Studienführer 2011 - 2012 - Hochschule für katholische ...
Studienführer 2011 - 2012 - Hochschule für katholische ...
Studienführer 2011 - 2012 - Hochschule für katholische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
84 1<br />
Karl Friedrich Wagner<br />
Das „Landshuter Gesangbuch 1777“<br />
Aspekte eines „Bestsellers der Aufklärungszeit“<br />
I<br />
m Jahre 1983 machte Georg Brenninger mit der eben zitierten plakativen Formulierung auf<br />
die Bedeutung der Edition von 1777 in einprägsamer Weise aufmerksam.. Der Begriff<br />
„Bestseller“ trifft in der Tat zu, schaffte das „Landshuter Gesangbuch“ doch weite<br />
Verbreitung wohl hauptsächlich wegen zahlreicher oberhirtlicher Approbationen und<br />
Empfehlungen, und schaffte so eine stolze Reihe von Neuauflagen und Nachdrucken bis weit ins<br />
19. Jahrhundert hinein. „Landshuter Gesangbuch“: das ist ein bibliografisches Kürzel. Der Titel<br />
des Buches, das fast durchweg neue Kirchenlieder in der Volkssprache bietet, lautet in voller<br />
Länge: „Der heilige Gesang zum Gottesdienste in der römisch-<strong>katholische</strong>n Kirche“. Die<br />
Tradition deutschsprachiger Kirchenlieder reicht ja eigentlich weit in die vorreformatorische Zeit<br />
zurück. Erinnern wir uns nur des unsterblichen „Christ ist erstanden“. Aber auch parallel zu den<br />
reformatorischen Editionen entfaltete sich es eine reiche <strong>katholische</strong> Lied-Tradition. Das Singen<br />
von deutschen Liedern im römisch-<strong>katholische</strong>n Bereich war freilich so gut wie immer auf<br />
paraliturgische Anlässe – also Prozessionen, Wallfahrten etc. - beschränkt.. Im Rahmen der<br />
offiziellen eucharistischen Feier fanden vom Volk gesungene muttersprachliche Gesänge nur als<br />
seltene Einlagen Billigung. Die <strong>katholische</strong> Kirchenliedgeschichte enthält demnach keine<br />
Paraphrasen des lateinischen Ordinarium Missæ, während für die im 16. Jahrhundert neu<br />
etablierte evangelisch-lutherische Liturgie die bekannte, im Vollsinn als liturgietauglich<br />
angesehene deutsche Messreihe entworfen wurde, die inzwischen in Auswahl längst auch zum<br />
unverzichtbaren Kernbestand römisch-<strong>katholische</strong>n Gemeindegesangs gehört.. Es soll nur am<br />
Rande erwähnt werden, dass das Latein als allgemein verwendete Gelehrten-Umgangssprache im<br />
lutherischen Gottesdienst durchaus weiterhin neben dem Deutschen seine Daseinsberechtigung<br />
behielt. Im römisch-<strong>katholische</strong>n Kirchenliedwesen des 18. Jahrhunderts war nun das wirklich<br />
Neue die Veröffentlichung und Propagierung von deutschen Messliedern. Da am Latein als<br />
einzig erlaubter Liturgiesprache auch im 18. Jahrhundert trotz dokumentierten Ansinnens einer<br />
radikalen Reform letztlich doch nicht zu rütteln war – kam es damals zu jenem lange Zeit<br />
praktizierten Doppelvollzug der Messfeier: Gemeinde oder Chor sangen deutschsprachige Reim-<br />
Paraphrasen der lateinischen approbierten Messgesänge, die simultan vom Zelebranten (halblaut<br />
oder flüsternd) rezitiert wurden. Erst die Liturgiereform im Anschluss an das zweite Vaticanum<br />
ermöglichte es dann fast 200 Jahre später, diesen (merkwürdigen) Kompromiss legitim zu<br />
beenden. Der Nährboden, auf dem eine Veröffentlichung von der Art des „Landshuter<br />
Gesangbuches“ seinerzeit gedeihen konnte, ist in einem geistesgeschichtlichen Phänomen zu<br />
suchen, welches wir heute allgemein „Aufklärung“ – englisch „Enlightenment“(!) – nennen,<br />
dessen wesentliche Aspekte im Folgenden kurz repetiert werden sollen.<br />
Der kulturelle Hintergrund oder „Das Jahrhundert der Aufklärung“<br />
Bei einem Gang durch die Wiener Kapuzinergruft trifft man unversehens auf ein Bild von<br />
seltener Eindinglichkeit: Der Rokokoprunk des Doppelsarkophags des kaiserlichen Paares Franz<br />
Stephan von Lothringen und Maria Theresia. Davor der schlichte Kupfersarg Kaiser Josephs II.<br />
Hier wird uns ein Bruch überdeutlich vor Augen geführt, der das europäische 18. Jahrhundert<br />
durchzieht. Dieser Bruch steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Fruchtbarwerden der<br />
Ideenwelt der „Aufklärung“. Der naheliegende Gedanke freilich, die „Aufklärung“ einfach als<br />
Antipode zum Barock zu sehen, greift entschieden zu kurz. Sind doch deren Wurzeln gerade in<br />
den deutlich rationalistischen Tendenzen zu finden, die eben für dieses Barockzeitalter<br />
kennzeichnend sind. Das 18. Jahrhundert, vor allem dessen zweite Hälfte, ist die Zeit, in der die<br />
geistesgeschichtlich seit langem vorbereiteten Ideen der Aufklärung heftig zur Verwirklichung<br />
drängen. Wie groß der „Nachholbedarf“ in der Tat war, mögen folgende Daten aus den<br />
Bereichen Rechtspflege und Bildungswesen stellvertretend für viele andere zeigen: Die letzte<br />
Hinrichtung einer „Hexe“ im süddeutschen Raum wurde 1775 – immerhin nach heftigen<br />
Kontroversen, aber letztlich eben doch!<br />
- im Reichsstift Kempten vollzogen.<br />
Die sogenannte „peinliche Befragung“,<br />
also die systematische Folter, um das<br />
für eine Verurteilung notwendige<br />
Geständnis zu erzwingen, bestand in<br />
Bayern als Bestandteil der Rechtspflege<br />
wenigstens formal bis 1805 1 . In diese<br />
Zeit fällt auch die gesetzliche<br />
Verankerung einer allgemeinen<br />
sechsjährigen Schul-pflicht. „Alles für<br />
das Volk, nichts durch das Volk“ -<br />
jener Leitsatz, den man Kaiser Joseph<br />
II. zuschreibt, kennzeichnet die<br />
Situation in einigen europäischen<br />
Ländern um 1780 treffend: Es ist die<br />
Zeit des „aufgeklärten“ Absolutismus,<br />
der im österreichischen<br />
„Josephinismus“ ein besonders<br />
markantes Gesicht zeigt. Kaiser Joseph<br />
II. (Regierungszeit: 1780-1790) war<br />
daran, ein Staats-kirchentum zu<br />
begründen und damit letztlich Religion<br />
als willkommene volkspädagogisch<br />
wirkmächtige Insti-tution für seine<br />
politischen Pläne zu benutzen. Die<br />
geistlichen Fürsten-tümer Salzburg und<br />
Passau standen, verkörpert in den Fürstbischöfen Colloredo 2 und Auersperg 3 , durch verschiedene<br />
Umstände bedingt, den josephinischen Ideen nahe. Churbayern, vor allem unter Max III. Joseph<br />
(Regierungszeit: 1745-1777), gilt allgemein trotz des wenigstens vorübergehenden Wirkens eher<br />
radikal-aufklärerischer Persönlichkeiten wie Adam Weishaupt, dem Ingolstädter<br />
Universitätslehrer und Begründer des Illuminatenordens 4 , als Region einer gemäßigten, „guten<br />
1 CHARLES BURNEY schreibt im 2. Buch seines Reisetagebuches von 1773 (S.133) in reichlich provokanter Art: Man<br />
hatte mir gesagt, die Bayern wären in der Philosophie und andern nützlichen Wissenschaften, wenigstens drey hundert Jahre weiter<br />
zurück, als die übrigen Europäer. Man kanns ihnen nicht ausreden, die Glocken zu läuten, so oft es donnert, oder sie dahin bringen,<br />
daß sie an ihren öffentlichen Gebäuden Blitzableiter anbrächten. Ein gewisses zeitliches Gefälle hinsichtlich gewisser<br />
Innovationen (siehe oben) ist zwar in der Tat erkennbar. Liest man etwa dreissig Jahre statt dreyhundert Jahre, kommt<br />
man der Realität sicherlich erheblich näher. Im Übrigen scheinen etwa die Schweiz oder auch Polen Bayern an<br />
Säumigkeit in Sachen Aufklärung bei weitem zu übertreffen. Vgl. SCHWAIGER, GEORG: Das Ende der<br />
Hexenprozesse im Zeitalter der Aufklärung. In: Schwaiger, Georg (Herausgeber): Teufelsglaube und<br />
Hexenprozesse, München 1980 S. 177-178.<br />
2 Ein zwar marginales, aber pikantes kulturgeschichtliches Detail: Es handelt sich um jenen Hieronymus Grafen<br />
Colloredo, den Mozart nach seinem eigenen Zeugnis in einem Brief an seinen Vater vom 9. Mai 1781 bis zur raserey<br />
hasste. (Siehe Zaubertöne - Mozart in Wien 1781-1791, Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums der<br />
Stadt Wien im Künstlerhaus, 1990-1991, S. 167.)<br />
3 In Passau waren allerdings schon die beiden Vorgänger von Joseph Franz Anton Reichsgraf von Auersperg<br />
(Regierungszeit1783-1795) ausgesprochene Anhänger der Aufklärung:: nämlich der gelehrte Joseph Maria Graf<br />
von Thun-Hohenstein (Regierungszeit 1761-1763), sowie Kardinal Leopold Ernst Graf von Firmian<br />
(Regierungszeit 1763-1783). Siehe: HARTINGER, WALTER: Die <strong>katholische</strong> Aufklärung und das Fürstbistum<br />
Passau. In: Grenzenlos - Geschichte der Menschen am Inn, Katalog zur ersten Bayerisch-Oberösterreichischen<br />
Landesausstellung 2004, Hrsg. von Egon Boshof, Max Brunner, Elisabeth Vavra, S. 185-187.<br />
4 Adam Weishaupt (1748-1830) nahm am 1. Mai 1776 die ersten Mitglieder in den von ihm vor allem aus<br />
antijesuitischen Impulsen heraus gegründeten aufklärerischen Geheimbund auf. Unter Churfürst Karl Theodor<br />
2<br />
85