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Leitfaden zur Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern

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<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong><br />

<strong>Kindern</strong><br />

Kinder <strong>mit</strong> schweren und mehrfachen Behinderungen sind seit<br />

vielen Jahren eine „Herausforderung“ für die Frühförderung, die<br />

pädagogische Förderung in der Schule und auch für Einrichtungen<br />

nach dieser Zeit.<br />

Es wurden viele pädagogische, psychologische, therapeutische<br />

und andere Herangehensweisen entwickelt, um diesen schwerbeeinträchtigten<br />

<strong>Kindern</strong>, Jugendlichen und Erwachsenen Entwicklungsmöglichkeiten<br />

zu geben.<br />

In Deutschland scheint das Konzept Basale Stimulation das am<br />

Weitesten verbreitete, aber auch sensorische Integrationstherapie,<br />

Basale Kommunikation nach Mall, Basale Aktivierung, Affolter,<br />

und viele andere finden Anwendung. In der Praxis werden<br />

sich vor allem Mischungen aus den verschiedenen Konzepten<br />

und Ansätzen finden. Die jeweilige Grundausbildung der<br />

Professionellen bestimmt ebenso die Auswahl wie die besonderen<br />

Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

1


Der <strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong><br />

<strong>Kindern</strong> bezieht sich nicht auf ein einzelnes ausgewähltes Konzept,<br />

sondern versucht – gerade für Berufsanfänger – eine Hilfe<br />

<strong>zur</strong> Einschätzung der Fähigkeiten und Kompetenzen sehr<br />

schwerbehinderter Kinder zu geben.<br />

Die ersten Untersuchungen begannen 1977, wo wir versuchten,<br />

die Handaktivitäten sehr schwer behinderter Kinder detaillierter<br />

zu beobachten und einzuordnen. Wir konnten damals schon<br />

feststellen, dass sich die Entwicklung dieser Aktivitäten sehr<br />

anders darstellt, als die nichtbehinderter, sehr kleiner Kinder.<br />

Es zeigen sich zwar Ähnlichkeiten aber keine klare Parallelität.<br />

Eine sehr schwere Behinderung, so unser erster Eindruck, lässt<br />

es doch zu spezifischen Entwicklungen kommen, die dann auch<br />

pädagogisch entsprechend beantwortet werden müssen.<br />

Ursula Haupt, damals Professorin in Mainz, und Andreas Fröhlich<br />

(Verfasser dieses Berichtes) versuchten, im Rahmen eines<br />

praxisorientierten Forschungsprojektes eine Beobachtungshilfe<br />

zu erstellen. Es war von Anfang an klar, dass sich ein Test im<br />

eigentlichen Sinne nicht entwickeln lassen würde. Die Art der<br />

2<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


Behinderung, die individuelle Biografie, die besonderen Lebensbedingungen<br />

etc. machen die Bildung von homogenen statistisch<br />

verwertbaren Gruppen nahezu unmöglich. Auch schien<br />

die Gesamtzahl sehr schwerbehinderter Kinder so klein, dass<br />

man kaum zu gesicherten statistischen Werten hätte kommen<br />

können.<br />

Die Frage nach einem Test für sehr schwerbehinderte Kinder<br />

muss auch weiterhin kritisch gestellt werden. Was könnte man<br />

<strong>mit</strong> einem solchen Test erreichen wollen Schwerste und mehrfache<br />

Behinderung ist klar und augenfällig. Ein Screeningverfahren,<br />

das zwischen gefährdeten und nicht gefährdeten <strong>Kindern</strong><br />

unterscheidet, erscheint überflüssig, diese Kinder sind klar<br />

und eindeutig erkennbar. Die Errechnung eines Quotienten, der<br />

sich auf Intelligenz, Motorik, Wahrnehmung etc. beziehen würde,<br />

erscheint ebenfalls wenig hilfreich. Ein errechneter Punktwert<br />

bietet wenig hinsichtlich der Einschätzung der tatsächlichen<br />

Möglichkeiten, Bedürfnisse und auch Schwierigkeiten eines<br />

sehr schwerbehinderten Kindes. Es geht vielmehr darum,<br />

eine Orientierung und Hilfe <strong>zur</strong> Verfügung zu stellen, die es<br />

3<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


auch Berufsanfängern erlaubt, die komplexe Lebenssituation<br />

eines sehr schwerbehinderten Kindes besser und nachvollziehbar<br />

zu beschreiben.<br />

Auf der Basis vielfältiger Einzelbeobachtungen und interindividueller<br />

Vergleiche haben Ursula Haupt und ich eine große Anzahl<br />

von Items gesammelt, die für die Entwicklung sehr schwer<br />

behinderter Kinder charakteristisch erschienen. Wir orientierten<br />

uns an den gängigen deutschsprachigen und in Deutschland<br />

verwendeten Entwicklungs- und Beobachtungsverfahren für<br />

jüngere - nicht behinderte - Kinder, denn hier finden wir das<br />

Leistungsspektrum, das auch sehr schwerbehinderte Kinder<br />

zeigen.<br />

Wir konnten im Vergleich der unterschiedlichen Verfahren allerdings<br />

sehr bald feststellen, dass insbesondere die zeitlichen<br />

Angaben der einzelnen Verfahren sehr weit auseinander liegen<br />

konnten, z. T. um Monate, z. T. sogar um ein halbes Jahr. Bedenkt<br />

man, dass im Wesentlichen das erste Lebensjahr beschrieben<br />

werden sollte, so zeigt sich hier eine außerordentlich<br />

große Ungenauigkeit. Die Streubreite normaler kindlicher Ent-<br />

4<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


wicklung wird auch immer wieder thematisiert (vergleiche<br />

Brazelton 2008 oder Largo 1996). Wir konzentrierten uns auf<br />

die übereinstimmenden Angaben, ergänzten diese durch einschlägige<br />

Forschungsergebnisse in der Literatur und fügten unsere<br />

eigenen beobachteten besonderen Aktivitäten sehr<br />

schwerbehinderter Kinder ein. Auf diese Art entstanden die<br />

Items des <strong>Leitfaden</strong>s.<br />

Da<strong>mit</strong> ist ganz klar, dass die Konstruktion des <strong>Leitfaden</strong>s den<br />

Ansprüchen an ein standardisiertes Testverfahren bei weitem<br />

nicht erfüllen, allerdings auch nicht erfüllen will. Es geht uns darum,<br />

dem Beobachter einen „<strong>Leitfaden</strong>“ <strong>zur</strong> Verfügung zu stellen,<br />

so dass er oder sie wichtige Fragestellungen, wichtige<br />

Blickpunkte, wichtige Zusammenhänge nicht aus den Augen<br />

verliert.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

5


Die übergeordneten Bereiche des <strong>Leitfaden</strong>s<br />

Zunächst geht es um die Beziehung zwischen Mutter oder anderer<br />

wichtiger Bezugspersonen und dem Kind. Hier sollen wesentliche<br />

sozialkommunikative und emotionale Fähigkeiten erfragt<br />

werden. Es kommt darauf an zu sehen, wie weit das Kind<br />

bereits auf Personen individuell reagiert, wie weit eine Entwicklung<br />

des Ich und Du schon stattgefunden hat.<br />

Die Reaktion des Kindes auf Stimme und Sprache<br />

Ein wesentliches Merkmal für die Entwicklung eines Kindes ist<br />

das Verständnis von Sprache. In unserer Zivilisation findet ein<br />

Großteil der sozialen Beziehungen, ganz besonders aber der<br />

Kenntnisver<strong>mit</strong>tlung, über Sprache statt. Kinder, die nur ein<br />

sehr frühes Entwicklungsniveau zeigen, sind dann wesentlich<br />

mehr auf un<strong>mit</strong>telbaren Körper- und Hautkontakt angewiesen,<br />

auf einen „somatischen Dialog“.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

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Die lautlichen Äußerungen des Kindes<br />

Diese korrespondieren natürlich <strong>mit</strong> dem vorherigen Bereich<br />

sehr eng. Der entscheidende Schritt in der Entwicklung ist wohl<br />

der, ob ein Kind lernen konnte, dass die eigenen Lautäußerungen<br />

Wirkungen auf andere Personen haben.<br />

Die Reaktion des Kindes auf sensorische Angebote<br />

Wir haben diesen Bereich noch einmal unterteilt, haben einen<br />

„somatischen“ Bereich vorgeschaltet, nämlich die Wahrnehmung<br />

der gesamten Körperoberfläche auf Berührung, Druck,<br />

Temperatur. Dieser Bereich gibt Auskunft darüber, in wieweit<br />

ein Kind auch Körperkontakt aufnehmen und verarbeiten kann<br />

oder ob die gesamte Körperlichkeit durch seine bisherige Lebenserfahrung,<br />

z. B. Schmerzen, Krankenhausaufenthalte, therapeutische<br />

Eingriffe zu <strong>mit</strong> betroffen oder zu emotional negativ<br />

beeinflusst wurde.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

7


Es schließt sich das Hören an. Hören setzt schon eine gewisse,<br />

auch kognitive, Entwicklung voraus. Kinder, die nicht auf bestimmte<br />

akustische Ereignisse reagieren, brauchen deswegen<br />

nicht schwerhörig oder taub zu sein. Sie haben vielleicht noch<br />

nicht gelernt, auf Geräusche, speziell aber auf Stimmen, zu reagieren.<br />

Sie sind noch auf den eigenen Körper und das direkte<br />

Fühlbare bezogen.<br />

Sehen<br />

Sehen ist die Wahrnehmungsart, die wohl die höchste Entwicklung<br />

voraussetzt. Sehen wird für Kinder offenbar erst dann bedeutsam,<br />

wenn die körpernahen Erfahrungen zu einer Integration<br />

der unterschiedlichen Wahrnehmungen geführt haben und<br />

das Kind außerhalb seines direkten eigenen Aktionsraumes Interesse<br />

entwickeln kann. Sehen ist ein ausgesprochener „Fernsinn“,<br />

der von sich weg nach „draußen“ führt.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

8


Handbewegungen und Spielen<br />

Die Fähigkeit <strong>mit</strong> den Händen etwas zu berühren, zunächst den<br />

eigenen Körper und dann aber Objekte, stellt einen zentralen<br />

Entwicklungsfortschritt dar. Über die Handaktivitäten entstehen<br />

Handlungs- und dann Denkschemata in der Auseinandersetzung<br />

<strong>mit</strong> den Objekten. Sehr schwerbehinderte Kinder sind gerade<br />

in diesem Bereich oft sehr nachhaltig benachteiligt.<br />

Bewegungen des ganzen Körpers (Liegen, Sitzen, Krabbeln,<br />

Stehen, Gehen)<br />

Die Mobilität im Raum, die Orientierung, die Aufrichtung, die<br />

Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Schwerkraft spielen hier <strong>mit</strong> hinein.<br />

Körperliche Beeinträchtigungen sind aber ebenso wie kognitive<br />

Beeinträchtigungen ein manchmal kaum zu überwindendes<br />

Hindernis. (Physio)therapeutische Interventionen setzen hier<br />

an.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

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Räumliches Erleben<br />

Im Gegensatz zu den körperlichen Einschränkungen sehen wir<br />

manchmal, dass sehr schwerbehinderte Kinder <strong>mit</strong> ihren Augen<br />

den Raum zu durchwandern scheinen. Ihre eigentliche Fortbewegungsfähigkeit<br />

reicht nicht aus, um selbst eine Veränderung<br />

der räumlichen Beziehungen herzustellen, aber sie scheinen<br />

begriffen zu haben, dass es solche räumlichen Beziehungen<br />

gibt. Dies soll dokumentiert werden.<br />

Trinken und Essen<br />

Diese vitalen Aktivitäten spielen eine große Rolle für den gesundheitlichen<br />

Zustand eines Kindes. Die Sensomotorik des<br />

Mundes ist darüber hinaus von großer Bedeutung für die<br />

stimmlichen Produktionen, für die Sprach- und Sprechentwicklung.<br />

Aber auch der Mund als Tastorgan in einer frühen Erkundungsphase<br />

ist von Bedeutung.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

10


Es schließt sich ein narrativer Teil an, der sich den Interaktionen<br />

<strong>mit</strong> Bezugspersonen widmet. Nicht nur das schwerstbehinderte<br />

Kind lebt und erlebt unter schwierigen Bedingungen,<br />

auch seine Bezugspersonen haben häufig große Schwierigkeiten,<br />

einen befriedigenden Austausch <strong>mit</strong> dem Kind in Alltagssituationen<br />

herzustellen. Im Rahmen der alltäglichen Interaktionen<br />

scheint es besonders wichtig, einige Informationen über die<br />

folgenden Punkte zusammenzutragen:<br />

• Lagern, Tragen und Halten des Kindes,<br />

• die körperliche Nähe von Bezugspersonen und Kind,<br />

• die kommunikative Begleitung,<br />

• die Hilfestellung bei kindlichen Aktivitäten,<br />

• Tempo und Ruhe,<br />

• emotionaler Kontakt,<br />

• Materialangebote.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

11


Zum Vorgehen:<br />

Mit Ausnahme des letzten Bereiches sind die anderen in einer<br />

durchgängigen Form aufgebaut. Die einzelnen Items werden<br />

aufgeführt, z. B.:<br />

„Wenn Ihr Kind ruhig daliegt und Sie reden es dann an, verändert<br />

sich sein Gesichtsausdruck oder seine Bewegung (Seine<br />

Bewegung kann ein andauerndes Klatschen, Schaukeln oder<br />

auch Zähneknirschen sein)“.<br />

Die Grundfähigkeit, eine un<strong>mit</strong>telbare stimmliche Zuwendung<br />

zu registrieren, ist beim nichtbehinderten Kind schon im zweiten<br />

Monat festzustellen. Bei einem sehr schwerbehinderten Kind<br />

kann dies allerdings ganz anders aussehen und das haben wir<br />

<strong>mit</strong> diesem Item z. B. versucht deutlich zu machen. Es muss<br />

nicht immer ein Lächeln, wie beim schon etwas älteren Baby<br />

sein, es muss nicht eine Hinwendung der Augen sein. Sehr<br />

schwerbehinderte Kinder haben andere Formen, um ihr „Innehalten“<br />

kund zu tun.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

12


Für den Beobachter ergibt sich dann im <strong>Leitfaden</strong> die Möglichkeit,<br />

die Antwort des Kindes zu bewerten und diese entsprechend<br />

zu notieren:<br />

Taucht diese Fähigkeit nur gelegentlich auf,<br />

ist sie immer abrufbar,<br />

ist sie noch nicht entwickelt.<br />

Solche Items werden dann im <strong>Leitfaden</strong> einem „analogen Entwicklungsalter“<br />

zugeordnet.<br />

In einer früheren Version sprachen wir von Niveaus. Dies hat<br />

sich nicht bewährt. Zu leicht wurden die Kinder auf bestimmte<br />

Niveaus festgelegt. Es kam wieder zu Klassifizierungen, wie wir<br />

sie nicht für gut hielten. Mit analogem Entwicklungsalter soll<br />

ausgedrückt werden, dass diese beschriebenen Fähigkeiten in<br />

der Regel in einem bestimmten Alter von z. B. acht, neun Monaten<br />

bei einem nichtbehinderten Kind zu beobachten sind.<br />

Auch da gibt es große Streubreiten und natürlich ist eine solche<br />

Fähigkeit bei einem nichtbehinderten kleinen Kind etwas Anderes<br />

als eine vergleichbare Fähigkeit bei einem vielleicht sechs-<br />

13<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


oder siebenjährigen sehr schwer beeinträchtigten Kind. Der Altershinweis<br />

soll für den Beobachter lediglich eine Hilfe sein zu<br />

sehen, was das von ihm beobachtete Kind schon kann, was<br />

sich aus dieser Fähigkeit weiter entwickeln könnte.<br />

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass hier kein Entwicklungsquotient<br />

oder kein Entwicklungsalter beschrieben werden soll,<br />

sondern dass dies ausschließlich eine Hilfe für den Beobachter<br />

ist, vielleicht auch eine Hilfe für Eltern, besser zu verstehen, wo<br />

ihr Kind seine Stärken und Möglichkeiten hat.<br />

Die Frage der Kognition<br />

Kann man davon ausgehen, dass sehr schwer- und mehrfachbehinderte<br />

Kinder kognitive Fähigkeiten haben Lange Zeit<br />

wurde dies in Frage gestellt, <strong>mit</strong>tlerweile können wir davon<br />

ausgehen, dass alle Kinder, seien sie auch noch so schwer behindert,<br />

kognitive Fähigkeiten besitzen und zusätzlich erwerben.<br />

Lernen ist ein wesentliches Merkmal des Lebens. Orientierung,<br />

Anpassung und Versuche der Beeinflussung sind Be-<br />

14<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


standteile solchen Lernens. Der <strong>Leitfaden</strong> bietet auch unter diesem<br />

Blickwinkel die Möglichkeit, einige der wichtigsten Kompetenzen<br />

bei <strong>Kindern</strong> zu beobachten. Alle Items im Bereich „Beziehung<br />

zwischen Mutter und Kind“ sind Resultate eines Lernprozesses.<br />

Sie sind zwar genetisch angelegt, sind aber nur<br />

durch die eigene Leistung des Kindes, durch seinen Lernprozess<br />

tatsächlich verfügbar. Insofern können wir diesen ganzen<br />

Bereich auch unter dem Aspekt der Kognition als Items <strong>zur</strong> sozialen<br />

Intelligenz sehen. Dies gilt dann auch für die „Reaktion<br />

des Kindes auf Stimme und Sprache“, hier allerdings können<br />

einzelne Items auch noch ganz biologisch interpretiert werden<br />

im Sinne einer allgemeinen Orientierungsreaktion. Vergleichbares<br />

gilt für die lautlichen Äußerungen des Kindes, die aber auf<br />

jeden Fall ab einem analogen Entwicklungsalter von sieben<br />

Monaten als „lernbasiert“ beschrieben werden müssen. Im Bereich<br />

„Reaktion des Kindes auf sensorische Angebote“ finden<br />

wir ebenfalls eine ganze Reihe von Items, die darauf hinweisen,<br />

dass ein Kind eine sensorische Wahrnehmung aufnimmt und<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

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einordnet – eine kognitive Leistung. Das Suchen nach einer<br />

Geräuschquelle gehört z. B. zu diesen Kompetenzen.<br />

Insbesondere der Komplex Handbewegungen/Spielen weist auf<br />

frühe sensomotorische Intelligenzleistungen hin. Die Aktivierung<br />

der Hand als Reaktion auf einen Reiz, sei er unangenehm<br />

oder angenehm, zeigt, dass das Kind bereits erste Zusammenhänge<br />

ganzheitlich wahrnimmt. Die gesamten Erkundungsbewegungen<br />

unterschiedlicher Differenziertheit gehören in den<br />

Bereich der sensomotorischen Intelligenz und können da<strong>mit</strong><br />

auch als frühe Kognition bezeichnet werden.<br />

Insbesondere der Bereich „Räumliches Erleben“ weist auf kognitive<br />

Aktivität hin. Hier wird auf unterschiedlichen Differenzierungsstufen<br />

das Prinzip der Triangulation beobachtet, die Fähigkeit<br />

des Kindes zwischen Objekten <strong>mit</strong> den Augen Beziehungen<br />

herzustellen.<br />

In die Interaktionen <strong>mit</strong> Bezugspersonen fließen natürlich kognitive<br />

Fähigkeiten ein, die Einschätzungen von Situationen als<br />

bekannt oder als unbekannt, als bedrohlich oder vertraut sind<br />

kognitionsbasiert.<br />

16<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


Insofern wäre es sicherlich ein lohnenswerter Versuch, den gesamten<br />

<strong>Leitfaden</strong> unter dem Aspekt der Kognition noch einmal<br />

kritisch zu sichten und als Instrument für eine spezifischere Beobachtung<br />

aufzubereiten. Hier würde sich ein interessantes<br />

Forschungs- und Tätigkeitsgebiet ergeben.<br />

Lange Zeit war der Begriff der „Kognition“ zumindest im deutschen<br />

Sprachraum weitgehend für höhere Leistungen benutzt.<br />

Elementare kognitive Leistungen wurden als solche seltener<br />

wahrgenommen und gewürdigt. So kam es dazu, dass in der<br />

Pädagogik sehr schwerbehinderter Kinder vom Begriff der Kognition<br />

eher Abstand genommen wurde und allgemeiner von<br />

elementaren oder basalen Fähigkeiten gesprochen wurde.<br />

Möglicherweise würde es den Blick für die tatsächlichen Leistungen<br />

dieser Kinder schärfen, wenn man auch wieder die spezifisch<br />

kognitiven Leistungen hervorheben würde.<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

17


Die besondere Fragestellung der Interaktion <strong>mit</strong> Bezugspersonen<br />

Die derzeitige Beschreibung von Behinderung als Resultat einer<br />

Funktionsstörung und einer sich daraus ableitenden Aktivitätsbeeinträchtigung<br />

<strong>mit</strong> der Folge einer sozialen Behinderung<br />

weist darauf hin, dass auch sehr schwere Behinderung immer<br />

nur im sozialen Kontext und in der sozialen Interaktion zu verstehen<br />

ist. Aus diesem Grunde erschien es uns besonders<br />

wichtig, die Interaktion <strong>mit</strong> Bezugspersonen, ihr Gelingen oder<br />

ihr Scheitern, einer besonderen Beobachtung zuzuführen. Sehr<br />

viel im Verhalten sehr schwerbehinderter Kinder, manches, was<br />

man im Alltag kaum verstehen kann, lässt sich daraus ableiten.<br />

Auch praktische Hilfestellungen für die Aktivitäten des Alltags<br />

(Fröhlich 2011) finden hier ihren förderdiagnostischen Bezugspunkt.<br />

Dieser Teil soll hier nochmals wiedergegeben werden. Die einzelnen<br />

Fragen sind im Original weit auseinander gerückt, so<br />

dass Platz bleibt für handschriftliche Beobachtungs- und Befra-<br />

18<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


gungsergebnisse. Aus Platzgründen wird auf diese Zwischenräume<br />

hier verzichtet und die einzelnen Fragen un<strong>mit</strong>telbar<br />

nacheinander wieder gegeben.<br />

Lagern, Tragen und Halten des Kindes (handling)<br />

• Welche Lagerungen des Kindes sind möglich – z. B.<br />

Bauchlage, Rückenlage, Seitlage<br />

• Ist eine Unterstützung <strong>mit</strong> Kissen oder Rollen erforderlich<br />

• Welche anderen Hilfen werden für die Lagerung eingesetzt<br />

• Welche Schwierigkeiten treten auf<br />

• Wie wird das Kind getragen<br />

• Wie wird es am Körper der Bezugsperson getragen<br />

• Sind zwei Personen erforderlich, um das Kind zu tragen<br />

• Welche Schwierigkeiten treten auf<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

19


Körperliche Nähe von Bezugspersonen und Kind<br />

• Körperkontakt wird von Bezugsperson und Kind als angenehm<br />

erlebt.<br />

• Körperkontakt ist eher unangenehm<br />

- für das Kind,<br />

- für die Bezugsperson,<br />

- Gründe dafür<br />

Kommunikative Begleitung<br />

• Wie spricht die Bezugsperson das Kind an<br />

• Wie reagiert das Kind darauf<br />

• Welche Äußerungen des Kindes werden gut verstanden<br />

• Welche Schwierigkeiten treten auf<br />

Hilfestellungen bei kindlichen Aktivitäten<br />

• Wie unterstützt die Bezugsperson Aktivitäten des Kindes<br />

• Welche Hilfen gelingen gut<br />

• Wo treten Schwierigkeiten auf<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

20


Tempo und Ruhe<br />

• Wie signalisiert das Kind Wünsche nach Aktivitäten<br />

• Wie zeigt es Ruhebedürfnisse<br />

• Wann kann die Bezugsperson diesen Bedürfnissen entsprechen<br />

• Wann gibt es Schwierigkeiten<br />

Emotionaler Kontakt<br />

• Welche Verhaltensweisen/Eigenarten des Kindes erleichtern<br />

der Bezugsperson Zuneigung zu erleben<br />

• Wie teilt die Bezugsperson dem Kind Zuneigung <strong>mit</strong><br />

• Welche Verhaltensweisen/Eigenarten des Kindes erschweren<br />

der Bezugsperson die Zuneigung<br />

Materialangebot<br />

• Welches Spiel oder Beschäftigungsmaterial bekommt das<br />

Kind<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

21


• Was macht es da<strong>mit</strong><br />

• In welchen Alltagserfahrungen wird es <strong>mit</strong> einbezogen<br />

• Auf welche reagiert es <strong>mit</strong> Interesse<br />

Diese Fragen können nur aus einem Zusammenspiel von Beobachtung<br />

und Befragung der Bezugspersonen beantwortet<br />

werden. Die Situationen werden sich im Laufe der Zeit ändern,<br />

sei es, dass das Kind größer und schwerer wird, sei es, dass<br />

neue Hilfs<strong>mit</strong>tel einbezogen werden oder dass eben auch Entwicklungsfortschritte<br />

zu verzeichnen sind. Durch diesen eher<br />

narrativen Teil soll es möglich werden, die subjektive Sicht der<br />

Bezugsperson stärker einzubeziehen, den Alltag in den Vordergrund<br />

zu stellen und so<strong>mit</strong> die Items aus dem ersten Teil in eine<br />

Balance zu bringen.<br />

Was der <strong>Leitfaden</strong> nicht kann, was er kann<br />

Der <strong>Leitfaden</strong> ist eine Möglichkeit, sich unter bestimmten Aspekten<br />

ein Bild von einem Kind zu machen. Er versucht viele<br />

22<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


Bereiche zu beleuchten, kann aber nicht die gesamte Persönlichkeit<br />

des Kindes, seine gesamten Lebensumstände abbilden.<br />

In halbjährlichem Abstand wiederholt ergibt sich die Möglichkeit,<br />

<strong>mit</strong> dem <strong>Leitfaden</strong> Entwicklungen oder Stagnationen zu<br />

dokumentieren. Der <strong>Leitfaden</strong> bietet vielleicht auch die Möglichkeit,<br />

interdisziplinär sich dem Kind zu nähern, unterschiedliche<br />

Blickwinkel und Schwerpunkte einzubringen und <strong>mit</strong>einander zu<br />

vergleichen.<br />

Aus dem <strong>Leitfaden</strong> ergibt sich aber nicht zwangsläufig eine<br />

ganz bestimmte Planung für die Förderung des Kindes. Wir<br />

können nicht sagen, dass ein relativ schwaches Ergebnis in einem<br />

der Teilbereiche unbedingt dazu führt, genau in diesem<br />

Teilbereich jetzt so etwas die „Trainingsprogramme“ zu planen.<br />

Dies könnte ganz gegen die eigene Entwicklungslogik des Kindes<br />

gehen. Der <strong>Leitfaden</strong> und seine Items stellen kein Trainingsprogramm<br />

dar. Eine solide psychologische, pädagogische<br />

und therapeutische Förderplanung ist eine andere, eine eigene<br />

Arbeit. Sie hängt sehr stark von den Fähigkeiten der Professio-<br />

23<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


nellen ab, von ihrem beruflichen und theoretischen Hintergrund<br />

sowie von den Möglichkeiten der Bezugsperson. Auch ist immer<br />

zu berücksichtigen, was in dem sozialen Umfeld, in dem<br />

das Kind lebt, für das Kind besonders wichtig wäre. Diese Frage<br />

kann dann das pädagogische Handeln leiten. Es geht hier<br />

nicht darum, feststellbare Defizite aufzuarbeiten, sondern darum,<br />

das Kind in der Entwicklung von Kompetenzen zu unterstützen,<br />

die ihm helfen <strong>mit</strong> sich und seiner Umwelt in der jeweiligen<br />

Situation <strong>zur</strong>echt zu kommen.<br />

Neue Aufgaben<br />

Die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf eine allgemeine Inklusion<br />

von Menschen <strong>mit</strong> Beeinträchtigungen betrifft natürlich<br />

auch Kinder <strong>mit</strong> schweren und mehrfachen Behinderungen. Sie<br />

haben ein natürliches recht in die Überlegungen und die Aktivitäten<br />

zu größtmöglicher Gemeinsamkeit aller einbezogen zu<br />

werden. Dazu aber bedarf es einer differenzierten Kenntnis ihrer<br />

besonderen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Ein solcher <strong>Leitfaden</strong><br />

kann eine gewisse Hilfe sein, diese zu beobachten und<br />

24<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


zu beschreiben, um sie dann in die allgemeinen pädagogischen<br />

Planungen hinein zu nehmen. Mit einem solchen Instrument<br />

kann es leichter fallen, auch diejenigen positiv an<strong>zur</strong>egen, die<br />

bislang wenig Erfahrung <strong>mit</strong> solchen <strong>Kindern</strong> haben und erst<br />

lernen müssen, ihre feinen und unscheinbaren Aktionen und<br />

Reaktionen zu erkennen.<br />

Andreas Fröhlich<br />

Kaiserslautern, Juli 2011<br />

Literatur<br />

Affolter, F.: Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. Villingen<br />

1987<br />

Brazelton, T. B.: Die Sieben Grundbedürfnisse von <strong>Kindern</strong>.<br />

Weinheim 2008<br />

Fröhlich, A.: Basale Stimulation - das Konzept. Düsseldorf<br />

Fröhlich, A.; Heinen, N.; Lamers, W. (Hrsg.): Schwere Behinderung<br />

in Praxis und Theorie. Düsseldorf 2001<br />

25<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>


Fröhlich, A.; Simon, A.: Gemeinsamkeiten entdecken – <strong>mit</strong><br />

<strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong> kommunizieren. Düsseldorf<br />

2004.<br />

Fröhlich, A., Haupt, U.: <strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong><br />

<strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong>. Dortmund, 2004<br />

Fröhlich A.: Aktivitäten des täglichen Lebens schwerstbehinderter<br />

Menschen, in: Fröhlich, A., Heinen, N. et. al. (Hrsg.)<br />

Schwere und mehrfache Behinderung - interdisziplinär.<br />

Oberhausen 2011<br />

Largo, R.: Babyjahre. München 3. Aufl. 1996.<br />

Strasser, U.: Wahrnehmen, Verstehen, Handeln. Förderdiagnostik<br />

für Menschen <strong>mit</strong> einer geistigen Behinderung. Luzern<br />

5. erg. Auflage 2004<br />

Wieczorek, M.: Individualität und schwerste Behinderung. Bad<br />

Heilbrunn 2003<br />

<strong>Leitfaden</strong> <strong>zur</strong> Förderdiagnostik <strong>mit</strong> <strong>schwerstbehinderten</strong> <strong>Kindern</strong><br />

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