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<strong>Pegasus</strong> | Nr. 104, August / September 2011<br />
nischen Lagern verrichten. Sein berühmtestes (und<br />
eigentlich einzig wirklich bekanntes) Gedicht «Todesfuge»<br />
nannte Celan gegenüber befreundeten Autoren<br />
eine Grabschrift oder ein Grabmal für jene, die<br />
kein Grab haben, auch für seine Mutter. In einer<br />
Notiz zu seinem Text schreibt Celan 1960: «Es sprechen<br />
die Sterbenden – sie sprechen nur als solche –<br />
der Tod ist ihnen sicher – sie sprechen als Gestorbene<br />
und Tote. Sie sprechen mit dem Tode, vom Tode<br />
her.»<br />
Ein Gedicht also, das «versucht, das Ungeheuerliche<br />
der Vergasungen zur Sprache zu bringen» (Celan) –,<br />
zugleich ist «Todesfuge» jedoch auch eine Auseinandersetzung<br />
mit der Literatur, mit der jüdischen und<br />
deutschen, und weist damit auf die Tradition und<br />
Kultur der Opfer: Die beiden Frauennamen Margrete<br />
und Sulamith zitieren offensichtlich Hauptwerke der<br />
jeweiligen Literatur: Goethes «Faust» und das<br />
«Hohelied» der Bibel. Und das «goldene Haar» spielt<br />
auf eines der berühmtesten Gedichte der jüdischdeutschen<br />
Literatur an: Heinrich Heines Loreley-<br />
Gedicht. «Sie kämmt ihr goldenes Haar» heisst es<br />
dort. Im vorliegenden Kontext und in der Verbindung<br />
«Deutschland dein goldenes Haar» weist es allerdings<br />
auch auf das faschistische Idealbild der blonden<br />
«Arier» und somit auf den Missbrauch der Kultur<br />
durch die Nationalsozialisten (Heines polpuläres<br />
Gedicht wurde in Nazideutschland bekanntlich zum<br />
anonymen Volkslied umgelogen). So ist Celans<br />
«Todesfuge» unvermeidlich ein Versuch, dichterisch<br />
auf den Holocaust zu reagieren, ein literarisches<br />
Sprechen nach der Katastrophe, «nach der nichts –<br />
auch das Schreiben von Gedichten nicht – mehr sein<br />
konnte, wie und was es war.» (Barbara Wiedemann)<br />
Hans Schill<br />
Das Gedicht wurde folgender Ausgabe entnommen:<br />
Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte<br />
Gesamtausgabe. Suhrkamp, Franfurt a.<br />
M. 2003.<br />
Der Verkäufer – pures Sein und<br />
Herzblut<br />
29<br />
Die Passioniertesten in allen Gewerben erkennt man<br />
oft an ihrer Neigung, die Dogmatik ihres Metiers zu<br />
ignorieren, so etwa die begnadeten Verkäufer, wenn<br />
sie den Verkauf stören und flugs das eine oder andere<br />
zusammengetragene Stück vom Stapel nehmen,<br />
ersatzlos, weil sie erkannt haben, dass der verdutzte<br />
Kunde das Zeug nicht braucht. Eine kühne Geste,<br />
mit der sie das Vertrauen eines neuen Kunden<br />
gewinnen, der sich für Sekunden eins mit einer Welt<br />
fühlt, die ihn nicht als «Konsumentenvieh» betrachtet<br />
und also melken will, sondern den Einzelnen in<br />
ihm sieht und sein künftiges Eigentum erkennt.<br />
Die begnadetsten Verkäufer sehen auch nicht unbedingt<br />
aus wie Verkäufer. Sie könnten, das liegt in<br />
ihrer Natur, auch Schauspieler sein, oder etwas ganz<br />
anderes, ihr äusseres Erscheinungsbild passt sich<br />
gerade so weit dem gängigen an, dass es noch<br />
durchgeht. So auch ihre Sprache, die sich weit über<br />
das trainierte Verkaufsgespräch hinaufschwingt und<br />
ohne Rücksicht auf Gemeinplätze die Konturen eines<br />
echten Gesprächs simuliert.<br />
Er nickt, lächelt, er ist müde. Er hat es nach der Lehre<br />
sehr schnell sehr weit gebracht, Filialleiter, jetzt<br />
allmählicher Wechsel zum Marketing, nur noch ein<br />
kleiner Teil seiner Arbeitszeit geht in den Verkauf,<br />
und manchmal zieht es ihn förmlich hinaus aus dem<br />
Büro, hin zu den Leuten, die doch sonst nicht finden<br />
werden, was sie brauchen – manchmal auch schüchterne<br />
Prominenz, die ratlos, aber von stiller Kaufgier<br />
getrieben im Laden steht – und keiner rührt sich, alle<br />
sind gelähmt von der Erscheinung – dann blutet sein<br />
Verkäuferherz, wie damals, als Pink um ein Haar<br />
nichts gekauft hätte, obwohl ihr Blick starr auf einem<br />
Paar Schuhe ruhte, mit dem sie bald fröhlich abzog.<br />
Er glaubt, dass es künftig keine gelernten Verkäufer<br />
mehr geben wird, nur noch Lifestyle-geschulte Ignoranten.<br />
Da sind die Sattheit der Märkte und ein<br />
immer bedrückenderer Mangel: Arbeitszeiten von<br />
neun Uhr bis acht Uhr abends, auch am Samstag,<br />
keine Weekends, dreizehn Stunden ausser Haus für<br />
einen Lohn, der kaum zum Leben reicht. «Wer<br />
gehen kann, der geht.» Er auch, obwohl er ein Verkäuferherz<br />
hat – und eine «Scheissfreude», wenn<br />
ihm wieder einmal gelungen ist, was seit je ein gutes<br />
Geschäft ausmacht, und also beide Seiten auf ihre<br />
Kosten gekommen sind. Verkauf war eine «Lebensschule»,<br />
wo man lernte, innert Sekunden mit Fremden<br />
zurechtzukommen. Dazu hat er in all diesen<br />
Jahren ja auch erlebt, wie die Absonderung durch<br />
diese Arbeit ihm die Freiheit gab, mit seinen Freunden<br />
ein Leben abseits der Konformität zu führen, ein