ihrem Abitur sind z. B. Ungarn,<br />

Tschechien oder gar <strong>die</strong> baltischen Staaten als Teile der früheren Soviet-Union<br />

Mitgliedstaaten eines freien Europa, ein mitleidiges Lächeln über so viel Unverstand<br />

wäre wohl <strong>die</strong> Reaktion gewesen. Dieses neue Europa, wo Schüler aus Deutschland<br />

und Rumänien gemeinschaftlich das Donau-Delta erforschen können, ist eine<br />

Gnade. Zerreden wir es nicht durch <strong>die</strong> unbegründete Angst um Arbeitsplätze<br />

hierzulande. Die Vollbeschäftigung des kalten Krieges ist für mich keine Alternative.


Wenn ich sehe, dass unsere Schule bald den in ihr verbrauchten Strom durch<br />

Sonnenenergie selbst erzeugen können wird und <strong>die</strong>ses Gemeinschaftsprojekt von<br />

Eltern, Schülern und Lehrer wesentlicher Bestandteil unseres Schulprofils ist, dann<br />

bin ich zuversichtlich, dass unsere Abiturienten <strong>die</strong> ökologische Herausforderung der<br />

Zukunft begriffen haben. Wenn unsere Generation sich in kleinlichem Gezänk um<br />

Grenzwerte und Emissionshandel zerreibt, müssen Sie es demnächst besser richten!<br />

Wenn ich sehe, wie jungen Menschen hier im Hause Gemeinschaft erleben in Chor<br />

und Orchester, Theater und Kabarett und den vielen Sportveranstaltungen oder<br />

Erste Hilfe leisten, wann immer nötig, dann bin ich zuversichtlich, dass Vertrauen und<br />

zwischenmenschliche Solidarität wieder an Boden gewinnen.<br />

Wenn ich schließlich Zeuge einer Religionsprüfung sein durfte, in der <strong>die</strong> Parallelität<br />

von Bergpredigt und der radikalen Gewaltlosigkeit eines Mahatma Ghandi aufgezeigt<br />

wurde, so liegt in <strong>die</strong>ser mutigen Friedfertigkeit <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong> blind aggressive<br />

Spaltung der Welt in Gut und Böse und damit der wirksamste Schutz gegen Krieg<br />

und Terror. Ich bin stolz, Schulleiter eines <strong>Gymnasium</strong>s sein zu dürfen, in welchem<br />

traditionsgemäß schon immer Schüler vieler Nationalitäten und unterschiedlicher<br />

Kulturkreise miteinander und voneinander viel gelernt haben.<br />

Grenzen werden nur in den Köpfen überwunden; Ignoranz ist der Nährboden von<br />

Feindbildern. Deshalb freut es mich, wenn sich junge Menschen verschiedener<br />

Kulturen begegnen oder Kollegen <strong>die</strong> Partnerschaft Freiburgs mit Isfahan<br />

unterstützen. Dies vermittelt jenes Einfühlungsvermögen, von dem Johannes Rau<br />

spricht, und ist damit ein wesentliches Moment von Bildung.<br />

Lassen Sie mich schließen mit einem sehr persönlichen Erlebnis, das vieles von<br />

dem, was ich denke, fühle und hier Ihnen sagen wollte auf eine sehr eigentümliche,<br />

einzigartige Wiese <strong>zum</strong> Ausdruck bringt – ein Erlebnis, das ich eigentlich mit 53.000<br />

anderen Menschen teile. Insider wissen nun vielleicht schon, worauf ich anspiele.<br />

Wenn ein bekannter Rockstar zu Abschluss seines Konzertes* alleine auf der Bühne<br />

zurückbleibt und Matthias Claudius rezitiert und dabei Menschen, jung und alt, dicht<br />

bei dicht, <strong>die</strong> Harmonien bewegend begleiten als wären sie zur Einheit<br />

verschmolzen, dann hat Bildung hierin einen lebendigen Ausdruck gefunden.<br />

Wir alle kennen <strong>die</strong> Strophe...<br />

Seht ihr den Mond dort stehen -<br />

Er ist nur halb zu sehen,<br />

Und ist doch rund und schön!<br />

So sind wohl manche Sachen,<br />

Die wir getrost belachen,<br />

Weil unsre Augen sie nicht sehn.<br />

Zeilen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> abendländische Philosophie von Sokrates bis Kant in wenigen Worten<br />

auf den Punkt bringen.<br />

Darum sollten wir uns alle auch weiterhin bewusst bleiben trotz High-Tec und<br />

Internet, wie wenig unsere Augen wirklich sehen.<br />

*Herbert Grönemeyer in Freiburg

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!