Rainer Landvogt - Scheidewege
Rainer Landvogt - Scheidewege
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Josef H. Reichholf<br />
Wale im Sonnenuntergang<br />
Meterhohe Fontänen, aus flachen Wellen kommend, die sich zu dunklen<br />
Kuppen erheben, wandern vom offenen Pazifik her in die Bucht<br />
hinein. Der schwache Wind verdreht sie kaum. Fast fallen sie wieder<br />
so in sich zusammen, wie sie aufgestiegen sind. Wie tonlose Signale sehen<br />
sie aus, weil der Motor des Schiffes alle Geräusche übertönt, die<br />
vom Meer her kommen. Sie verschwinden unter dem flackernden<br />
Meeresspiegel, um kurz darauf und ein gutes Stück weiter in Richtung<br />
Lagune wieder aufzutauchen. Es ist der „Blas“ von Grauwalen; ausgestoßene<br />
Atemluft, die wie Dampf aus einem Ventil entweicht. Die<br />
Fontänen weisen Weg und Ziel: die weiten, flachen Buchten im mexikanischen<br />
Niederkalifornien, die sich umrahmt von bläulichen Hügelketten<br />
öffnen. Wüstenhaft sehen ihre Eingänge aus. Wenig einladend.<br />
Krüppelhaft wächst überall Kaktus mit Stacheln von mehreren<br />
Zentimetern Länge und metallen hellem Glanz. Braune Pelikane gleiten<br />
wie fliegende Dinosaurier vorüber. Frühlingshaft milde Luft driftet<br />
vom Pazifik heran und zieht in die Lagunen hinein. Das heiße<br />
Land dahinter saugt den Wind vom Meer auf. Dort, wo sich hinter<br />
dem schmalen Eingang seenartig eine blau schillernde Wasserfläche<br />
auftut, ereignet sich während der Wintermonate ein Naturschauspiel<br />
von ganz besonderer Art. Tausende von Grauwalen, Riesentiere von<br />
gut 15 Metern Länge, schwimmen in die Lagune und sammeln sich<br />
darin zu einem unaufhörlichen Tanz der Leiber und Fontänen. Über<br />
Tausende von Kilometern wanderten sie, aus dem Beringmeer kommend,<br />
die nordamerikanische Westküste entlang nach Süden, um sich<br />
in wenigen flachen Buchten des mexikanischen Niederkaliforniens zu<br />
treffen. Die Walmütter bringen darin ihre Jungen zur Welt. Dort findet<br />
auch die Paarung der Grauwale statt, bevor sie im Frühjahr wieder<br />
nordwärts ziehen. Gut vier Monate nehmen sie in den Nordmeergewässern<br />
ununterbrochen Nahrung auf. Diese muss reichen für die anderen<br />
vier Monate, die sie in den Lagunen nahe dem Wendekreis des<br />
5
6 Josef H. Reichholf<br />
Krebses verbringen und auch für die zweimal zwei Monate, die sie unterwegs<br />
sind in steter „Fahrt“ entlang der Küsten. Erst in den Weiten<br />
des nördlichen Flachmeeres vereinzeln sie sich zu kleinen Gruppen.<br />
Im Winterquartier bleiben sie so eng zusammen, dass alle Augenblicke<br />
die Fontänen ihres Atemdampfes aufsteigen und weithin das Meer unruhig<br />
wird, auch wenn sich kein Lüftchen regt. Die grauen, stellenweise<br />
weiß- und gelbfleckigen Riesen rollen durchs Flachwasser,<br />
springen plötzlich meterweit empor, um Sekundenbruchteile später<br />
mit weithin dröhnendem Krachen wieder auf dem Wasser aufzuschlagen.<br />
Der Aufprall reißt ganze Kolonien von so genannten Seepocken<br />
weg, die in Wirklichkeit Rankenfußkrebse sind und die den Körper,<br />
auf dem sie sich angeheftet haben, nur als Transportmittel nutzen. Sie<br />
fallen den Walen sichtlich lästig. Und wenn gegen Ende des Winters<br />
die Zeit der Paarung gekommen ist, dann wirbeln große Strudel wie<br />
Unterwassertornados durch die Lagune, klatschen riesige Brustflossen<br />
aufs Wasser und peitschen die mächtigen Schwanzflossen, die Fluken,<br />
die aufschäumende Oberfläche. Man tut dann gut daran, diskrete<br />
Distanz zu halten, auch wenn man sich sonst den Walen bedenkenlos<br />
im Boot nähern kann. Im Taumel der Paarung, die für weitgehend<br />
runde Körper im Wasser recht schwierig zu vollziehen ist, achten die<br />
Riesen nicht mehr auf die Zodiaks, die für sie kaum mehr als Federn<br />
sind, die auf dem Wasser treiben.<br />
Erst ein Jahrhundert liegt die Zeit zurück, in der sich die Lagunen<br />
vom Blut sterbender Wale röteten. Von Walfängern wurden sie in<br />
Massen abgeschlachtet. In den Buchten saßen sie in der tödlichen Falle,<br />
aus der es kein Entrinnen gab, weil der Eingang zu schmal ist.<br />
Nicht einmal wegtauchen konnten sie, denn dazu sind diese Gewässer<br />
zu seicht. Mit unstillbarer Gier nach dem schnellen Geld und heute<br />
unmenschlich anmutender Brutalität wurden die Leviathane dahingerafft<br />
und der Grauwal als Art fast vollständig ausgerottet. Es grenzt an<br />
ein Wunder, dass ein ganz kleiner Restbestand überlebte, aus dem die<br />
Zehntausende hervorgegangen sind, die es inzwischen wieder gibt.<br />
Die Wiedererholung der Grauwale und ihre Wiederkehr in die Lagunen<br />
am „Finger“ Kaliforniens, den eine schmale Kontinentalplatte bei<br />
ihrer Drift an den nordamerikanischen Kontinent vor Urzeiten angeheftet<br />
hatte, ist eine der seltenen großen Erfolgsgeschichten des Naturschutzes.<br />
Aus ihrer Todeszone an der Baja California stieg ihre neue<br />
Zukunft empor. Seit vielen Jahrmillionen ist diese Küste die Wiege
Heike Baranzke<br />
„Ehrfurcht vor dem Leben“ und „Würde der<br />
Kreatur“ – klassische und moderne Lebensethik<br />
Albert Schweitzer und seine Lebensethik – weggelobt?<br />
Albert Schweitzer, Doktor der Theologie, der Philosophie und der<br />
Medizin, Bachinterpret, Orgelspezialist und Friedensnobelpreisträger,<br />
erfreut sich bis heute einer ungebrochenen Verehrung als einer vielseitigen<br />
Persönlichkeit und eines tatkräftigen Humanisten. Die Medizinische<br />
Fakultät der Berliner Humboldt-Universität verlieh dem Urwaldarzt<br />
und vielfältigen Titelträger am 12. November 1960 zwar<br />
auch noch die Ehrendoktorwürde, aber Medizingeschichte hat<br />
Schweitzer dennoch nicht geschrieben. Schweitzer hat Medizin nicht<br />
um der Forschung willen, sondern als Instrument der humanitären<br />
Praxis studiert. Mit einer solchen Art von Tätigkeit schreibt man sich<br />
nicht in die Medizingeschichte, ja nicht einmal in die Medizinethikgeschichte<br />
hinein, sondern sichert sich bestenfalls als protestantischer<br />
„Wohltäter“ einen Platz im „Ökumenischen Heiligenlexikon“ 1 neben<br />
Mutter Theresa. Dort ist auch zu erfahren, daß schon sein Name Programm<br />
war – denn „Albert“ bedeutet im Althochdeutschen „durch<br />
Adel glänzend“ –, eine Mitgift, mit der der Humanist trefflich zu wuchern<br />
verstanden hat.<br />
Doch trotz dieser hagiographischen Karriere blieb der liberale<br />
Theologieprofessor wegen seiner dogmenkritischen Einstellung auch<br />
der akademischen Theologie suspekt. Zwar wurde ihm auch in diesem<br />
Fach eine Ehrendoktorwürde durch die Oxforder Universität zuteil<br />
und die neutestamentliche Theologiegeschichte kommt schwerlich an<br />
dem „Leben Jesu“- und Paulusforscher vorbei; aber Schweitzers „freies<br />
Christentum“ ist für die systematische Theologie keine leichte Hypothek<br />
und beunruhigte bereits die Pariser Missionsgesellschaft, der<br />
gegenüber er sich verpflichten mußte, in Lambarene nur als Arzt und<br />
nicht auch als Missionar tätig zu werden (Rössler 1990).
„Ehrfurcht vor dem Leben“ und „Würde der Kreatur“ 13<br />
Wenngleich Schweitzer zwischen Theologie und Philosophie keine<br />
scharfe Grenze ziehen mochte, verzichtete er darauf, seiner Ethik der<br />
Ehrfurcht vor dem Leben ein explizit theologisches Fundament zu geben,<br />
um ihren allgemeingültigen Anspruch zu unterstreichen. Umgekehrt<br />
hat man ihm den Vorwurf gemacht, er habe Theologie auf Ethik<br />
reduziert und beide über die Arbeit am Reich Gottes miteinander<br />
identifiziert (Schulik 1990). Jedenfalls hoffte Schweitzer zeit seines<br />
Lebens vor allem auf die philosophische Anerkennung seiner Schriften,<br />
die ihm immerhin für seine Kulturkritik in der Person des Neukantianers<br />
Ernst Cassirer zuteil geworden ist (Günzler 1995). Auch<br />
Schweitzers Ehrfurchtsbegriff zeigt sich als Produkt des „Vernunftdenkens“<br />
– darauf legte der Aufklärungsanhänger Schweitzer ausdrücklich<br />
Wert – und daher weniger durch die christliche Theologie<br />
als vielmehr von Kants und Goethes säkularisiertem Ehrfurchtsbegriff<br />
inspiriert, insofern Ehrfurcht aus der sittlichen Entscheidung eines<br />
Subjekts resultiert und in die Achtung übergeht (Baranzke 2006).<br />
Aufgrund seiner Achtung vor der Autonomie seiner Mitmenschen<br />
weigert sich der liberale Schweitzer, seine Ethik in konkreten Normen<br />
auszubuchstabieren. Er erwartet vielmehr „alles von der Steigerung<br />
des Verantwortlichkeitsgefühls der Menschen“, wie er einmal in Bezug<br />
auf den Umgang mit individuellem Eigentum äußert (KE 251).<br />
Daher wird sie von seiten philosophischer Ethiker, wenn überhaupt,<br />
nur als eine Tugend- oder Haltungslehre zur Kenntnis genommen, die<br />
nicht zum Moralprinzip tauge, da ihr keine präzisen Kriterien und<br />
Handlungsnormen zu entnehmen seien. Außerdem überfordere<br />
Schweitzers weitreichende Verantwortungskonzeption die Menschen<br />
(vgl. Günzler 1990, Wolf 1993). Infolgedessen hält sich auch seine<br />
philosophische Rezeption bisher sehr in Grenzen.<br />
Am ehesten wurde Schweitzers Ethik noch von solchen Theologen,<br />
Philosophen und anderen Geisteswissenschaftlern zur Kenntnis genommen,<br />
die seit Jahrzehnten um eine Integration auch der nichtmenschlichen<br />
Natur in die ethische Reflexion bemüht sind (Altner<br />
1991; von der Pfordten 1994 sowie die versammelten Namen in Altner<br />
et al. 2005; Brüllmann/Schützeichel 1995; Günzler et al. 1990;<br />
Hauskeller 2006;). Daß aber weder der Name des populären Friedensnobelpreisträgers<br />
noch seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben<br />
in den Dokumenten des „Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit<br />
und Bewahrung der Schöpfung“, der vom Ökumenischen Rat
Andreas Woyke<br />
Naturerkenntnis jenseits eines universellen<br />
Naturalismus 1<br />
Das neuzeitliche Verständnis von „Materie“ steht geistesgeschichtlich<br />
in einem engen Zusammenhang mit dem christlichen Gegensatzverhältnis<br />
zwischen Geist und Materie und bildet ein zentrales Bestandstück<br />
jener objektivierenden Naturbetrachtung, wie sie in der neuzeitlichen<br />
Philosophie und Wissenschaft zum Erkenntnisideal erhoben<br />
wird. Im Ausgang von der Cartesischen Philosophie wird „Natur“ auf<br />
das reduziert, was sich an ihr in naturwissenschaftlicher Perspektive<br />
erfahren und erkennen lässt. René Descartes gelangt in der Konsequenz<br />
seines Denkens bereits dahin, diesen Reduktionismus so weit<br />
zu verallgemeinern, dass er ihm ungeschieden unbelebte und belebte<br />
Natur bis zum menschlichen Leib unterwerfen kann. Paul D’Holbach<br />
(1723–1789) und vor allem Julien Offray de La Mettrie (1709–1751)<br />
überbieten diese Konsequenz, indem sie auch spezifisch menschliche<br />
Fähigkeiten wie reflektiertes Denken, selbstbewusstes Fühlen und<br />
freies Handeln auf naturgesetzliche Zusammenhänge zurückführen.<br />
Die von Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft angedeutete<br />
und im Anschluss an ihn von den Vertretern des Deutschen Idealismus<br />
hervorgehobene Kritik an einem rein deterministischen Verständnis<br />
der Natur und dabei insbesondere des Lebendigen kann sich<br />
nicht gegen die wachsende Geltung einer ausschließlich naturwissenschaftlichen<br />
Welterklärung durchsetzen, sodass „Natur“ nur mehr in<br />
ihrem Horizont als legitimer Gegenstand der Betrachtung und Erkenntnis<br />
anerkannt wird. Während eine umfassende Naturalisierung<br />
des menschlichen Geistes und menschlicher Kultur nach wie vor<br />
äußerst kontrovers diskutiert wird, scheint über die Reduktion von<br />
Natur auf naturwissenschaftlich erkannte Natur weitgehend Konsens<br />
zu bestehen.<br />
Im Rahmen der geistesgeschichtlichen Entwicklung wird eine solche<br />
„Naturalisierung“ der Natur im Zeichen naturwissenschaftlicher
Naturerkenntnis jenseits eines universellen Naturalismus 29<br />
Erkenntnis als metaphysischer Gegenentwurf gegenüber der christlichen<br />
Vorstellung einer übernatürlich-göttlichen Ordnung verständlich.<br />
2 Ein solcher metaphysischer Naturalismus steht insofern durchaus<br />
in einem affirmativen Verhältnis zur antiken Idee von der Physis als<br />
umfassendem Horizont alles Seienden, er nutzt diese Bezüge aber vor<br />
allem dazu, die Welterklärung von theologischen Prämissen abzukoppeln.<br />
Das seit dem Mittelalter gebräuchliche Wort „naturalista“ in der<br />
Bedeutung von „Naturforscher“ wird deshalb von christlichen Theologen<br />
insbesondere abwertend gebraucht. Der Bedeutungsverlust des<br />
religiös motivierten Supranaturalismus 3 führt im 20. Jahrhundert zu<br />
einer Verlagerung naturalistischer Positionen in den Bereich der Wissenschaftstheorie,<br />
wobei es in unterschiedlichen Anteilen zu einer<br />
Identifikation mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise und<br />
ihrer universellen Privilegierung kommt. In diesem Sinne definiert<br />
sich moderner Naturalismus nicht über einen philosophischen Begriff<br />
von Natur, der in einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen traditionellen<br />
Bestimmungen und naturwissenschaftlichem Wissen unterschiedliche<br />
Dimensionen ihrer Erfahrung, Erkenntnis und Bedeutung<br />
zu berücksichtigen versucht, sondern über eine einseitige Auszeichnung<br />
naturwissenschaftlicher Methoden zur „only avenue to<br />
truth“. 4<br />
Aktuelle naturalistische Positionen in der Philosophie und den Naturwissenschaften<br />
greifen auf die im Horizont der neuzeitlichen Geistesgeschichte<br />
entqualifizierte und objektivierte Natur zurück und bestätigen<br />
in ihrer programmatischen und begrifflichen Arbeit wie entsprechender<br />
Forschungspraxis, dass Natur heute nichts weiter ist und<br />
bedeutet, als das, was naturwissenschaftliche Theorien über sie zu sagen<br />
haben. Die schlichte, aber auch interpretationsoffene Chiffre naturalistischer<br />
Weltdeutung „Alles ist Natur“ wird also durch die Aussage<br />
ersetzt, dass alles, was ist und sein kann, sich auf das reduziert,<br />
was mit naturwissenschaftlichen Methoden erkannt und in naturwissenschaftlicher<br />
Terminologie gefasst werden kann. Die ältere Aussage<br />
begegnet allenfalls in der ontologischen Hinsicht, dass sich alles, was<br />
ist, auf die physikalische Ebene der Elementarteilchen und fundamentalen<br />
Wechselwirkungen bringen lässt, 5 und der naturgeschichtlichen<br />
Hinsicht, dass alles, was ist und damit auch der menschliche<br />
Geist und seine Geschichte als Resultate evolutionärer Entwicklung<br />
zu begreifen sind. 6 Der Großteil der Versuche, „Naturalismus“ und
Klaus Michael Meyer-Abich<br />
Evolutive Wertsetzung in der Naturgeschichte –<br />
Grundgedanken eines christlichen Pantheismus<br />
Es ist „in neueren Zeiten so weit gekommen,<br />
daß die Philosophie sich des religiösen Inhalts gegen<br />
manche Art von Theologie anzunehmen hat.“<br />
(Hegel 1837, XI 41)<br />
1. Das Aufleben der Elemente und die Lebewesen als Inseln der<br />
Gestaltung in einem Meer zunehmender Unordnung<br />
Blickt man vom Strand der Nord- oder Ostsee auf das Meer, so findet<br />
man sich dort zwischen den Vier Elementen in ihrer traditionellen<br />
Unterscheidung wieder. Man steht auf der Erde als dem reinen Sand,<br />
atmet die Luft und sieht das Wasser im Licht des Sonnenfeuers. Mehr<br />
zum Land hin beginnt wieder die Vegetation. An der Nordsee kommt<br />
zuerst der Queller, der dann allmählich in die weitere Pflanzenwelt der<br />
Quellerdünen – wie sie manchmal heißen – übergeht, an der Ostsee<br />
ist der Grenzbereich schmaler.<br />
Denken wir uns eine dieser Wildpflanzen, wie sie am Strand blüht.<br />
Ihr Umfeld sind die Vier Elemente, aber sie steckt nicht nur zwischen<br />
ihnen im Sand, damit sie nicht umfällt, sondern sie lebt von ihnen –<br />
durch Photosynthese aus Luft und Wasser vermöge der Sonnenenergie<br />
und mit den Mineralien aus dem Boden. Pflanzenfreunde wissen<br />
bereits ohne die naturwissenschaftliche Erklärung, daß Erde, Wasser,<br />
Luft und Licht genau das sind, was eine Pflanze braucht, damit sie gedeiht.<br />
Man kann die Beschreibung, was das Brauchen angeht, aber<br />
auch umkehren. Dann braucht nicht die Pflanze die Elemente, sondern<br />
diese brauchen die Pflanze bzw. ursprünglich nur den Samen,<br />
um miteinander ein Lebewesen zu bilden. So gesehen sind es eigentlich<br />
die Vier Elemente, die in Gestalt der Pflanze aufblühen. Anders<br />
gesagt: Die Pflanze blüht nicht am Strand, sondern es ist der Strand,<br />
der blüht. In ähnlicher Weise leben nicht die Fische im Meer, sondern<br />
es ist das Meer, das zu Fischen aufgelebt ist.
Evolutive Wertsetzung in der Naturgeschichte 41<br />
Das Aufleben der Elemente oder der Materie zu Pflanzen oder Fischen<br />
setzt in diesen Erfahrungen voraus, daß Samen oder befruchtete<br />
Eier schon da waren, um die Elemente zu Lebewesen zu organisieren.<br />
Dies alles, so wie es in unserer Gegenwart geschieht, ist aber ja bereits<br />
das Ergebnis einer langen Naturgeschichte, in der es ursprünglich<br />
weder Lebewesen noch Samen gegeben hat. Die Frage ist also, ob Materie<br />
und Energie auch irgendwann einmal zu Samen und Eiern aufgelebt<br />
sind, so wie es jetzt vermöge der Samen und Eier zu Pflanzen<br />
und Fischen geschieht. Dies ist die Frage nach dem Ursprung des Lebens,<br />
auf die es traditionell drei verschiedene Antworten gibt:<br />
– Die Mechanisten glauben, daß die Lebewesen sich durch Selbstorganisation<br />
der Materie gebildet hätten, und zwar nicht so wie<br />
1828 bei der ersten Harnstoffsynthese, nämlich durch ein Lebewesen,<br />
den Chemiker Friedrich Wöhler, sondern zufällig und von<br />
allein. Alles soll auf Materie reduzierbar sein (Reduktionismus), das<br />
Komplexe auf das Einfache.<br />
– Die Vitalisten halten dies für ausgeschlossen und bestehen darauf,<br />
daß das Leben eine eigenständige Wirklichkeit und nicht aus der<br />
bloßen Materie hervorgegangen sei.<br />
– Die Holisten schließlich glauben weder den Mechanisten noch den<br />
Vitalisten, sondern nehmen an, daß die belebte und die unbelebte<br />
Welt Besonderungen derselben Materie seien.<br />
Diese Gegensätze sind hinsichtlich des Wissens, d. h. epistemisch,<br />
jedoch klarer als hinsichtlich des Seins, d. h. ontisch. Epistemisch ist für<br />
die Mechanisten die Biologie ein Teilgebiet der Physik (und Chemie);<br />
für die Holisten ist umgekehrt die Physik ein Teil – eine „Simplifikation“<br />
(vgl. Adolf Meyer-Abich 1934) – der Biologie, und für die Vitalisten<br />
haben beide Wissenschaften gar nichts miteinander zu tun. Ontisch<br />
ist der Vitalismus immer noch eine eigenständige Position, nach<br />
der das Leben der Materie irgendwie zugeflogen sein muß, aber die<br />
Unterscheidung zwischen Mechanismus und Holismus gerät hier ins<br />
Unbestimmte. Denn die Holisten werden ja nicht behaupten wollen,<br />
daß es in der Naturgeschichte zuerst die Lebewesen gegeben habe und<br />
daß aus ihnen erst im Todesfall die unbelebte Materie entstanden sei.<br />
Die Mechanisten wiederum können nicht bestreiten, daß das Aufleben<br />
der Materie von Anfang an möglich gewesen sei, denn was – ihrer<br />
Meinung nach – wirklich (geworden) ist, muß auch möglich gewesen<br />
sein. Während also die Holisten nicht meinen können, das Leben sei
Karlheinz Gradl<br />
Novalis und die Ordensburg<br />
Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Blicks<br />
„Hätte mich nur das Schicksaal<br />
in irgend eine grosse Gegend<br />
heissen wohnen, ich wollte<br />
mit iedem Morgen Nahrung der<br />
Grosheit aus ihr saugen, wie aus<br />
meinem lieblichen Thal Geduld und Stille.“<br />
J. W. v. Goethe<br />
Am 23. November 1937 erreicht Adolf Hitler mit einem Sonderzug<br />
die am Rand der Allgäuer Alpen gelegene Ortschaft Sonthofen. Ziel<br />
seines Besuchs ist die neu erbaute Ordensburg der NSdAP. In der<br />
Oberallgäuer Nationalzeitung, Ausgabe vom 15. November 1937,<br />
werden die Leser auf den bevorstehenden Besuch des „Führers“ eingestimmt.<br />
„Die Ordensburg Sonthofen ist bereit zum Empfang. Sie ist<br />
in den letzten Jahren als Symbol nationalsozialistischen Wollens aus<br />
dem Allgäuer Boden gewachsen . . . Unsere Landschaft hat sich zum<br />
Empfang mit einer prächtigen Schneedecke geschmückt, die Dorf<br />
und Stadt, Haus und Hof rings um die Burg überzieht. Wenn über<br />
dieser glitzernden Pracht die Sonne noch leuchtet, bieten unsere Berge<br />
und das Tal rings um die Ordensburg, das Herz unserer Landschaft,<br />
ein unvergessliches Bild.“<br />
Hinter solcher Hochgestimmtheit steht ein durchaus authentisches<br />
Gefühl der Verbundenheit mit Heimat und Landschaft. Für den Autor<br />
bedeutet der Blick auf die „Burg“ eine Steigerung dieses Gefühls.<br />
Mit dieser Blickperspektive erreicht er, so scheint es, eine höhere<br />
Wahrnehmungsebene, die ihm ein neues Bewusstsein von Gemein-
schaft vermittelt: Es ist etwas aus dem Boden der Heimat „gewachsen“<br />
und hat sich denen, die Augen haben, es zu sehen, als Ausdruck eines<br />
höheren Willens geoffenbart. Im Blick auf die „Burg“ erschließt sich<br />
die Welt als ganze, sinnvermittelt von der Vergangenheit her in eine<br />
problemfreie, weil von höherer Hand gelenkte Zukunft hinein verlaufend.<br />
Dieses etwas in den Blick bekommen zu wollen, ist charakteristisch<br />
für eine Art der Weltwahrnehmung, die heute vielleicht mehr<br />
denn je im Bewusstsein vieler Menschen verankert ist. Im romantischen<br />
Blick auf die Welt bekundet sich die Sehnsucht nach dem geoffenbarten,<br />
dem ewig gültigen Sinn.<br />
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts existiert die Sehnsucht des Romantikers<br />
nach etwas Ursprünglichem, Unveränderlichem und Zeitlosem,<br />
nach einer sinnvermittelnden Instanz, die nach dem Ende<br />
christlicher Glaubensgewissheit die verlorengegangene Dimension des<br />
Metaphysischen wieder bereitstellen soll. Im „natürlicherweise Gewachsenen“<br />
1 , in der Natur, glauben Romantiker bis heute, diese Instanz<br />
gefunden zu haben. Mit der Wahrnehmung von Natur als Landschaft<br />
verbindet sich seither eine Symbolik, in der die christlich interpretierte<br />
Hoffnung auf Erlösung mitschwingt. Die für das christliche<br />
Weltbild zentrale Unterscheidung von Diesseits und Jenseits (mit der<br />
an sie geknüpften Konsequenz der „Verwirklichung“ von Erlösung im<br />
Bereich des Jenseits), ist hier allerdings nicht mehr gegeben; im individuellen<br />
Bewusstsein des Romantikers rücken Ideal und Wirklichkeit<br />
eng aneinander, der Grenzverlauf wird fließend. Im 20. Jahrhundert,<br />
in den ersten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, wird die Grenze<br />
zum Verschwinden gebracht. Mit dem Erscheinen des „Führers“<br />
rückt Erlösung in sichtbare Nähe: Landschaft verändert sich, Symbolisches<br />
drängt in Reales, Ordensburgen beginnen, aus dem Boden zu<br />
„wachsen“.<br />
Im folgenden sollen Eckpfeiler einer spezifisch deutschen Entwicklung<br />
aufgezeigt werden. Sie beginnt sich vor 1800 in den literarischen<br />
Zeugnissen einzelner zu artikulieren und erreicht nach 1900 im Kollektiv-Bewusstsein<br />
einer Nation ihren „Höhepunkt“.<br />
Romantischer Blick vor 1800: I. Goethe und Novalis<br />
Novalis und die Ordensburg 59<br />
Im Kontext eines von der Aufklärung gestärkten Anthropozentrismus
Hans-Martin Schönherr-Mann<br />
Macht und Wahrheit<br />
Zur Aktualität von Hannah Arendts politischer Philosophie<br />
2003, vor dem Krieg gegen den Irak, behaupteten die britische Regierung<br />
wie die der USA, das Regime Saddam Husseins verfüge über<br />
Massenvernichtungswaffen. Schon die UN-Waffeninspekteure vermochten<br />
das nicht zu bestätigen. Seither verstärkt sich der Verdacht<br />
zunehmend, es habe sich um eine politische Lüge gehandelt, die den<br />
Krieg rechtfertigte. George Bush und Tony Blair erklärten daraufhin<br />
unisono, der Krieg habe die Welt sicherer gemacht und einen üblen<br />
Diktator gestürzt. Braucht sich die Politik also um Wahrheit nicht zu<br />
kümmern? Geht es in der Politik nur um Macht, der offenbar die<br />
Lüge eher als die Wahrheit nützt?<br />
Hannah Arendt bemerkt dagegen 1963 in ihrem Vortrag Wahrheit<br />
und Politik: „Am Ende der zwanziger Jahre (…) wurde Clemenceau<br />
von einem Vertreter der Weimarer Republik gefragt, was künftige Historiker<br />
wohl über die damals sehr aktuelle und strittige Kriegsschuldfrage<br />
denken werden. ‚Das weiß ich nicht‘, soll Clemenceau geantwortet<br />
haben, ‚aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien<br />
fiel in Deutschland ein.‘“ 1<br />
Gibt es Wahrheiten, denen die Politik nicht entgeht, mag sie sich<br />
noch so sehr anstrengen, um die Welt nach dem eigenen oder dem gewünschten<br />
Bilde zurecht zu malen? Das gespannte Verhältnis von Politik<br />
und Wahrheit durchzieht Hannah Arendts Werk. Sie will sich<br />
nicht damit anfreunden, daß Politik als der Ort, wo die Menschen<br />
sich gemeinsam, somit kommunikativ um die öffentlichen Angelegenheiten<br />
kümmern, primär auf Lüge, Manipulation und Täuschung<br />
aufruht.
Macht und Wahrheit 71<br />
1. Die Verdrängung der Tatsachenwahrheit durch totalitäre Ideologien<br />
Aber hat Wahrheit in der Politik überhaupt eine Bedeutung? Logische<br />
oder mathematische Wahrheiten nennt Hannah Arendt Vernunftwahrheiten,<br />
die sich heute gegenüber der Politik weitgehend neutral<br />
verhalten. Als politisch gefährlicher wie gefährdeter erweist sich dagegen<br />
die Tatsachenwahrheit vom Schlage jener Feststellung: 1914 fiel<br />
Deutschland in Belgien ein. Für den, der die deutsche Kriegsschuld<br />
dementieren möchte, sah sich Deutschland dazu gezwungen. Aber<br />
bleibt eine Tatsache nicht eine Tatsache? Das Geschehene läßt sich<br />
doch nicht rückgängig machen! Hannah Arendt bemerkt: „Politisch<br />
aber ist (…) die Scheidung der Tatsachenwahrheiten von der Vernunftwahrheit<br />
von großer Bedeutung. Wir brauchen nur an solch anspruchslose<br />
Richtigkeiten zu denken wie, daß ein Mann namens<br />
Trotzki in der Russischen Revolution eine gewisse Rolle gespielt hat,<br />
die in keinem sowjetrussischen Lehrbuch erwähnt wird, um gewahr<br />
zu werden, daß keine Vernunftwahrheit es mit der Tatsachenwahrheit<br />
an Gefährdung aufnehmen kann. Und da ja Tatsachen und Ereignisse,<br />
die unweigerlichen Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens<br />
und -handelns, die eigentliche Beschaffenheit des Politischen ausmachen,<br />
müssen wir in diesem Zusammenhang an Tatsachenwahrheiten<br />
primär interessiert sein.“ 2<br />
Arendt weist nämlich auf ein Paradox hin: Einerseits sind Tatsachenwahrheiten<br />
zwar politisch nicht widerlegbar. Es sind schlichte<br />
Fakten, Ereignisse, wie sie eben stattgefunden haben. Aber man kann<br />
anders als bei Vernunftwahrheiten dafür keine weiteren einsichtigen<br />
Gründe angeben, warum die Ereignisse stattgefunden haben. Daß<br />
zwei mal zwei nicht fünf ist, das kann man beweisen.<br />
Dagegen bleiben Tatsachen in ihrer unumstößlichen Faktizität Produkte<br />
des Zufalls, hätten sie auch immer anders stattfinden können.<br />
Somit bedürfen sie der Zuschauer als Zeugen und Berichterstatter, z.<br />
B. Homer, der den trojanischen Krieg in seiner Ilias beschreibt. Zeugen<br />
aber können sich widersprechen oder lügen. Indizien kann man<br />
fälschen oder anders interpretieren. Trotzdem gibt es keine Tatsachen,<br />
wenn sie niemand bezeugt, brauchen Politiker wie deren Taten eine<br />
Öffentlichkeit, die diesen Beachtung schenkt, Journalisten und Historiker,<br />
die das festhalten, was am politischen Geschehen bedeutend<br />
oder gar wegweisend historisch ist. Arendt schreibt in ihrem philoso-
Hans-Eckehard Bahr<br />
Zur Philosophie des Verzeihens<br />
Hannah Arendt hatte in ihrem Hauptwerk „Vita activa“ (Stuttgart,<br />
1960) gezeigt, dass gerade die frühchristliche Agape der antiken Weltangst<br />
Pari bieten konnte. Die Agape in der Spielart des Verzeihens.<br />
Verzeihen können, sichversöhnenwollen, vergeben – so kommt nach<br />
Hannah Arendt auch die aufs Letzte gerichtete messianische Hoffnung<br />
herunter auf die Erde.<br />
Wie aber wird Versöhnung unter tödlich Verfeindeten möglich?<br />
Vom bloßen Bekennen eigener Schuld geht nicht genügend Kraft aus<br />
für die Überwindung von Kränkung und Unrecht und – für den<br />
Schritt ins Freie, in eine bereinigte Zukunft. Das gesellschaftliche Leben<br />
bliebe stecken im Bann der vergangenen Taten, wenn Menschen<br />
sich nicht ständig von deren Folgen durch Verzeihen befreien würden.<br />
Vergebung erst macht das Handeln frei zu neuen Aktivitäten. „Nur<br />
durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten … können Menschen<br />
… auch in der Welt frei bleiben“, betont Hannah Arendt, „und<br />
nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und<br />
neu anzufangen, werden sie instandgesetzt, ein so ungeheures und ungeheuer<br />
gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens<br />
einigermaßen zu handhaben“ (S. 234).<br />
Das scheint ein durch und durch vernünftiges, jedermann mögliches<br />
Handeln zu sein. Aber sehen wir nicht, dass gerade die großen gewaltorientierten<br />
Systeme unfähig zum Verzeihen sind? Weder die politische<br />
Rechte Israels noch die der Vereinigten Staaten, geschweige<br />
denn die fanatisierten Islamisten vergeben ihrem politischen Gegner.<br />
Im Gegenteil. Sie scheinen nur die Rache zu kennen. Der Macht des<br />
Verzeihens misstrauen sie. Und sind daher auf tragische Weise außerstande<br />
zu einem genuinen Neuanfang. Sie sind quasi an die Kette der<br />
bösen Taten gelegt, können nur reagieren, aber nicht mehr frei und<br />
neu agieren. „Die Freiheit, welche die Lehre Jesu in dem Vergebet einander<br />
ausspricht, ist … die Befreiung von Rache, die, wo sie das Han-
92 Hans-Eckehard Bahr<br />
deln wirklich bestimmt – die Handelnden an der Automatisierung eines<br />
einzigen … Handlungsprozesses bindet, der von sich aus niemals<br />
zu einem Ende zu kommen braucht.“<br />
Was Hannah Arendt zu erwähnen unterlässt, ist allerdings die alle<br />
diese Handlungsabläufe erst begründende Hoffnung der frühen<br />
Christen, dass Gott selbst die Gerechtigkeit im Geschichtsprozess<br />
doch noch bewirken wird. „Die Rache ist mein, spricht der Herr“,<br />
heißt der entscheidende Satz schon im Alten Testament. Wer das<br />
nicht hofft, muss selber als militanter Rächer auftreten, muss eine „dynamische“<br />
Politik gegenüber dem Islam führen, so wie es derzeit in der<br />
evangelikal religiösen Begründung der Anti-Terror-Politik Washingtons<br />
heißt. (Vgl. dazu mein „Erbarmen mit Amerika. Deutsche Alternativen“,<br />
Berlin, 2004).<br />
Das heutige Europa basiert, im dimensionalen Unterschied zu diesem<br />
paranoischen Weltgefühl, eben auf der Erfahrung gelungener<br />
Friedensschlüsse unter System-Gegnern, auf der überwältigenden Erfahrung<br />
gelungener Versöhnung unter Todfeinden. Die genaue Erinnerung<br />
an solche Gegenkräfte der Versöhnung wäre momentan vielleicht<br />
nicht unwichtig.<br />
Versöhnung als Politik-Kategorie<br />
Was hat seinerzeit Russen und Deutsche nach den unvorstellbaren<br />
Gewalttaten beider Seiten überhaupt zu einem neuen Kommunikationsversuch<br />
befähigt? „Das Gemeinsame ist die ungeheure Größe der<br />
Opfer, die beide Länder gebracht haben“, war Heinrich Bölls Antwort.<br />
Und Lew Kopelews Replik: „Das gemeinsame Denken, die gemeinsamen<br />
Opfer, die gemeinsamen Leiden – das soll uns vereinigen.“<br />
Das war die innere Voraussetzung der neuen deutschen Ostpolitik<br />
vor dreißig Jahren. Eine Erfahrungsregel, die für alle Zerwürfnisse<br />
zwischen Völkern gilt: Versöhnung zwischen ihnen kann nur gelingen,<br />
wenn beide Seiten die Leidensgeschichten des jeweils anderen anerkennen,<br />
eben das, was heute partout von radikalen Islamisten und<br />
US-Bellizisten abgelehnt wird. Die heutige Identität Europas beruht<br />
demgegenüber vornehmlich auf zwei langwierigen Heilungsprozessen:<br />
auf der Aussöhnung Frankreichs mit Deutschland und auf den
<strong>Rainer</strong> <strong>Landvogt</strong><br />
Vom übermittelten Gruß<br />
Harmloses<br />
Über Harmloses wird wenig nachgedacht. Was „einen schaden nicht<br />
mit sich führ[t]“, wie das Deutsche Wörterbuch das Harmlose beschreibt<br />
1 , das, so meint man, wird auch einen denkerischen Gewinn<br />
nicht bei sich haben. Ganz gemäß der etwa das pekuniäre Investment<br />
beherrschenden Logik, nach der die Höhe des Risikos die der möglichen<br />
Rendite bestimmt. In der Tat ist der Prestigezuwachs durch die<br />
Beschäftigung mit einem harmlosen Gegenstand wahrscheinlich<br />
gleich null – wenn nicht gar ein ,negativer‘. Erwägt der Intellektuelle,<br />
sich mit Harmlosem zu befassen, kann ihn so leicht die Sorge befallen,<br />
sich unter sein Niveau zu begeben; er nennt das Harmlose deswegen<br />
lieber gleich Triviales oder Banales. Doch vielleicht kaschiert solche<br />
Sorge nur ein Zurückschrecken vor der Mühe, die es macht, etwas so<br />
schwer Greifbares zu fassen und zu erfassen. Harmloses nämlich ist im<br />
Wortsinne unerheblich: Es läßt sich nicht auf die Höhe erheben, auf<br />
der gemeinhin Erkenntnisse gewonnen werden. So muß der Geist sich<br />
denn, wenn er einem harmlosen Gegenstand begegnen will, mühevoll<br />
zu ihm hinabbeugen.<br />
Machen wir einmal den Versuch und wenden uns einer fast nicht<br />
mehr bewußt wahrgenommenen sozialen Alltagsroutine zu, wie sie<br />
(noch) zur zivilisatorischen Konvention gehört: dem, was wir wahrscheinlich<br />
ebenso häufig bereits zu hören oder zu lesen bekommen wie<br />
selbst zu hören oder zu lesen gegeben haben: dem übermittelten<br />
Gruß. Wenig ist denkbar, das als so unschädlich und unschuldig –<br />
eben harmlos – erlebt wird wie der Gruß, den ich jemandem durch einen<br />
Mittelsmann bestellen lasse oder den ich selbst jemandem schriftlich<br />
sende. „Richte Z Grüße von mir aus“, sage ich etwa zu Y, und der,<br />
wenn in Kontakt mit Z, läßt diesen wissen: „X läßt dich grüßen.“<br />
Oder ich schreibe an Z und schließe mit: „Herzliche Grüße – X“.
Das Erstaunliche an diesen Vorgängen ist, daß der Aufwand der<br />
Übermittlung einem Übermittlungsobjekt dient, das völlig leer ist.<br />
Denn zwar werden die Worte Grüße bzw. grüßen von dem, dem sie<br />
gelten, durchaus gehört bzw. gelesen, doch was sie ihm, dem Adressaten,<br />
vermitteln, ist – nichts.<br />
Wenn Grüßender und Gegrüßter zugleich am gleichen Ort sind,<br />
bedienen sie sich aus dem Repertoire der in unserer Kultur geläufigen<br />
Gesten der Begrüßung 2 , vom Zunicken und/oder Zulächeln über das<br />
Heben der Hand, das Lüften der Kopfbedeckung oder Tippen an die<br />
Hutkrempe bis zum Handschlag. Dazu treten begleitend verbale Floskeln,<br />
eine aktuelle Bestandsaufnahme nennt als verbreitetste, neben<br />
„Guten Morgen“, „Guten Abend“ und „Guten Tag“: „Grüß Gott“,<br />
„Servus“, „Ciao“, „Hallo“ und „Hi“. 3<br />
Wenn man die erwähnten Worte oder ähnliche gesagt und/oder die<br />
erwähnten Gesten oder ähnliche ausgeführt hat, dann hat man ohne<br />
Zweifel gegrüßt. Ob die sprachliche Komponente dieser Grüße im<br />
strengen Sinne (noch) eine Bedeutung oder Reste davon transportiert,<br />
ist dabei hier nicht von Belang; es darf zumindest bei „Hallo“, „Hi“<br />
und ähnlichem bezweifelt werden.<br />
Unverknotbar loses Ende<br />
Vom übermittelten Gruß 99<br />
Erfolgen Grüße nicht unmittelbar, sondern werden sie übermittelt,<br />
schrumpft allerdings ihr gestischer und verbaler Variantenreichtum<br />
zusammen auf seinen Oberbegriff Gruß/grüßen, und bloß dieser wird<br />
nun, im Medium der Sprache, mitgeteilt. 4 Man übermittelt eben<br />
nicht – bzw. nur dann, wenn man sich bewußt von der Konvention<br />
entfernen will – einen Gruß in der Form: „X wünscht dir einen guten<br />
Morgen“, „Ein Hallo von X“ oder gar „X lüftet seinen Hut vor dir“.<br />
Vielmehr heißt es konventionellerweise: „Ich soll dir einen Gruß von<br />
X bestellen“ oder ähnlich. Und man selbst sendet schriftlich ebenfalls<br />
explizit „Grüße“ (meist mit einem Attribut versehen) oder verwendet<br />
das Verb grüßen („Ich grüße recht herzlich“); hier würde man nur völlig<br />
außerhalb der Konvention als Gruß etwas schreiben wie „Ich lächle<br />
Ihnen freundlich zu“.<br />
Der übermittelte Gruß bedient sich also nahezu ausschließlich des<br />
Substantivs Gruß/Grüße oder des Verbs grüßen. Was diese Worte mei-
Burkhard Liebsch<br />
Zur Wiedergewinnung der Trauer<br />
Trauer als Quelle politischer Sensibilität? Eine Skizze<br />
Dass man die Toten beerdigt hat, gilt als eines der ältesten Zeugnisse<br />
menschlicher Kultur. Aber es ist keineswegs sicher, dass die in der archäologischen<br />
Arbeit zutage geförderten Relikte des Zeremoniells, das<br />
in vielen Fällen der Beerdigung vorausgegangen sein mag, in erster Linie<br />
auf eine ursprünglich mit dem Tod Anderer verknüpfte Trauer<br />
hindeuten. Dominierte nicht vielmehr die Hoffnung auf eine Fortsetzung<br />
des Lebens anderswo, die Idee einer Reise in eine jenseitige Welt,<br />
wo der Wunsch, die Verlorenen wiederzugewinnen, und die Sehnsucht<br />
nach Unsterblichkeit ans Ziel gelangen würden? In einer vor allem<br />
auf letzteres abstellenden Thanatologie wird die Trauer allenfalls<br />
nebenher genannt. Erwähnt werden als Gegenstände einer Kulturgeschichte<br />
des Todes Todesbilder und Todesriten, Jenseitsvorstellungen,<br />
Unsterblichkeitsbegriffe und Grabdenkmäler usw. Selbst im Trauerritus<br />
geht es in der Perspektive dieser Thanatologie gar nicht so sehr um<br />
Trauer als vielmehr um den Eintritt in ein von der Zeit und von irdischer<br />
Gewalt nicht mehr anfechtbares Leben in „ewiger Geborgenheit“.<br />
1 Dieses überaus wirkungsmächtige Motiv hat die Trauer weitgehend<br />
in den Hintergrund gedrängt. Die Trauer kommt in einer thanatologischen<br />
Perspektive auch deshalb nur schwer zu Geltung, weil<br />
sich kulturgeschichtliche Untersuchungen in jedem Falle nur auf<br />
Äußerungsformen des „Trauerverhaltens“, auf dessen Objektivierungen<br />
und hinterlassene Relikte beziehen können. Selbst in den überlieferten<br />
Quellen und Relikten finden sich allenfalls Spuren der Trauer,<br />
deren leibhaftiges Geschehen nicht mehr direkt zugänglich sein kann.<br />
Die Trauer selbst bleibt in ihnen weitgehend unsichtbar.<br />
Schließlich wurde die Trauer auch durch Sitten und Institutionen<br />
zum Verschwinden gebracht, die eine konventionelle Beendigung der<br />
Trauer verlangten. Sie sollte endlich aufhören, um die Trauernden<br />
wieder möglichst uneingeschränkt lebensfähig werden zu lassen. Die
Zur Wiedergewinnung der Trauer 109<br />
Trauer wurde als Ausnahme von der Regel normalen, trauerlosen Lebens<br />
zugelassen, im Übrigen aber befristet. Nach dem Ablauf des<br />
Trauerjahres, dessen konventionelle Bedeutung in der Gegenwart bereits<br />
weitgehend geschwunden zu sein scheint, war es nicht nur erlaubt,<br />
sondern auch geboten, Zeichen der Trauer aus dem Raum öffentlicher<br />
Sichtbarkeit zu verbannen. So war man vom Zwang, den<br />
Toten gegenüber noch eine besondere Treue zu demonstrieren, ebenso<br />
entlastet wie vom Verdacht des Verrats ihnen gegenüber, wenn man<br />
sich wieder einem unbeschwerteren Leben zuwenden wollte. Gerade<br />
das wurde verlangt umwillen der Überlebensfähigkeit sozialer Lebensformen,<br />
die chronischer Trauer nicht gewachsen sein konnten. 2<br />
Inzwischen hat sich die Trauer von diesem Diktat befreit. Wie der<br />
Tod des Anderen als des Anderen, der nach den Forschungen Philippe<br />
Ariès’ überhaupt erst in der Neuzeit zum Vorschein gekommen ist, so<br />
ist auch die Erfahrung des Verlusts, die man durch ihn erleidet, individuell<br />
zur Geltung gekommen. 3 Und seit dem sich die Trauer aus den<br />
Fesseln der Konventionen im Zuge der Säkularisierung zu befreien begann,<br />
um individuell zum Ausdruck zu gelangen, haben sich die Erscheinungsformen<br />
der Trauer nachhaltig gewandelt. Weitgehend von<br />
der Bildfläche speziell der westlichen Gesellschaften verschwunden<br />
sind Trauer-Phänomene wie die Selbstverstümmelung, die Vermummung<br />
und die rituelle Totenklage. 4 Ob man die Entbindung der Trauer<br />
von konventionellen Formen als Verlust beklagt oder als Befreiung<br />
zu individueller Trauer begrüßt, der Befund selber ist so wenig zu bezweifeln<br />
wie der weitgehende Geltungsverlust der tradierten Sprache<br />
der Trauer.<br />
In den Todesanzeigen bedient man sich zwar nach wie vor konventioneller<br />
Wendungen, aber vor allem die romantische Rhetorik, in der<br />
die Trauer einst auf expressivste Weise zum Vorschein gekommen ist,<br />
spielt kaum noch eine Rolle. Auch in der poetischen Sprache gehört<br />
der „herzzerreißende Schmerz“ ebenso wie das „gebrochene Herz“<br />
scheinbar der Vergangenheit an. Weh, Wehmut und Wehklage scheinen<br />
als Pathosformeln so veraltet wie das Lebewohl oder das Adieu<br />
und das Scheiden, das „weh tut“. Die überlieferte Rhetorik fristet bei<br />
Beerdigungen nur ein kümmerliches Überleben: als Lob des Verstorbenen<br />
(laudatio), als Klage der Hinterbliebenen (lamentatio), als trostspendendes<br />
Schlusswort (consolatio). Die früher übliche Ermahnung<br />
für die eigene Zukunft der hinterbliebenen Sterblichen (exhortatio)
Manfred Osten<br />
Erinnern in einer Gesellschaft des Vergessens<br />
Auf die Frage, was Dichtung sei, hat Goethe lakonisch geantwortet:<br />
„Zierlich denken, süß erinnern ist das Leben im tiefsten Innern.“ Es<br />
ist dieses Erinnern der durch die Dichtung gestifteten In-Bilder in<br />
uns, das auch im berühmten Verdikt Hölderlins gegenwärtig ist: „Was<br />
aber bleibet, das stiften die Dichter.“<br />
Womit sich die Frage stellt, was „aber bleibet“ heute von dem, was<br />
die Dichter stiften und gestiftet haben? Was bleibt hiervon in einer<br />
Gesellschaft, die der Ägyptologe und Gedächtnisforscher Jan Assmann<br />
definiert hat als eine „Gesellschaft des Vergessens“? Eine Feststellung,<br />
deren Tragweite sich eigentlich erst erhellt vor dem Hintergrund<br />
der Einsicht Kiergegaards: „Das Leben wird zwar nach vorwärts<br />
gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden.“<br />
Daß eines Tages das Leben nur noch nach vorwärts gelebt, aber<br />
nicht mehr nach rückwärts verstanden werden könnte, hat schon früh<br />
der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer prophezeit. 1848<br />
hatte er über die „neuere Bildung“ notiert, daß sie die folgenden<br />
Schritte tun werde: „Von der Humanität über die Nationalität zur<br />
Bestialität“. Grillparzer hatte noch Goethe in Weimar besucht zu einer<br />
Zeit, als dieser schon selber damit beschäftigt war, die Folgen einer<br />
gedächtnislosen Fortschritts-Idolatrie zu antizipieren. Und dies vor<br />
allem im II. Teil seiner Faust-Tragödie: Faust, der hier bereits im Hinblick<br />
auf die Schleifspur seiner Untaten Orgien des Vergessens feiert,<br />
agiert im fünften Akt als Protagonist eines modernen Vergangenheitshasses.<br />
Er eliminiert die „Überreste des Altertums“, die Goethe verstanden<br />
hatte als letztes Bollwerk gegen eine gedächtnislose Barbarei:<br />
Er läßt die beiden Alten, Philemon und Baucis, auslöschen. Mit der<br />
Konsequenz, daß hierbei auch die mit der alten Gedächtniskultur verschwisterte<br />
Metaphysik ausgelöscht wird: Der unerkannt unter den<br />
Menschen wandelnde Göttervater Zeus, der bei Philemon und Baucis<br />
Gastrecht genoß, wird ebenfalls ermordet.
124 Manfred Osten<br />
Goethe hat früh am Beispiel des Vergangenheitshasses der Französischen<br />
Revolution und der nachfolgenden Säkularisation bemerkt, daß<br />
das kulturelle Gedächtnis sich im Umbau befand. Hiervon kann heute<br />
nicht mehr die Rede sein in einer Zeit, in der derjenige Historiker<br />
ist, der die Tageszeitung von gestern gelesen hat. Die Inflation der Zeitungen<br />
und Journale und deren zunehmende Dominanz als Speicher-<br />
Medium für ein noch nur „von Tag zu Tage“ lebendes Kurzzeitgedächtnis<br />
waren schon Goethe bekannt. Er ahnte die Folgen dieses rapide<br />
sich verkürzenden Gedächtnisses und hat sie auf die Formel<br />
gebracht: „Nichts entsetzlicheres als tätige Unwissenheit.“ Eine „Unwissenheit“,<br />
die verschränkt ist mit einem beginnenden Paradigmenwechsel<br />
des Bildungsbegriffs. Bildung als gedächtnisgestützte Urteilskraft<br />
verwandelte sich bereits im 19. Jahrhundert zunehmend in Ausbildung<br />
im Sinne eines raschen herkunfts- und gedächtnislosen<br />
Erwerbs von Zukunftskompetenz im Zeichen jenes „nationalökonomischen<br />
Dogmas“, das Nietzsche 1872 dann in seinen Vorlesungen<br />
zur „Zukunft unserer Bildungsanstalten“ als Ursache des Elends der<br />
modernen Erziehung bezeichnen wird. Soweit Bildung noch gedächtnisorientierte<br />
Inhalte vermittelte, zielte sie jedenfalls nicht auf Bildung<br />
der Persönlichkeit, sondern auf die zusammenhanglose oder nur noch<br />
berufsorientierte Anhäufung von Wissen. Hinzu kam die Verkürzung<br />
des historischen Bewußtseins im Sinne der Romantik auf die nationale<br />
Geschichte mit der fatalen Folge der Reichsgründung 1871 auf den<br />
Bajonetten des Militärs im Spiegelsaal von Versailles.<br />
Die barbarischen Traditions- und Gedächtnisbrüche der beiden<br />
Weltkriege, der Bücherverbrennung von 1933 und der Liquidation<br />
der bürgerlichen Gedächtniskultur in der Folge der 68er Revolte sind<br />
bekannt. Hinzu kommt das historische Kurzzeitgedächtnis mit dem<br />
Jahr 1945 als „Stunde null“ und der zunehmende Legitimationsdruck<br />
aller gedächtnisgestützten Phänomene und der zugehörigen Institutionen<br />
(Geisteswissenschaften, Kultur, Humanität, Gemeinsinn, Religion,<br />
Sekundärtugenden etc.) vor dem globalökonomischen Richtstuhl<br />
einer zur Ideologie geronnenen Betriebswirtschaftslehre rein<br />
monetärer Kosten-Leistungsrechnungen.<br />
Die damit verbundenen erosionsartigen Transformationen des kulturellen,<br />
nationalen und individuellen Gedächtnisses sind begleitet<br />
und gefördert durch eine Transformation nicht nur der Gedächtnisinhalte,<br />
sondern der Speicher des Gedächtnisses im Sinne einer zuneh-
Gernot Böhme<br />
Europa wird vom Gehirn gehalten,<br />
vom Denken . . . 1<br />
Oder: Was ist von Kultur zu erwarten?<br />
I. Die Adorno-These<br />
Der Terminus Kultur wird in mindestens zweierlei Bedeutung verwendet.<br />
Erstens bedeutet Kultur einen besonderen Bereich gesellschaftlicher<br />
Produkte, nämlich den künstlerischen. Unter Kultur wird<br />
dann also verstanden das Ensemble von Literatur, Musik, bildenden<br />
Künsten und häufig auch Wissenschaft und Philosophie. Es werden<br />
aber nicht nur die Produkte selbst als Kultur bezeichnet, sondern auch<br />
deren Gebrauch und der institutionelle Zusammenhang, in dem Produktion<br />
und Gebrauch dieser Produkte sich abspielen: Museen, Universitäten,<br />
Konzerthäuser etc.<br />
Kultur wird aber auch in einem bedeutend weiteren Sinne verwendet,<br />
nämlich zur Bezeichnung der Gesamtheit der symbolischen<br />
Strukturen (Cassirer) bzw. konventionellen Verhaltensmuster einer<br />
Gesellschaft. Beide Verwendungsweisen implizieren einen Bezug auf<br />
die Herkunft des Ausdrucks Kultur aus dem Lateinischen, in dem Kultur<br />
mit Pflege und Bildung zu tun hat. Mag diese Pflege und Bildung<br />
ursprünglich auf die Aufzucht von Pflanzen und Tieren bezogen gewesen<br />
sein, wie heute noch in dem Ausdruck Agrikultur, so bezeichnet<br />
Kultur heute wesentlich die Pflege und Bildung, die der Mensch sich<br />
selbst angedeihen lässt. Kultur tritt hier in einen charakteristischen<br />
Gegensatz zu Natur. Die Kultur des Menschen ist die Bildung, durch<br />
die er sich aus dem rohen – und rückblickend als barbarisch bezeichneten<br />
– Naturzustande erhebt. Das ist der Sinn, den Kultur durch die<br />
Aufklärung seit dem 17. und 18. Jahrhundert in Europa angenommen<br />
hat. Prägend für diese Auffassung von Kultur waren Hobbes,<br />
Rousseau, Comenius, Kant. Diese Auffassung von Kultur erfuhr noch
Europa wird vom Gehirn gehalten, vom Denken . . . 129<br />
eine weitere Spezifikation durch den Humanismus derart, dass sich<br />
die Kultivierung des Menschen wesentlich in und mit einer Auseinandersetzung<br />
der Produkte der klassischen Antike vollziehe. Anfänge zu<br />
dieser Auffassung finden sich bereits im Humanismus der Renaissance,<br />
beispielsweise bei Ficino, in der Aufklärung dann bei Lord<br />
Shaftesbury und – für Deutschland prägend – bei Friedrich Schiller<br />
und Wilhelm von Humboldt.<br />
Wir müssen uns nun mit der These auseinandersetzen, dass Kultur<br />
genau in diesem zuletzt genannten Sinne gescheitert sei, nämlich als<br />
Bildung des Menschen zum Menschen durch den Umgang mit Produkten<br />
der klassischen Kultur. In schneidender Weise ist diese These<br />
von Theodor W. Adorno in seinem Buch Negative Dialektik formuliert<br />
worden:<br />
„Auschwitz (hat) das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen.“<br />
2<br />
Dieser Satz ist und war als solcher schrecklich und schockierend.<br />
Auschwitz steht in Adornos Rede als herausgehobenes Faktum für alles,<br />
was man im 20. Jahrhundert – von den Konzentrationslagern über<br />
Folter, Menschenexperimente bis hin zur Menschenvernichtung – als<br />
Rückfall in die Barbarei bezeichnet hat. Sie ist Ausdruck des Erschreckens<br />
darüber, dass so etwas in zivilisierten Nationen passieren<br />
konnte, wie auch Kritik daran, dass man in Reaktion auf diese Ereignisse<br />
nach 1945 ausgerechnet eine Rückkehr zu den Traditionen des<br />
Humanismus gefordert hat. In beidem – dem Erschrecken über den<br />
Einbruch der Barbarei, wie in dem Ruf nach einer Erneuerung des<br />
Humanismus – wurde offenbar unterstellt, dass Kultur im Sinne humanistischer<br />
Kultivierung hätte Geschehnisse wie Auschwitz verhindern<br />
müssen. Dass das nicht nur eine Sicht der kritischen Beobachter,<br />
wie beispielsweise Adornos, war, möchte ich an einer Äußerung zeigen,<br />
die sich in dem Bericht einer Betroffenen findet. Ruth Klüger zitiert<br />
in ihrem Buch Weiter leben, ihrer Auseinandersetzung mit ihren<br />
Erfahrungen in Konzentrationslagern, eine Frau, die noch in Auschwitz<br />
nicht glauben wollte, was doch vor ihren Augen lag:<br />
„Da war die Studienrätin, die nach ihrer Ankunft in Auschwitz und<br />
angesichts der rauchenden, flammenden Kamine mit Überzeugung<br />
dozierte, dass das Offensichtliche nicht möglich sei, denn man befinde<br />
sich im 20. Jahrhundert und in Mitteleuropa, also im Herzen der<br />
zivilisierten Welt.“ 3
Günter Altner<br />
Albert Einstein und Albert Schweitzer<br />
Vorkämpfer für eine nachhaltige Weltkultur<br />
Die beiden Zeugen einer bis in unsere Tage reichenden Friedensbotschaft<br />
und Friedenskultur waren trotz ihrer verschiedenen Biographien<br />
wie zwei Brüder, die in ihrem bizarr-zeitlosen Erscheinungsbild als<br />
alte Männer auch so wahrgenommen wurden. Dabei waren sie so verschieden.<br />
Der Eine ein wissenschaftliches Genie, das das Weltbild der<br />
klassischen Physik zu Fall brachte, aus liberal-jüdischem Elternhaus.<br />
Der Andere, ein großer Theologe, der mit seiner Ethik der Ehrfurcht<br />
die Grenzen der abendländischen Theologie, aber auch die Grenzen<br />
Europas überschritt, ein Sprössling aus einem elsässischen Pfarrhaus.<br />
Hatten die beiden in ihrem Leben viel miteinander zu tun? Verfolgten<br />
sie die gleiche Botschaft? Was waren ihre tieferliegenden Antriebe und<br />
Absichten?<br />
Wenn man von den biographischen Tatsachen ausgeht, erscheinen<br />
die Kontakte zwischen beiden eher spärlich: Zwischen 1948 und 1955<br />
wechselten Schweitzer und Einstein fünf freundschaftliche Briefe.<br />
Außerdem gab es eine Kurzwürdigung zu Schweitzers 75. Geburtstag<br />
aus der Feder Einsteins und einen Geburtstagsgruß zu Schweitzers 80.<br />
Ein Besuch Schweitzers in Princeton schlug fehl. In den Jahren 1929<br />
und 1932 kam es zu kurzen Treffen in Berlin und Oxford. Ob sie da<br />
gemeinsam musizierten? Als Einstein 1955 in Princeton verstarb, ging<br />
damit – neben allen wissenschaftlichen Glanzleistungen – das Leben<br />
eines großen Friedenskämpfers zu Ende. Hingegen war es Albert<br />
Schweitzer beschieden, im letzten Abschnitt seines Lebens bis zu seinem<br />
Tode 1965 die Rolle des weltweiten Friedensmahners zu übernehmen.<br />
Er, der in seiner Arbeit für das Tropenhospital in Lambarene<br />
durch Jahrzehnte Unendliches geleistet hatte, fand nun als alter Mann<br />
noch die Kraft, in Rundfunkappellen die Weltöffentlichkeit zum Frie-
Albert Einstein und Albert Schweitzer 149<br />
den zu mahnen: 1954 Nobelpreisrede, 1957 und dann drei Mal in<br />
1958 sprach er über den Sender Oslo über die atomare Kriegsgefahr.<br />
Die beiden waren also über Jahrzehnte eigene Wege gegangen, wußten<br />
seit den späten zwanziger Jahren voneinander, aber erst in den<br />
fünfziger Jahren fanden sie zu gemeinsamen Tun. Nur in einem ganz<br />
unzureichenden Stakkato können wir die beiden Lebenslinien an uns<br />
vorüberziehen lassen. Und dies vor allem mit der Absicht, die zentralen<br />
Fixpunkte ihrer Lebensbotschaft zu erfassen. Die grundstürzenden<br />
Erkenntnisse in der Physik Einsteins sind vor allem durch die Veröffentlichung<br />
der „Speziellen Relativitätstheorie“ (1905) und der „Allgemeinen<br />
Relativitätstheorie“ (1916) markiert. 1916 war Einstein<br />
schon in seiner privilegierten Stellung an der Preußischen Akademie<br />
der Wissenschaften zu Berlin. Einstein entzieht mit seinen Theorien<br />
die Physik endgültig der unmittelbaren menschlichen Raum-Zeit-Erfahrung,<br />
erschließt aber mit der von ihm eingeleiteten Abstraktion<br />
Wirkungszusammenhänge, die später von weitgreifender praktischer<br />
und politischer Bedeutung werden sollten. Eine der unmittelbarsten<br />
Konsequenzen aus dem Relativitätsprinzip beinhaltet die Formel E =<br />
m c 2 , Energie = Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat. Auf dieser<br />
Grundlage wurde die von Hahn und Meitner zuerst vollzogene<br />
Kernspaltung erklärbar mit allen energetischen Konsequenzen, die<br />
sich daraus ergaben und schließlich zum Bau der Atombombe führten.<br />
Einstein hat zeit seines Lebens versucht, den von ihm eingeleiteten<br />
Umbruch in ein neues physikalisches Weltbild durch eine einheitliche<br />
Feldtheorie zusammenzufassen, vergeblich. Dazu legte er 1923 eine<br />
erste Veröffentlichung vor. Viele weitere Entwürfe sollten folgen, bis<br />
die wissenschaftlichen Kollegen sie nicht mehr ernst nahmen. Diese<br />
Absicht, ein geschlossenes, und d. h. deterministisches Gesamtkonzept<br />
vorzulegen, scheiterte nicht zuletzt an der Quantentheorie, die<br />
von Niels Bohr und seinen Freunden vorangetrieben wurde und in die<br />
Erkenntnis mündete, daß es über den Ablauf von Quantenprozessen<br />
keine objektive Voraussage geben kann. Oder mit Jürgen Neffe: „Die<br />
Quantentheorie weist den Determinismus in seine Schranken“. 1<br />
Einsteins naturwissenschaftliche Leistungen provozieren an zwei<br />
markanten Punkten die tieferliegende Sinnfrage. Und Einstein hat<br />
sich immer diesen Herausforderungen gestellt. Konsequenter Pazifist,<br />
der Einstein war, hat der dennoch – aus der Befürchtung, die Nazis
Christof Stählin<br />
Die Freiheit, als eine schöne Kunst betrachtet<br />
„Die Göttin Freiheit hat im Olymp ihren eigenen Thron. „Warum“,<br />
sagte sie einmal, und stand von ihrem Thron auf, „warum steigen die<br />
Opferwolken von der Unterwelt so sparsam zu mir empor? ... Ich will<br />
zur Erde hinab und meine Altäre selbst aufsuchen. Begleite mich,<br />
Schwester Gerechtigkeit, und du, Schwester Tugend!“ Sie flammten<br />
wie die Morgenröten herunter.“<br />
Das schrieb der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart im<br />
Jahr 1776 in der „Deutschen Chronik“. Der Fortgang dieses Märchens<br />
ist, daß die Freiheit ihre Altäre an den Fürstenhöfen natürlich<br />
nicht findet, wiewohl sie dort wegen ihrer Schönheit als Maitresse hätte<br />
ihr Glück machen können. Beim Volk aber, das nach „Freiheit wiehert“,<br />
trifft sie nur auf Laster und Zügellosigkeit, worauf sie sich mit<br />
ihren sanften Gefährtinnen in die „freien Staaten“ aufmacht, um dort<br />
erneut enttäuscht zu werden. An die Freiheit, die wie eine Morgenröte<br />
vom Himmel herunterflammt, mag man sich erinnern bei allem,<br />
was in den letzten zehn Jahren in ihrem Namen vom Himmel heruntergeflammt<br />
ist, wenn es sich dabei auch nicht um sie selber, diese „liebenswürdige<br />
Göttin“, gehandelt haben kann.<br />
Im Olymp der alten Griechen hat es nun gar keine Göttin der Freiheit<br />
gegeben, der Dichter hat sie da einfach, kraft ihrer selbst, hineingesetzt.<br />
Wir aber, als Erben der Revolution, die wenige Jahre nach dieser<br />
Tat der Freiheit zum Durchbruch verholfen hat, sind weit davon<br />
entfernt, sie als eine Göttin zu betrachten. Wir haben vielmehr einen<br />
Begriff von ihr. Können nun Begriffe ohnedies den von ihnen bezeichneten<br />
Größen gefährlich werden, weil sie sich gern an ihre Stelle setzen,<br />
so tun sie das bei der Freiheit in besonderem Maß, denn sie setzen<br />
Grenzen und engen ein. Ein Weg, dieser Gefahr zu begegnen, ist<br />
der Kunstgriff, sie mit einem lebendigen Körper auszurüsten.<br />
Das mag kindlich-märchenhaft anmuten. Daß aber die Freiheit et-
Die Freiheit, als eine schöne Kunst betrachtet 161<br />
was Lebendiges sein muß, wenn sie ein demokratisches Staatswesen<br />
beseelen soll, wird auch den engagiertesten Verfechtern von abstrakten<br />
Begriffen auf dem Gebiet des Ideellen einleuchten. Im übrigen<br />
kann man allem eine lebendige Gestalt geben, sogar der Theorie.<br />
Götter und Göttinnen als Stifter der Wirklichkeit haben den Vorzug<br />
ihrer Wandelbarkeit als natürlicher Eigenschaft. Sie sind Stimmungen<br />
unterworfen, können erzürnt und besänftigt werden und also<br />
auch in Widerspruch zu sich selbst geraten, ohne ihre Eigenart aufzugeben.<br />
Daß die Freiheit übrigens im klassischen Olymp gefehlt hat,<br />
hängt mit der Selbstverständlichkeit der göttlichen Freiheit zusammen.<br />
Hätte sie einen eigenen Platz gehabt, so hätte sie sich ganz entgegen<br />
ihrer Natur einer Rangordnung fügen müssen. Als sie dann<br />
doch einmal aufgetaucht ist, zur Zeit der siegreich beendeten Perserkriege<br />
zu Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts war sie eine<br />
Eigenschaft des obersten Gottes Zeus, der als „Freiheitszeus“ besonders<br />
verehrt werden konnte, womit der Freiheit der erste Platz im Mythischen<br />
sicher war, den sie auch in unserer Werteordnung einnimmt.<br />
Hier Begriff, dort Gott, hier etwas, dort jemand, hier unpersonal<br />
und zum Schein begreiflich, dort als Person und entrückt, aber von<br />
tatsächlicher Begreiflichkeit. Es gibt ein Zwischending, die Allegorie.<br />
Sie ist zwar menschengestaltig, steht aber näher bei den Begriffen, weil<br />
man sich mit ihr eine menschliche Erscheinung zur besseren Faßlichkeit<br />
seiner Gedanken hält, weit entfernt davon, sie zu verehren oder<br />
sich ihnen fromm zu unterwerfen. Die Aufklärung, welcher der Gedanke<br />
der Freiheit in der heutigen Form entstammt, verpönt Götter<br />
und Mythen. Allegorien läßt sie gerade noch gelten, Begriffe aber findet<br />
sie göttlich. Wenn es nur kein fühlendes Lebewesen ist, das über<br />
allen steht, sondern ein abstraktes Konstrukt! Schon glaubt der emanzipatorische<br />
Geist, niemandem mehr unterworfen zu sein. Willig<br />
beugt sich der Allmacht der Evolution mit ihren zwangsläufigen Mechanismen,<br />
wer den Glauben an die Existenz eines Schöpfergottes als<br />
Zumutung empfindet.<br />
Aber eben in dem Zwischending der Allegorie begegnet man der<br />
Freiheit als menschlichem Körper, wenn sich darin auch eher ein verkappter<br />
Begriff versteckt als eine steuernde Himmelsmacht. Die Freiheitsstatue<br />
im New Yorker Hafenbecken ist so eine Allegorie, denn als<br />
Göttin hieße sie nicht Freiheits-Statue, sondern schlicht Freiheit. Ein<br />
Schüler, der mit seiner Klasse das Innere des Sinnbildes erklommen
Hans-Joachim Fischer<br />
Entwicklung nach unten denken<br />
Türkische Kirschen<br />
Von den Herausgebern einer Internet-Fachzeitschrift 1 wurde folgende<br />
Problemstellung publiziert: „Im Sachunterricht wurden die unterschiedlichen<br />
Obstsorten behandelt. Im anschließenden Test sollten<br />
die Kinder den jeweils richtigen Namen des Obstes anhand einer entsprechenden<br />
Zeichnung benennen. Ein Mädchen kannte alle Sorten.<br />
Allerdings schrieb sie die Begriffe auf Türkisch neben die Zeichnungen.<br />
Hat sie die Aufgabe gelöst?“<br />
Mit türkischen Studentinnen erörtere ich das Problem. Wir stellen<br />
uns vor, das Mädchen ist noch nicht lange in Deutschland. Zu Hause<br />
in der Türkei stehen Obstbäume im Garten der Großeltern. Im Frühjahr<br />
hat sie die Kirschblüte erlebt als Auftakt zum Blütenreigen des<br />
Obstjahres. Sie hat die abfallenden Blütenblätter gesammelt, um<br />
Muster zu legen. Später hat sie Kirschzwillinge am Ohr getragen. In<br />
der Pflaumenzeit ist sie täglich im Garten gewesen, um von den<br />
dicken Eierpflaumen zu kosten, bevor die länglichen Zwetschgen zur<br />
Reife kamen. Sie weiß, dass man mit unreifen Pflaumen vorsichtig<br />
sein muss, wenn man Bauchweh vermeiden will. Später, in der Apfelzeit,<br />
hat sie mit ihren Freundinnen in den niedrigen, gedrungenen,<br />
buschig ausladenden Ästen des alten Apfelbaumes gesessen. Die Birnen<br />
schmeckten immer etwas holzig und unreif. Aber wenn die Großmutter<br />
sie in Zuckerwasser gekocht und danach in Gläser eingeweckt<br />
hatte, schmeckten sie köstlich. Ganz anders als die Erdbeeren, die<br />
zwar süß, aber matschig und blass aus den Gläsern kamen. Oft hat sie<br />
den Großvater zum Markt in die nahe Stadt begleitet, wo er die Erzeugnisse<br />
seines Gartens feilbot. Sie kannte die Rituale, nach denen<br />
die Preise ausgehandelt wurden, sie kannte die Preise, wusste, dass<br />
man zwei Säcke Äpfel verkaufen musste um dafür den Stoff zu erstehen,<br />
aus dem die Großmutter ein Kleid nähte. Später im Herbst än-
Entwicklung nach unten denken 171<br />
derte sich die Welt. Die Obstblätter leuchteten auf, jedes in seinen<br />
Farben, bevor sie blass wurden. Manchmal ging sie dann in den Garten,<br />
um die welken Blätter abzuschlagen. Vielleicht ließ sich ja die<br />
Zeit beschleunigen, bis wieder neue, frische Blüten und Blätter austreiben<br />
konnten. Alles hatte in dieser Welt seinen Namen. Der Name<br />
hatte einen besonderen Klang. Er roch nach Kirschen, Äpfeln und<br />
Pflaumen, auch nach der Großmutter und dem Zuckerwasser, in dem<br />
die Birnenstücke garten. In den Namen widerhallten die knatternden<br />
Motorengeräusche des Traktors, auf dem das Obst zum Markt gefahren<br />
wurde, auch die geheimen, vertrauten Plaudereien mit der Freundin<br />
im Apfelbaum.<br />
Wir stellen uns vor, das türkische Mädchen sitzt vor seinem Arbeitsblatt<br />
mit den „behandelten“ Obstsorten in der deutschen Schule.<br />
Auf dem Blatt Abbildungen von Kirschen und Pflaumen, daneben ein<br />
Strich. Als der Blick auf die Pflaumen fällt, beginnen sie zu riechen, zu<br />
schmecken. ERIK – ELMA – KIRAZ – ARMUT. Die staubige Hitze<br />
des Marktes, das Klirren der Einmachgläser. Bilder, Namen, Gerüche,<br />
die ins Leben tauchen.<br />
Wir stellen uns vor, nebenan sitzt ein Kind, das nie in einem Apfelbaum<br />
saß, dessen Äpfel in Plastiktüten aus dem Supermarkt geliefert<br />
werden, geschält, geschnitten, entkernt, in der Tupperware-Box aus<br />
dem Ranzen gefrühstückt. Das Kind hat sämtliche Obstsorten auswendig<br />
gelernt. Die Namen hat es fein säuberlich in deutscher Sprache<br />
neben die armseligen Obstbildchen geschrieben.<br />
Die Herausgeber der Internetzeitschrift konnten zufrieden sein.<br />
Ihre Frage fand ein lebhaftes Echo. Die meisten Antworten lauteten<br />
„ja“ oder „nein“ oder zumindest „teils ja – teils nein“. Selbstverständlich<br />
wurden dazu Begründungen geliefert. Jedes Ja, jedes Nein musste<br />
dabei unterstellen, wie immer es auch begründet wurde, dass es ein<br />
Richtig und Falsch gibt, welches in den Dimensionen eines Arbeitsblatts<br />
verortet werden kann: Zum Beispiel in der festgelegten Beziehung<br />
zwischen Namen und Dingen. Der türkische Name ist hier<br />
falsch – in der Türkei wäre er richtig. Oder: Auch hier in Deutschland<br />
ist der türkische Name richtig. Oder: Zumindest übergangsweise ist er<br />
richtig – bis das Mädchen besser deutsch sprechen kann. Oder: Ja,<br />
aber schreib es noch einmal besser auf – nicht jetzt, vor allen anderen,<br />
aber doch später, nach dem Unterricht. Auf jeden Fall bleibt die objektive<br />
Beziehung, die das Arbeitsblatt zwischen Namen und Dingen
Thomas Fuchs<br />
Neuromythologien<br />
Mutmaßungen über die Bewegkräfte der Hirnforschung<br />
In Gottfried Benns Erzählung „Gehirne“ aus dem Jahr 1916 begegnen<br />
wir Dr. Rönne, einem jungen Arzt, der als Pathologe zwei Jahre lang<br />
Gehirne seziert hat. Diese Tätigkeit löst schließlich eine existenzielle<br />
Krise in ihm aus. Er verliert den Kontakt zur Wirklichkeit, und sein<br />
Grübeln kreist nur noch um die Objekte seiner Sektionen:<br />
„Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine<br />
Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten<br />
in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns<br />
so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz<br />
erloschen, den Blick schon in der Nacht: um zwölf chemische Einheiten<br />
handele es sich, die zusammengetreten wären ohne sein Geheiß,<br />
und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen.“ 1<br />
Die Erkenntnis, sich einem solch hinfälligen Gebilde zu verdanken,<br />
stürzt Rönne in eine radikale Selbstentfremdung: Er selbst, der Beobachtende,<br />
Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein<br />
als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie,<br />
die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der Welt des Menschen<br />
nichts zu tun hat. Rönne verliert den festen Boden seiner Existenz und<br />
fällt am Ende in Wahnsinn:<br />
„Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie<br />
ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber<br />
nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war<br />
so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert<br />
– in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens<br />
– in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen<br />
der Schläfe“.
Neuromythologien 185<br />
Rönnes metaphysischer Schwindel scheint der heutigen Hirnforschung<br />
allerdings fremd zu sein. Im Gegenteil: Geradezu mit Eifer<br />
machen sich prominente Neurowissenschaftler daran, Seele, Geist<br />
und Ich als idealistische Gespenster endgültig aus der Welt zu verbannen.<br />
Das Gehirn soll nicht nur der Sitz des Geistes sein, sondern auch<br />
das neue Metasubjekt, der Denker unseres Denkens, der Täter unseres<br />
Tuns, ja der Schöpfer unserer Welt. Schon eine kleine Auswahl einschlägiger<br />
Buchtitel der letzten Jahre belegt diese erstaunliche Karriere:<br />
– „Kosmos im Kopf“ 2<br />
– „Wie das Gehirn die Seele macht“ 3<br />
– „Was die Seele wirklich ist“ 4<br />
– „Bauplan für eine Seele“ 5<br />
– „Die Technik auf dem Weg zur Seele“ 6<br />
– „Aus Sicht des Gehirns“ 7<br />
– „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ 8<br />
– „Das Gehirn und sein Geist“ 9<br />
– „Geist im Netz“ 10<br />
Die enthusiastische Bejahung der Materialität alles Ideellen, die sich<br />
hier bekundet, verkehrt Rönnes metaphysische Verzweiflung ins hypomanische<br />
Gegenteil. Wie es scheint, gewinnt die Hirnforschung<br />
ihre Triebkräfte zu einem erheblichen Maß aus anti-idealistischen und<br />
anti-metaphysischen Affekten. Auch die Öffentlichkeitswirkung der<br />
Neurowissenschaften beruht ja nicht nur auf ihren Erkenntnisfortschritten:<br />
Mit einer Mischung aus Faszination und Schauder verfolgen<br />
wir, wie sie unsere bisherigen psychologischen, anthropologischen<br />
und ethischen Grundannahmen so verwegen in Frage stellen.<br />
Nun sind die eigentlichen Triebkräfte und Motive des wissenschaftlichen<br />
Fortschritts nicht immer leicht zu erkennen, denn seine Protagonisten<br />
geben häufig hehre, aber vordergründige Ziele ihrer Forschungen<br />
an wie das Streben nach Erkenntnis und Wahrheit oder die<br />
Bekämpfung von Leiden und Not. Die Analyse latenter Motive ist<br />
zunächst auf Mutmaßungen angewiesen, die aber Plausibilität gewinnen,<br />
wenn sie das Verständnis für implizite Tendenzen und Zielrichtungen<br />
des Forschungsprozesses eröffnen können. So hat Regine Kollek<br />
anhand der Analyse von Äußerungen amerikanischer Biogenetiker<br />
die Entschlüsselung des menschlichen Genoms als Suche nach dem
Peter Passett<br />
Vom Fetisch der Wissenschaftlichkeit<br />
Zur gegenwärtigen Krise der Tiefenpsychologie<br />
Die Psychoanalyse und noch allgemeiner all jene Schulrichtungen, die<br />
man unter dem Begriff Tiefenpsychologie zusammenfasst, befinden<br />
sich, sowohl was ihre Theorie als auch was deren praktische Anwendung<br />
betrifft, in einer tiefen Krise. Solche Krisen, die mit einer Erschütterung<br />
des Selbstverständnisses der Psychoanalytiker einhergehen,<br />
gehören zwar als zyklisch wiederkehrende Phänomene zur Geschichte<br />
der Psychoanalyse, aber man geht wohl kaum fehl in der<br />
Annahme, dass der seit einem guten Jahrzehnt anhaltende Prestigeverlust<br />
dieser Disziplinen ernsterer Natur ist als frühere Krisen, von<br />
denen man nicht selten den Eindruck hatte, sie hätten letztlich einen,<br />
wenn auch paradoxen, so doch wirksamen PR-Effekt. Wenn heute die<br />
negative Wirkung nachhaltiger ist, dann wahrscheinlich, weil zwei<br />
Ursachen sich gegenseitig verstärken. Zum einen ist da eine radikal<br />
veränderte Situation auf dem Psychotherapiemarkt, der heute heiß<br />
umkämpft ist und auf dem neue Richtungen, die behaupten, mit geringerem<br />
Aufwand bessere Resultate zu erzielen als die klassische Psychoanalyse,<br />
gewaltig an Terrain gewonnen und die klassischen tiefenpsychologischen<br />
Schulen arg in die Defensive gedrängt haben. Zum<br />
anderen hat sich in den Köpfen der Psychoanalytiker selbst ein tiefer<br />
Zweifel an ihrer Sache eingenistet, der damit zusammenhängt, dass<br />
die klassische psychoanalytische Kur unter den Gesichtspunkten von<br />
Effizienz und Wirtschaftlichkeit, die den Zeitgeist prägen, eine kaum<br />
noch vertretbare Angelegenheit geworden ist. Diesen inneren Gründen<br />
der Krise, dem Glaubwürdigkeitsverlust von innen her, möchte<br />
ich in den folgenden Ausführungen etwas nachgehen.<br />
Ich will keine langen Umschweife machen und gleich zu Beginn<br />
meine These umreißen, um danach auseinanderzusetzen, wieso ich<br />
die Dinge so sehe. Unter dem, was man Krise der Tiefenpsychologie<br />
nennt, verstehe ich vor allem zwei Sachverhalte: erstens die Tatsache,
204 Peter Passett<br />
dass sich zunehmend weniger Klienten für Behandlungen interessieren,<br />
die im strengen Sinne als tiefenpsychologische, also lange dauernde,<br />
z. T. hochfrequente, in die „Tiefe“ gehende Verfahren zu betrachten<br />
sind und in denen ein Moment der Selbsterfahrung Priorität vor<br />
demjenigen der Heilung von Pathologie hat, und zweitens ein<br />
Schwinden des öffentlichen Prestiges der Tiefenpsychologie, das seinen<br />
Ausdruck darin findet, dass deren Beiträge zu kulturellen, politischen<br />
und sozialen Fragen zunehmend weniger Gewicht haben.<br />
Obwohl ich nicht verkenne, dass andere und neuartige politische<br />
und ökonomische Gegebenheiten etwa gegenüber denjenigen in den<br />
Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, es mit sich<br />
bringen, dass praktizierende Psychoanalytiker heute in jeder Beziehung<br />
einen schwereren Stand haben, bin ich doch überzeugt, dass Erkenntnisse,<br />
die das Unbewusste betreffen, nach wie vor hoch relevant<br />
sind, sowohl für das öffentliche wie für das private Leben, und dass<br />
deshalb diesen Disziplinen immer noch ein wichtiger Platz im kulturellen<br />
Leben sicher sein müsste und sich immer noch genügend Menschen<br />
finden ließen, die bereit wären, für das Unternehmen einer persönlichen<br />
Analyse Opfer an Zeit und Geld zu bringen, die nicht hinter<br />
denjenigen zurückstehen, die sie für das, was sie Fitness und<br />
Wellness nennen, oder für ihre individuelle Mobilität anstandslos zu<br />
bringen bereit sind. Wenn das zurzeit nicht so aussieht, dann v. a. deshalb,<br />
weil die Vertreter der Tiefenpsychologie selbst beträchtlich an<br />
Glaubwürdigkeit verloren haben, und zwar, weil der Großteil von ihnen<br />
an ihre eigene Sache nicht mehr richtig glaubt. Und das wiederum<br />
ist so, weil die Analytiker sich in der gedankenlosen Verfolgung<br />
kurzfristiger ökonomischer und sozialer Interessen zu zentralen<br />
Aspekten der eigenen Theorie und Praxis in Widersprüche gebracht<br />
haben, in denen sie nun gefangen sind. Auf zwei Punkte gebracht ergeben<br />
sich diese Widersprüche vor allem daraus, dass sie erstens ihre<br />
Praxis, welche ihrer Natur nach eigentlich eine der Seelsorge ist, vollkommen<br />
unter die Kautel medizinischer Therapie gestellt haben, und<br />
dass sie zweitens ihre Theorie, die sich ihrem Wesen nach nicht auf<br />
objektivierbare Fakten bezieht, sondern auf ein vertieftes, das Alltagsverständnis<br />
hinterfragendes Verstehen menschlicher Mitteilungen,<br />
aus Legitimationsgründen fortlaufend an den völlig ungeeigneten und<br />
überdies veralteten Kriterien objektivierender Wissenschaften messen<br />
und sie auf diese hin zurechtbiegen und damit zerstören.
Heinz Schott<br />
Freuds Zauberspiegel<br />
Zum 150. Geburtstag eines Selbstanalytikers<br />
Es gibt wohl kaum eine Persönlichkeit der modernen Kulturgeschichte,<br />
über die so prägnante und allgegenwärtige Klischees in Umlauf<br />
sind, wie Sigmund Freud. Man denke nur an den bärtigen Analytiker<br />
mit neben ihm liegenden Patienten auf der Couch als Gegenstand unzähliger<br />
Karikaturen. Im Zeitalter des Internet, aus dem zunehmend<br />
auch die scientific community ihre Informationen bezieht, halten immer<br />
mehr Menschen das, was dort nicht abrufbar ist, für schlichtweg<br />
nicht-existent. Um etwas über das aktuelle Freud-Bild in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung zu erfahren, ist deshalb ein Blick in die Welt des<br />
Internet aufschlussreich. Mit Hilfe der gängigen Suchmaschine stößt<br />
man dort auf typische Charakterisierungen, die sich allerdings kaum<br />
von denen der Printmedien unterscheiden. Am gängigsten ist die<br />
Kennzeichnung Freuds als „Aufklärer“, als „Entdecker des Unbewussten“.<br />
1 In diesem Sinne ist in der Online-Ausgabe einer Tageszeitung<br />
unter der Überschrift „Wer ist Sigmund Freud?“ zu lesen: „Als Erster<br />
fand er den Weg ins Unbewusste. Er, der Traumdeuter, Entdecker und<br />
Abenteurer. 2006 jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal – und<br />
noch immer sorgt er für Kopfzerbrechen.“ 2 Nach wie vor beliebt ist<br />
auch die spezielle Formel vom „Entdecker der kindlichen Sexualität“. 3<br />
Im Kontext der 68er Studentenbewegung wurden Marxismus und<br />
Psychoanalyse gerne als komplementäre revolutionäre Unternehmungen<br />
gesehen, sodass „Marx und Freud“ eine fixe Namensassoziation<br />
bildeten und auch heute noch gelegentlich in dieser Perspektive als<br />
Kompagnons gesehen werden. 4<br />
Neurobiologen und Hirnforscher, Kulturwissenschaftler und Gedächtnisforscher<br />
haben sich in letzter Zeit intensiv mit der Psychoanalyse<br />
auseinandergesetzt und dabei den mehr oder weniger suspekten<br />
Freud aus ihrer jeweiligen Sicht wissenschaftlich zu rehabilitieren<br />
versucht. Der „Erfinder der Psychoanalyse“ scheint von dieser Seite<br />
eine neue Wertschätzung zu erfahren. 5 Er habe, so heißt es allenthal-
230 Heinz Schott<br />
ben, manche Erkenntnisse gegenwärtiger Forschung genial vorausgeahnt,<br />
was die heutige Neurowissenschaft nicht zuletzt mit Hilfe Bild<br />
gebender Verfahren immer besser illustrieren könne, indem man etwa<br />
die Wirkung der Psychoanalyse im Kernspintomographen untersuche.<br />
Insofern wird von namhaften Neurobiologen sogar die Forderung<br />
nach einer social neuroscience erhoben, da die Gesellschaft „mitten<br />
durch das Gehirn“ gehe, wie es der Philosoph und Neurobiologe<br />
Gerhard Roth kürzlich formulierte. 6 Die Notwendigkeit einer solchen<br />
interdisziplinär ausgreifenden Neurowissenschaft wird nach dem in<br />
der medizinischen Forschung und Gesundheitsversorgung üblichen<br />
Muster primär gesundheitsökonomisch begründet: Da so viele Menschen<br />
unter dieser oder jener Krankheit litten und deshalb hohe<br />
Kosten entstünden, seien diese oder jene Erfolg versprechende Forschungsstrategie<br />
oder Behandlungsmethode wegen der Kostenersparnis<br />
anzuwenden. Auf die Psychoanalyse gemünzt lautet das entsprechende<br />
Argument: „20 Prozent der Bevölkerung sind irgendwann in<br />
ihrem Leben psychisch krank. Das ist der teuerste Sektor der Medizin.<br />
Also sollte die neurowissenschaftliche Forschung etwas zur Aufklärung<br />
beitragen. […] Solche Forschung lässt einen an Freud nicht<br />
vorbeikommen. Ihm verdanken wir die umfassendste Theorie der<br />
Seele.“ 7 Dass der Freudsche Krankheitsbegriff allerdings grundsätzlich<br />
davon ausging, dass 100 Prozent der Menschen als Kulturwesen von<br />
der „Neurose“ betroffen seien, erscheint bei einer solchen Kosten-<br />
Nutzen-Rechnung nicht der Rede wert.<br />
Die Heroisierung Freuds als kämpferisches Genie setzte schon früh<br />
zu seinen Lebzeiten ein. Der Heldenmythos galt neben dem „Entdecker<br />
des Unbewussten“ und dem unbeugsamen Kritiker gesellschaftlicher<br />
und religiöser Normen insbesondere auch dem Selbstanalytiker,<br />
der in den 1890er-Jahren durch die Deutung eigener Träume<br />
und Symptome zur entscheidenden Begründung der psychoanalytischen<br />
Lehre gelangte. So schrieb der Biograph Peter Gay: „Freuds<br />
Selbstanalyse war weit über den gewöhnlichen Heroismus hinaus<br />
heroisch.“ 8 Erschien er den Anhängern als heroischer Schöpfer, „Urvater“,<br />
so den Gegnern als neurotischer Psychologe, der seine eigene<br />
seelische Problematik in seine Mitmenschen projiziert habe. 9 Entsprechend<br />
hatte schon zur Zeit von Freuds Selbstanalyse dessen alter ego<br />
Wilhelm Fließ mahnend gegen seinen Freund das vernichtende Urteil<br />
gesprochen: „Der Gedankenleser liest bei den Anderen nur seine eige-
Peter Cornelius Mayer-Tasch<br />
Europa unterwegs: Sinnsuche in Kultur und Natur<br />
Kreuz-, Pilger- und Urlaubszüge<br />
Prolog<br />
Unterwegs war Europa seit eh und je. Zeus selbst war es, der unsere<br />
Namenspatronin im Mythos von den Ufern Phöniziens nach Nordwesten<br />
trug – aus dem Land der Morgensonne und des Lichts in das<br />
Land der Abendsonne und der Finsternis. Ihr Schicksal steht für das<br />
Schicksal Unzähliger, die im Laufe der Jahrtausende ihren Weg von<br />
Süden und Osten nach Norden und Westen nahmen. Wer kennt die<br />
Wege, nennt die Namen all der Völker, Stämme, Gruppen, Familien<br />
und Individuen, die den Kontinent auf der Suche nach Land, Brot,<br />
Macht, Ruhm, Gewinn, Erbauung und Heil kreuz und quer durchzogen<br />
– und schließlich auch zum Brückenkopf überseeischer Eroberungs-<br />
und Streifzüge werden ließen. Man denke an die Westwanderungen<br />
der Kelten und Germanen, an die größeren und kleineren<br />
Völkerwanderungen vor und nach der Zeitenwende. Man denke an<br />
die deutschen Kolonisationen des späten Mittelalters im Osten und<br />
an die Vertreibungen aus dem Osten im Gefolge des Zweiten Weltkrieges,<br />
sowie an die Süd-Nord- und Ost-West-Völkerwanderung, deren<br />
Zeitzeugen wir sind und weiterhin sein werden. Man denke aber<br />
auch an die den Kontinent seit Jahrtausenden überziehenden Heeresund<br />
Handelsstraßen, an all die Warenströme und die sie Geleitenden,<br />
die das „Land der Dunkelheit“ mit ihrer Lebenskraft erhellten und<br />
durchpulsten. Eine Entwicklung dies, die im Zeichen der integrativen<br />
Europäisierung und diskursiven Globalisierung eine Steigerung nie<br />
gekannten Ausmaßes erfahren sollte.<br />
Nicht nur wirtschaftliche und politische Lebens- und Überlebensinteressen<br />
sind es jedoch, die Europa und die Europäer in steter Bewegung<br />
gehalten haben. Nicht zuletzt waren und sind es auch kulturelle<br />
Bedürfnisse, die die Menschen (keineswegs nur) dieses Kontinentes<br />
im doppelten Sinne des Wortes bewegt haben. Und seit Beginn
256 Peter Cornelius Mayer-Tasch<br />
des 20. Jahrhunderts – einem Jahrhundert der ständig zunehmenden<br />
Urbanisierung der Erde und der damit verbundenen Zurückdrängung<br />
der Natur – ist es nicht zuletzt das Bedürfnis, „aus grauer Städte Mauern“<br />
wieder „hinaus ins Land“ zu ziehen, wie es schon das Wandervogel-Lied<br />
der Jahrhundertwende besang. Ins Land freilich, das angesichts<br />
der sich exponentiell verdichtenden und beschleunigenden<br />
Kommunikations- und Transportmöglichkeiten nicht mehr nur regional<br />
und national, sondern auch zusehends transnational und global<br />
definiert werden kann.<br />
Von beidem mag nun in der Folge die Rede sein – von den kulturund<br />
von den naturinduzierten Bedürfnissen und Interessen, die Europa<br />
und die Europäer nachhaltig „bewegt“ haben. Als Beispiele für die<br />
ersteren werden die Kreuz- und die Pilgerzüge (ungeachtet ihrer Neuauflagen)<br />
in historischer Sicht und die Urlaubszüge im Spiegel der Gegenwart<br />
beleuchtet werden.<br />
I. Kreuzzüge<br />
oder: Von der Ergriffenheit zum Angriff<br />
Papst Urban II. war es, der am 15. August 1095 auf einer Pilgerfahrt<br />
nach Notre Dame du Puy, einer Stadt in der Auvergne, mit glühendem<br />
Eifer den Kreuzzugsgedanken verkündete. Dass sein Appell offene<br />
Ohren fand, war vor allem zwei Faktoren zu verdanken – der für<br />
den mittelalterlichen Menschen charakteristischen Verbindung von<br />
Glaubenseifer und Heilserwartung zum einen und dem soziokulturellen<br />
Kitzel zum anderen. Wie der Chronist Fulcher von Chartres berichtet,<br />
stellte Urban II. jedem Christen, der im Kampf gegen die Heiden<br />
sein Leben verlieren sollte, die sofortige Vergebung seiner Sünden<br />
in Aussicht – eine nicht zuletzt für Gauner und Verbrecher jeglicher<br />
Spielart attraktive, aber auch für Söldner tröstliche Perspektive. Zum<br />
anderen versprach ein Zug ins Heilige Land samt Befreiung der biblischen<br />
Stätten in dem zumeist an Höhepunkten armen Leben des mittelalterlichen<br />
Menschen nicht nur die Aussicht auf Prestige, Status<br />
und Gewinn, sondern vor allem auch auf abenteuerliche Erlebnisse.<br />
Vor allem Peter der Einsiedler, einem weit berühmten Wanderprediger,<br />
gelang es, „Europa oder die Christenheit“ (Novalis) mit der<br />
Kreuzzugsidee hellauf zu begeistern. Und so geriet dieser erste Kreuz-
Otto Ulrich<br />
Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe<br />
Wir brauchen soziale Frühwarnsysteme<br />
Duraiasan muss es wissen, nicht, weil er einer der ältesten Fischer an<br />
der Küste von Tamil Nadu in Südindien ist, er weiß es, weil er dabei<br />
gewesen ist, vor einem Jahr, als die tödliche Welle kam. Er hat sie gesehen,<br />
die Schuljungen, wie sie johlend dem sich zurückziehenden<br />
Meer nachgerannt sind, da war etwas Neues, etwas Unbekanntes, da<br />
war aber auch keine Warnung – zurückgekommen ist keiner, „die<br />
Welle war schneller als sie laufen konnten“. Der alte Fischer weiß aber<br />
noch etwas: „Sie würden alle noch leben, wenn sie wie vor 10 Jahren<br />
noch weiter weg vom Meer gelebt hätten. Aber man hat uns mit ihren<br />
großen Häusern den Weg zum Meer versperrt, wir mussten zu nahe<br />
ans Meer ziehen, um zu unseren Fischen zu kommen.“<br />
Diese traurigen Erfahrungen des alten Fischers im fernen Südindien<br />
werden an der UN Universität in Bonn in ein großes Gesamtbild<br />
eingeordnet, es könnte die Überschrift tragen: Die Welt braucht eine<br />
„Kultur der Vorbeugung“, um der neuen Qualität der globalen Katastrophendynamik<br />
begegnen zu können – eindeutig, es geht nicht<br />
mehr um den Blick zurück, längst sind wir in der Vor-Tsunami-Phase<br />
angekommen. Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe.<br />
Erdbeben, Wirbelstürme, Flutwellen, Vulkanausbrüche und andere<br />
Naturkatastrophen sind unabänderlich, aber das Ausmaß des menschlichen<br />
Leidens kann gemildert, auf ein Minimum beschränkt werden.<br />
Das heraufdämmernde neue Weltbild wird das Phänomen der stetig<br />
lauernden nächsten Katastrophe als Teil des darauf vorzubereitenden<br />
menschlichen Lebens ansehen müssen. Und genau daran arbeiten die<br />
UN-Forscher in Bonn. Zu dieser neuen „Kultur des Vorbereitet-<br />
Seins“ gehört ein weltweites Frühwarnsystem, denn, und das stimmt<br />
auch: Hunderttausende könnten nach den Naturkatastrophen der<br />
Jahre 2003 und 2005 noch leben, wenn sie darauf vorbereitet gewesen
276 Otto Ulrich<br />
wären, zu tun was noch möglich war – und damit schließt sich ein<br />
Kreis:<br />
Die abschätzbare global sich ausbreitende neuartige Gefahrensituation,<br />
ausgelöst von „natürlichen“ und menschengemachten Katastrophen,<br />
wird mehr und mehr auch die reichen Länder des Nordens der<br />
Erde erreichen, wie die Bonner Forscher auf der Basis des vom Internationalen<br />
Roten Kreuz gerade herausgegebenen neuen „Welt-Katastrophen-Berichtes<br />
2005“ wissen.<br />
Der Tsunami 2004 könnte als nachhallender Gongschlag gesehen<br />
werden, um zu erkennen: Auch die amerikanischen Hurricans „Katrina“<br />
und „Rita“ passen ins neue Bild der sich wehrenden Erde. Zum<br />
Bild gehört auch das schlimme Jahrhunderterdbeben im iranischen<br />
Bam von 2003 wie jenes in Jammu und Kaschmir an der indischpakistanischen<br />
Grenze aus dem Jahre 2005, aber auch der Dammbruch<br />
nach unerwarteter Schneeschmelze im indischen Pradesh, allerdings<br />
auch die befremdlich heftigen Schneestürme in Deutschland,<br />
die bislang nicht gekannten massiven Regenfluten in Europa und Asien,<br />
die gefährlichen Hangabrutsche in Südamerika, die Hitzewellen<br />
und Feuerwalzen in Spanien und Portugal – all dieses scheint der Auftakt<br />
zu einem noch dramatischeren Szenario zu sein, wie es Arun Ahaluwalia,<br />
Professor für Geologie in Chandigarh, Nordindien, für möglich<br />
hält. Auch wenn es zunächst zynisch klingt, er meint, immer<br />
mehr spreche dafür im Tsunami 2004 eine „menschenfreundliche Katastrophe“<br />
sehen zu müssen: „Die Welt schaute zu, wie am hellen Tage<br />
300 000 Menschen starben. Es war nicht der Tsunami, es war die<br />
Ignoranz über die Dynamik des Tsunami, die die Menschen tötete“,<br />
wie er in „The Hindu“ vom 26. Dezember 2005 schreibt.<br />
Und genau dieses „Nicht-vorbereitet-sein“ wird sich ändern müssen.<br />
Denn auch folgende Lektion lässt sich aus dem Tsunami von heute<br />
ableiten: Die tödliche Welle muss als pädagogisch gemeinte Ohrfeige<br />
verstanden werden. Der Kollateralschaden des laufenden Klimawandels<br />
lässt keine Alternative zur Katastrophenvorbeugung mehr zu<br />
– außer eben den schlagartigen Tod von Millionen von Menschen. So<br />
die Perspektive von Jan Egeland, bei der UN zuständig für Humanitäre<br />
Hilfe und Nothilfeprogramme.<br />
Die neue Dimension der Naturkatastrophen als ungeheuerlichen<br />
Weckruf zu verstehen, heißt vorerst aber doch weiter mit immer heftigeren,<br />
immer häufigeren und immer schallenderen Ohrfeigen rech-
Ilse Onnasch<br />
Alles perfekt!<br />
Jüngst erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung eine Kolumne<br />
in Serie, in der mehr als zwanzig Schriftsteller ihren „perfekten<br />
Tag“ (Sonne, Insel, Strandliebe, Champagner) beschrieben. In Reiseprospekten<br />
werden der „perfekte Urlaub“ und das „perfekte Wochenende“<br />
(Spitzenhotel, edle Weine) angeboten. Das perfekte Kind, die<br />
perfekte Ehe, der perfekte Arbeitnehmer oder Manager – sie alle werden<br />
in tausenden von Ratgebern beschworen. Und schließlich hört<br />
man im Umgang mit Menschen allerlei Art immer häufiger das Wörtchen<br />
„perfekt“ als anerkennendes Lob, wie man früher „gut“ sagte<br />
oder „schön“, vielleicht auch „toll“, „grandios“, „wunderbar“. Das<br />
Alltagsbedürfnis nach Perfektion – um ein solches scheint es sich hier<br />
zu handeln – gipfelte für mich in einer Moderation eines ehrwürdigen<br />
Klassiksenders, in der einer Pianistin die „Perfektion einer Maschine“<br />
nachgesagt wurde. Diese Äußerung war deutlich als Lob gemeint, aber<br />
die Pianistin spielte gerade nicht wie eine Maschine, sondern durchaus<br />
lebendig.<br />
In den 60er-Jahren noch galt bei jedem menschlichen Fehler das<br />
achselzuckende „nobody is perfect“, das populäre Eingeständnis: wir<br />
Menschen sind fehlbar. Was hat sich seitdem verändert? Woher<br />
kommt das Bedürfnis nach Perfektion?<br />
Die Bewunderungsvokabeln „wunderbar“, „gut“, „schön“ etc. sind<br />
offen, lassen Steigerungen zu. In ihrem Vokalreichtum klingt die Bewunderung<br />
mit. Perfekt dagegen knallt mit den Hacken. Es ist fertig,<br />
geschlossen. Perfekt lässt keinen Zweifel zu, keine Korrektur, keine<br />
Steigerung.<br />
Perfekt ist ein Begriff der Technik. Wenn Technik nicht perfekt ist,<br />
wird es gefährlich. Wir wollen mit Recht perfekte Flugzeuge und<br />
Küchenmaschinen, von perfekten Atomkraftwerken – die wir zwar<br />
nicht wollen, aber wenn sie schon da sind, dann bitte so perfekt wie<br />
möglich – und Chemiefabriken ganz zu schweigen. Aber diese Bei-
Alles perfekt! 283<br />
spiele zeigen: auch hier ist „nobody perfect“, denn das dem Humanen<br />
eigene, stets mögliche „menschliche Versagen“ ist die unperfekte Fehlerquelle<br />
allen Umgangs mit der Technik. Die Entwicklung immer<br />
neuer Maschinisierungen, Roboterisierungen, Computersteuerungen<br />
ist darauf angelegt, die menschliche Ur-Schwäche der Nicht-Perfektion<br />
auszuschalten.<br />
Der mechanisierte Mensch, der Mensch als Maschine, ist ein uralter<br />
Menschheitstraum. In der Medizin ist es von altersher üblich, Körperfunktionen<br />
in Analogien zu Maschinen zu setzen. Unser Herz ist<br />
der Motor, das Gehirn unser Computer. Und mit Hilfe dieser Konstruktion<br />
hofft die Medizin alles „in den Griff“ zu bekommen. Die<br />
Auffassung der Medizin als Reparaturbetrieb von defekten Einzelteilen<br />
hat hier seine Wurzeln. Die empfundene menschliche Unvollkommenheit<br />
führt dort, wo sie nicht als Ansporn zu geistiger Kompensation<br />
begriffen wird, mit der „blinden Wut des Machens“ (Adorno)<br />
in die technologische Evolution. Und so ist die Mechanisierung<br />
auch Teil der Menschen selbst geworden; denn das Streben nach geistiger<br />
Vollkommenheit scheint ungleich schwieriger zu sein als die mechanische<br />
Perfektionierung.<br />
Eine Video-Installation von Marie-Jo Lafontaine zeigte bei der Documenta<br />
1988 „Larmes d’acier – Stahltränen“, einen Mann im Krafttraining.<br />
Auf verschiedenen Monitoren konnte man je eine der Bewegungen,<br />
die der Mann maschinenartig immer wiederholte, sehen. Der<br />
Maschinenrhythmus ging in seinen Körper über, er schien willenlos<br />
zu werden. Die Bewegungen sind zerhackt, fragmentiert. Die Bewegungsabläufe<br />
scheinen in ihrer Eintönigkeit und Wiederholung unabhängig<br />
voneinander zu funktionieren. Man fragt sich: Was treibt ihn<br />
dazu an? Sein Ziel ist vermutlich die perfekte körperliche Schönheit.<br />
Es ist nicht – wie beim Maschinenarbeiter – die unfreiwillige, noch als<br />
Leiden wahrgenommene Perfektion, wie sie so hervorragend in Charly<br />
Chaplins „Modern Times“ zu sehen ist, sondern die scheinbar freiwillige<br />
Unterwerfung unter ein Modediktat. Ist der Kraftmensch fertig,<br />
steht er da, zeigt seinen gestählten Körper, lässt einzelne Muskeln<br />
spielen und bewundert sich selbst. In der Statik scheint er einer antiken<br />
Skulptur zu ähneln, doch der Unterschied liegt in der Bewegung.<br />
„Sie [die Maschine, I.O.] treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen<br />
Bedacht, alle Gesittung“, schrieb Adorno in seinen „Minima Moralia“.<br />
Der antiken Statue sieht man die geschmeidige Bewegung an,
Eduard Kaeser<br />
Auf den elektrischen Hund gekommen?<br />
Der Zoo der Zwitterwesen<br />
1988 wurde in den USA eine Maus patentiert, deren Erbmaterial man<br />
gentechnisch derart veränderte, dass sie mit erhöhter Wahrscheinlichkeit<br />
an Krebs erkrankt: die Krebsmaus. Dabei handelte es sich um<br />
menschliche Tumorzellen, die man der Maus einpflanzte. Die Biologen<br />
sprechen vom Durchbrechen der Artengrenze. Aber nicht nur diese<br />
Grenze erodiert, sondern jene zwischen Lebewesen und künstlichen<br />
Wesen überhaupt. 1999 brachte der japanische Elektronikriese Sony<br />
AIBO, den Roboterhund, auf den Markt (AIBO ist ein Kürzel für Artificial<br />
Intelligence and Robot; japanisch „Freund“). Wir konstatieren<br />
eine bedenkenswürdige Symmetrie: Bei der Krebsmaus wird unser<br />
Blick auf das Lebewesen zunehmend von der Idee seiner Konstruierbarkeit,<br />
des Bio-Artefakts Tier, dominiert. Beim Roboterhund kehrt<br />
sich dagegen der Blick um: Wir nehmen das Konstruierte, das Artefakt,<br />
als Quasi-Lebewesen wahr. Krebsmaus und Roboterhund markieren<br />
sozusagen die Pole eines Spektrums von natürlich-künstlichen<br />
Zwitterwesen, welche wahrscheinlich immer mehr unsere Zukunft<br />
bevölkern werden. Während das transgene Tier vorläufig als (kontroverses)<br />
Labor-Wesen-Gerät gehandhabt wird, schickt sich das transbiologische<br />
Quasi-Lebewesen an, unseren Alltag zu erobern und unser<br />
Kumpan zu werden. Was kommt auf uns zu?<br />
Vom Spielzeug zum Unterhaltungsroboter<br />
AIBO wird ausdrücklich als Spielzeug oder Unterhaltungsroboter<br />
(non-useful robot) lanciert. Wer wie ich in der Mitte des letzten Jahrhunderts<br />
aufgewachsen ist, mag sich vielleicht noch an die hoppelnden<br />
Blechhasen, trommelnden Blechaffen oder herumkrabbelnden
292 Eduard Kaeser<br />
Blechkäfer mit Aufziehmotor erinnern und darin so etwas wie eine<br />
Ahnenreihe von AIBO erkennen. Im Vergleich mit dieser rührend<br />
leblosen Fauna aus mechanischer Vorzeit stellt sich der Roboterhund<br />
als höchst lebensnah heraus. Seine „Anatomie“ aus Plastik umfasst bewegliche<br />
Füße, Rumpf, Kopf, Ohren, Schnauze, Schwanz. Er hat<br />
Minimikrofone zum Hören eingebaut, einen Lautsprecher zum „Antworten“,<br />
Mikrokamera (in der Schnauze), Infrarot-Entfernungsmesser.<br />
Er verfügt über Druck-, Temperatur-, Elektrostatik-, Erschütterungssensoren<br />
an Kopf, Kinn, Pfoten, Rücken (zum Streicheln).<br />
AIBOs Verhalten wird durch Module gesteuert, er ist fähig zu sechs<br />
„Emotionen“ (Glück, Trauer, Zorn, Überraschung, Furcht und Abneigung),<br />
die er durch Töne oder Melodien, durch Körpergesten oder<br />
mehrfarbige Leuchtdioden in den Augen „exprimiert“. Zudem hat er<br />
„Instinkte“, er sucht nach seinem Lieblingsspielzeug (Ball), wenn ihm<br />
nach Spielen „zumute“ ist, und er dockt von selber an der Ladestation<br />
an, wenn die Akkus schwach werden, also wenn er „hungrig“ ist. Er<br />
kann „wütend“ werden, falls man ihn nicht richtig behandelt oder<br />
zeigt „Zufriedenheit“ bei AIBO-adaptiertem Umgang. Im Repertoire<br />
führt er auch ein paar Extras, die ihn von den Kaniden erheblich unterscheiden.<br />
Z. B. schießt er auf Befehl ein Foto von Herrchen, liest<br />
ihm E-Mails laut vor oder erinnert ihn an seine Lieblings-TV-Sendung<br />
(was wohl eine harte und lange Dressur beim biologischen Gegenstück<br />
erfordern würde).<br />
Was aber den Eindruck des Quasi-Lebens am meisten bestärkt, ist<br />
der Umstand, dass dieser Roboter sozusagen eine Art von künstlicher<br />
„Ontogenese“ durchläuft. Er ist in seinem Verhalten nicht völlig vorprogrammiert.<br />
Er „wächst auf“ in der Umwelt seiner Halter, er adaptiert<br />
sich an sie und entwickelt seine Fähigkeiten entsprechend ihrer<br />
„Pflege“ (die Robotiker haben dafür auch bereits einen Namen kreiert:<br />
altricial robotics, „Brutpflege-Robotik“). Und die Werbung zögert<br />
nicht, das Verhältnis Mensch/AIBO als völlig symmetrisch darzustellen:<br />
„Er unterhält Sie, wenn Sie fröhlich sind, tröstet Sie, wenn Sie<br />
traurig oder zornig sind und lässt Sie mit seinem Leuchtdioden-animierten<br />
Gesicht an Emotionen teilhaben. Ihr ,kleiner Freund‘ wird<br />
Ihnen bald ans Herz wachsen.“ Diese vermeintliche Symmetrie gipfelt<br />
in der Feststellung, AIBO reagiere aus „eigenem freien Willen“.
Robert Spaemann<br />
Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene*<br />
Kunstwerke „Schöpfungen“ nennen, heißt, sie mit einem Wort benennen,<br />
das über anderthalb Jahrtausende dem Verhältnis Gottes zur<br />
Welt vorbehalten war. Wenn wir von der „Schöpfung“ im Singular<br />
sprechen, ist ohne weiteres klar, dass damit die Welt als ganze gemeint<br />
ist, und zwar unter dem Aspekt ihres außerweltlichen Ursprungs. Erst<br />
im ausgehenden Mittelalter werden bestimmte Produkte menschlichen<br />
Machens als Schöpfungen betrachtet und die Gottähnlichkeit<br />
des Menschen in eine neue Dimension gerückt. Was kann damit gemeint<br />
sein, und welche geistesgeschichtlichen Entwicklungen haben<br />
einen solchen Gedanken ermöglicht? Zur Beantwortung dieser Fragen<br />
scheint es mir sinnvoll zu sein, sich zunächst die verschiedenen Formen<br />
menschlicher Produktivität vor Augen zu führen, in einem zweiten<br />
Schritt sich zu vergegenwärtigen, was den Begriff Gottes als<br />
Schöpfer und seines Tuns als Erschaffen von menschlicher Produktivität<br />
unterscheidet. In einem dritten Schritt fragen wir, wodurch es<br />
möglich wurde, bestimmte menschliche Tätigkeiten in Analogie zu<br />
Gottes Schöpfertum als Erschaffen zu bezeichnen. (Für Schwaben<br />
stellt sich dieses Problem übrigens weniger, weil sie ja das Wort „schaffen“<br />
als Synonym für „arbeiten“ benutzen.)<br />
Allen Weisen der Produktivität liegt ein umfassenderer Begriff zugrunde,<br />
der Begriff des Tuns. Alles Seiende, alles, was existiert, ist auf<br />
irgendeine Weise aktiv. Wäre es das nicht, dann würde niemand von<br />
ihm Kenntnis bekommen, und es hätte von sich selbst auch keine<br />
Kenntnis. Denn auch Erkennen ist eine Weise der Aktivität, des Tuns.<br />
Aristoteles war der erste, der darauf aufmerksam machte, dass nicht jedes<br />
Tun in der Hervorbringung eines Produktes besteht, und er schlug<br />
die Unterscheidung von Tun und Machen, von praxis und poiesis vor.<br />
Poiesis, das Wort benutzen wir, wenn wir von Poesie sprechen. Poesie<br />
* Eröffnungsvortrag auf dem Schwäbisch Gmünder Musikfestival 2004.
Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene 301<br />
heißt ursprünglich nichts anderes als „machen“. Sprechen ist kein Machen.<br />
Aber Gedichte sind etwas Gemachtes. Wer ein Gedicht vorträgt,<br />
spricht nicht einfach, sondern zeigt etwas vor, das er oder ein anderer<br />
bewusst und mit Kunst komponiert hat und das gegenüber dem, der<br />
es verfasst hat, eine gewisse Selbstständigkeit besitzt, sodass auch ein<br />
anderer als der Verfasser es vortragen kann. Wenn wir nachdenken,<br />
wenn wir spazieren gehen, ein Gespräch führen oder einen Koffer tragen,<br />
so tun wir etwas, aber wir machen nichts, wir produzieren nichts.<br />
Die aristotelische Unterscheidung von poiesis und praxis kann uns<br />
dazu dienen, eine bestimmte Tendenz in der technisch-wissenschaftlichen<br />
Zivilisation, also in unserer Zivilisation bewusst zu machen. Die<br />
ungeheuren Fortschritte in der planmäßig technischen Herstellung<br />
von künstlichen Gegenständen hat dazu geführt, alles menschliche<br />
Tun nach Analogie des Machens zu verstehen und in eine Art von Machen<br />
zu verwandeln. Früher fiel mir auf, dass in den kommunistischen<br />
Ländern, so auch in der DDR für Tierhaltung und Tierzucht der Ausdruck<br />
„Tierproduktion“ verwendet wurde. Das hat inzwischen auch<br />
zu uns übergegriffen. Ja, sogar eindeutige Dienstleistungsbetriebe, wie<br />
Deutsche Bahn oder Telekom lassen sich nicht mehr für Dienstleistungen<br />
bezahlen sondern verkaufen „Produkte“, obgleich doch hier<br />
offenkundig nichts produziert, nichts gemacht sondern etwas getan<br />
wird.<br />
Sogar die Ethik wird in das Schema zweckrationaler Poiesis gepresst.<br />
Der weltweit dominierende Typus der Ethik, der so genannte<br />
Utilitarismus betrachtet als moralisch gut Handlungen, wenn durch<br />
sie voraussichtlich die Welt optimiert wird, d. h. wenn die Gesamtheit<br />
der Folgen dieser Handlung wünschenswerter sind als die Folgen jeder<br />
möglichen alternativen Handlung. Mit anderen Worten, der Zweck<br />
heiligt die Mittel. Und wenn man, wie Lenin, der Überzeugung ist,<br />
das Ziel der eigenen revolutionären Politik sei die Optimierung der<br />
Welt, dann heißt das: alles, was dem Ziel dient, ist gut. „Uns ist alles<br />
erlaubt“ konnte deshalb Lenin sagen. Aber sogar Moraltheologen haben<br />
sich heute dieses Optimierungsschema zueigen gemacht. Und<br />
wenn wir heute Nachrufe hören, weltlicher oder kirchlicher Art, dann<br />
scheint dieses Schema immer wieder durch. So z. B. wenn es an einem<br />
Menschen gerühmt wird, dass er sich für die Gerechtigkeit „eingesetzt“<br />
hat. Nie liest oder hört man das viel Wichtigere, nämlich dass er<br />
gerecht war. Jemand kann sich nämlich sehr wohl leidenschaftlich
Johannes Dörflinger / Bernd Storz<br />
„Große Balance“<br />
Skulpturen und Gedichte<br />
„Große Balance“, so nennt Johannes Dörflinger einen Zyklus von fragilen,<br />
figürlichen Kleinskulpturen, die seit 2002 in Zusammenarbeit<br />
mit dem Goldschmied Ulrich Tinkl entstehen. Die zentralen Themen<br />
des Künstlers finden sich hier in Miniaturformen wieder: Kosmos und<br />
Mythos, Lebenszyklus und Metamorphose. Stein, Bernstein, Elfenbein,<br />
Ebenholz, Kunststoff, Metall und Meteorit – in den Materialien<br />
verbinden sich die natürlich-organischen mit den künstlich-technischen<br />
Grundlagen unserer Welt.<br />
Bernd Storz, als Schriftsteller und Kataloggestalter mit Johannes<br />
Dörflingers Werk seit langem vertraut, hat sich durch die Skulpturen<br />
literarisch inspirieren lassen und Texte geschaffen, denen weder beschreibende<br />
noch deutende, vielmehr eigenständige dichterische Intentionen<br />
zukommen. Die Wechselwirkung von Gedicht und Skulptur<br />
führt zu einer gegenseitigen Steigerung der künstlerischen Aussage,<br />
regt zu Nachsinnen und Weiterdenken an, fordert nicht zuletzt<br />
ein „skeptisches Denken“ heraus.<br />
Die Kleinskulpturen auf den folgenden Seiten wurden von Fred Thomas<br />
fotografiert. Die Maße sind in der Reihenfolge Höhe, Breite, Tiefe in Millimeter<br />
angegeben.
318 Bernd Storz<br />
Schiefwaage<br />
Im Bernstein bewahrt<br />
die flüchtigen Erfindungen<br />
des Lichts.<br />
In den Pixelstädten<br />
hat der Herbst<br />
keinen Geruch mehr,<br />
noch die Tinte<br />
auf handgeschriebenen Briefen,<br />
noch Milch und Brust.<br />
Am Firmament:<br />
Vogelzeichen, längst erforscht,<br />
die niemand deutet.
Raimund Rodewald<br />
Baum und Zeit<br />
Stoisch stehen sie da, die Birken, trotzend dem oft stürmischen Wetter,<br />
solitär auf einer alten Weide an der Krete unterhalb des Monte<br />
Bisbino, des letzten Alpenausläufers vor der Poebene. Ihre Kronen<br />
überlassen sie ganz dem Westwind und wanken mit ihren dünnen,<br />
krummen Stämmen in statisch fast unmöglicher Weise zwischen<br />
Himmel und Erde. Der Wind zerrt an den haarförmigen dünnen<br />
Zweigen, die Erde wiederum zieht die Wurzeln an sich. Zwischen den<br />
gegenläufigen Kräften des Oben und Unten entsteht eine sonderbare<br />
Ruhe und Entspannung. Des Baumes Dasein ist ein Da-Stehen, unbeweglich,<br />
aber nicht unbewegt, verwurzelt in seinem Ort. Die Zeit,<br />
seine Zeit, erscheint eingefroren, die Wettererscheinungen sind nicht<br />
mehr als vergängliches Rauschen inmitten der Baumewigkeit. Der<br />
verhangene Himmel gibt hinter den Bäumen plötzlich den Blick auf<br />
die Walliser Alpen frei. Darunter taucht der aus der Höhe merkwürdig<br />
friedlich wirkende urbane Moloch der Südspitze der Schweiz auf.<br />
Dieses Bild baut sich immer wieder vor mir auf, zufällig und ohne<br />
Grund, aus Faszination über die archaisch wirkenden, originären<br />
Kräfte der Natur. Ein melancholisches Bild des Vergänglichen und<br />
Ewigen in Anbetracht der Nüchternheit und Kleinheit unserer täglichen<br />
Bedürfnisse oder – in Anlehnung an Thomas Burnet – eine Erkenntnis<br />
der Größe unseres Geistes, der voll Freude und großem Staunen<br />
große, erhabene Dinge betrachten will? („Ich weiß nicht, was beide<br />
(Ozean und Berge) an Großem und Erhabenen besitzen, wodurch<br />
sie den Geist zu ungeheuren Gefühlen und Gedanken anregen: wir<br />
können darin leicht den höchsten Schöpfer der Dinge erkennen und<br />
bewundern und stellen zufrieden fest, dass unser Geist, der voller<br />
Freude große Dinge betrachtet, keineswegs klein ist.“ 1 )<br />
Der Baum ist vielleicht das einzige Geschöpf, das einerseits den<br />
Zeitfluss äußerlich derart unbeeindruckt, andererseits die Jahreszeiten<br />
derart expressiv in sich trägt. Kein Wunder, dass Bäume in der Male-
346 Raimund Rodewald<br />
rei immer wieder als Selbstbildnisse und Spiegel des menschlichen<br />
Seelenzustandes verwendet wurden. Der Baum ist aber in seiner Monumentalität<br />
auch das vielleicht einzige Lebewesen, wofür der Begriff<br />
der Erhabenheit verwendet werden könnte. Üblicherweise wurde die<br />
Erhabenheit primär dem Gebirge, dem Himmel und Meer oder auch<br />
einer in Nebel gehüllten Gegend 2 zugestanden. Für das Gefühl von<br />
Erhabenheit nach Edmund Burke bedarf es beispielsweise der Empfindung<br />
des Schreckens, der Größe der Dimensionen, der Macht, der<br />
massiven Festigkeit oder der Dunkelheit 3 . Erhabenheit, genauer Dynamisch-Erhabenes,<br />
entsteht nach Immanuel Kant im Anblick kühner<br />
Felsen, von Orkanen, des grenzenlosen Ozeans oder eines hohen<br />
Wasserfalles, der nur dann desto anziehender wirkt, je furchtbarer er<br />
ist, „wenn wir uns in Sicherheit befinden“ (Kritik der Urteilskraft<br />
KUK, 1790, B, 28). Das Bild der vom Sturm gepeitschten Bäume auf<br />
dem Monte Bisbino korrespondiert durchaus mit diesem Erhabenheitsbegriff.<br />
Kant unterscheidet aber auch ein Mathematisch-Erhabenes,<br />
das durch unfassbare Größe gekennzeichnet ist: „Beispiele vom<br />
Mathematisch-Erhabenen der Natur in der bloßen Anschauung liefern<br />
uns alle die Fälle, wo uns nicht sowohl ein größerer Zahlbegriff<br />
als vielmehr große Einheit als Maß (zu Verkürzung der Zahlreihen)<br />
für die Einbildungskraft gegeben wird. Ein Baum, den wir nach<br />
Mannshöhe schätzen, gibt allenfalls einen Maßstab für einen Berg;<br />
und, wenn dieser etwa eine Meile hoch wäre, kann er zur Einheit für<br />
die Zahl, welche den Erddurchmesser ausdrückt, dienen, um den letzteren<br />
anschaulich zu machen“ (KUK A, 26). Diese ästhetische Konstellation<br />
der Wahrnehmung von großen Naturphänomenen aus Distanz,<br />
die dadurch auch im übertragenen Sinne als großartig bewertet<br />
werden (dieses „Doppelgroße“ braucht nicht zwingend auch mathematisch<br />
groß zu sein, sondern vermag vielmehr das unerklärlich und<br />
unaussprechlich Andere darzustellen), ließe sich somit auch auf das<br />
Erhabenheitsgefühl angesichts eines mächtigen Baumes übertragen,<br />
das einerseits furchtsamen Respekt, andererseits Entzücken auslöst<br />
und jenseits jeglicher menschlicher Besitzergreifung und eines Zweckdenkens<br />
entsteht. Jahrhundertealte Kastanienbäume oder Eichen mit<br />
ihren schwindelerregend hohen Kronen, ihren knorrigen, vom Blitz<br />
gezeichneten Ästen und ihrem mächtigen Stammumfang entsprechen<br />
durchaus dem Bild von Zeitlosigkeit und Erhabenheit. Georg Simmel<br />
beschreibt die von Böcklin gemalten Bäume als losgelöst von einem
Godela Unseld<br />
Vom Nutzen und Zauber alter Reisebeschreibungen<br />
„Jag var nu kommen på fjällen.<br />
Alltomkring mig lågo de snöiga berg, jag gick på snöen såsom<br />
om den starkaste winteren; alla de rara örter . . .“ 1<br />
(Carl von Linné, Lappländska Resa, 1732)<br />
Noch immer wohnt den alten Reisebeschreibungen ein Zauber inne.<br />
Und das ganz besonders dann, wenn es sich um Reisen in „wilde“, ungezähmte<br />
Gebiete der Erde handelt, wo das Leben so ganz anders ist<br />
als sonst im Alltag der zivilisierten Welt.<br />
„Nun war ich zum Fjäll gekommen. Überall rundum lagen schneebedeckte<br />
Berge, und ich selbst ging wie im stärksten Winter im Schnee; all<br />
die seltenen Pflanzen, die ich früher gesehen und an denen ich mich so gefreut<br />
hatte, fanden sich hier in Miniatur und in solchen Mengen, daß ich<br />
erschrak und mehr zu bekommen glaubte, als mir zu bewältigen möglich<br />
war. 2 (Carl von Linné, Lappländische Reise, 1732)<br />
„Dasselbe habe ich genugsam erfahren in Lappland, daß ich mich so oft<br />
von einer besonderen Zufriedenheit und Lustbarkeit erfaßt fand, als ich<br />
auf den Klippen der hohen Berge stand und auf die leere und unbewohnte<br />
Flur blickte, die sich viele Meilen um mich herum erstreckte; in dieser<br />
ist die eine grüne Heide nach der anderen zu sehen, der eine Hain hebt<br />
sich in seiner Ordnung und Lage auf artigste Weise gegen den anderen ab;<br />
die eine Erhebung folgt der anderen und führt weiter hinan. Nicht verschweigen<br />
soll man auch den schönen Zustand und die wohlgeratene Ordnung<br />
der Flüsse und Ströme mit ihrem unterschiedlichen Fließen und ihrer<br />
veränderlichen Weite, ihren Wasserfällen, Zusammenflüssen und Seitenarmen;<br />
die kleineren und größeren Seen in ihrer so vergnüglichen Lage,<br />
mit ihren Inselchen, Waldrändern und Landzungen; die klaren Quellen,<br />
die am Fuß der Berge entspringen und sich verzweigen und, wie gemeinhin<br />
alle Seen und Flüsse in Lappmarken, ein ungleich klares und wohl-
354 Godela Unseld<br />
schmeckendes Wasser schenken, etc . . .“ 3 (Pehr Högström, Beschreibung<br />
von der schwedischen Lappmark, 1747)<br />
„Auch stehen diese Bäume und da in Besonderheit die Birken in einer<br />
so wackeren und freudigen Ordnung, daß es an vielen Plätzen ist, als sähe<br />
man in den schönsten, zum Lustwandeln angelegten Garten. Im Frühjahr<br />
und Sommer entströmt ihnen ein überwältigend lieblicher Duft.“ 4 (Nicolaus<br />
Örn, Kurze Beschreibung von Lappland, 1707)<br />
Doch größer noch als der Reiz der Exotik ist das Erstaunen, wenn<br />
man entdeckt: Es könnte genausogut heute sein, was damals beschrieben<br />
worden ist, bis in das kleinste Detail ist, was vergangen scheint,<br />
gegenwärtig. Und auf seltsame Weise fühlt sich der, der das Land im<br />
hohen Norden aus eigener Anschauung kennt, beim Lesen der alten<br />
Texte aufgehoben, ja in seinen Erfahrungen nachgerade zum ersten<br />
Mal richtig wahrgenommen und abgebildet, fast so, als ob jeder<br />
Schritt, den man dort in der Wildnis gegangen ist, nicht nur ein<br />
Schritt in den Körper des Landes hinein gewesen ist, sondern immer<br />
zugleich eine Reise in die Zeiten zurück.<br />
„Das Wasser im See Virijaure war weißgrün oder vollends wie Wasser, das<br />
in einer Schale steht, darinnen zuvor Milch gewesen, was von seiner summa<br />
puritas et levitas, item pelluciditas herrührte. War kälter als Schneewasser.“<br />
5 ( Carl von Linné, Lappländische Reise, 1732)<br />
„Das Zelt stand, wie gesagt, auf einem offenen, mit hohem Gras bewachsenen<br />
Platz inmitten großer Weidenbüsche. Diese breiteten sich im<br />
ganzen Talkessel rings um die Bucht aus und bedeckten den Boden mit einem<br />
lebhaften Grün, aus dem bei jedem kleinen Windhauch die<br />
weißwolligen Blattunterseiten der Salix lapponum (Lapplandweide) wie<br />
fliegende Silberscheiben in der Sonne aufblitzten.“ 6 (Gustaf von Düben,<br />
In Lappland, 1871)<br />
Man ruht an dem gleichen Ort, an dem man damals schon ein Lager<br />
für die Nacht aufgeschlagen hat. Man müht sich über den gleichen<br />
Grund, über den die Menschen damals schon sich vorangekämpft<br />
haben:<br />
„Den größten Teil des Weges mußten wir über Moränen klettern, gewaltige<br />
Steinhaufen . . . Mit äußerster Vorsicht mußten wir von einem scharf-
Rudolf zur Lippe<br />
Bei den Kranichen im Linumer Bruch<br />
„Am Grunde der Materie ist nicht Materie, sondern Form.“ Dieser<br />
Satz fasst in einfache Worte des gemeinen Denkens zusammen, was<br />
aus den Erkenntnissen der Quantenphysik folgt. Als ich ihn vor wahrscheinlich<br />
zwei Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, war ich doppelt in<br />
Bewegung gesetzt. Er schien mir auf westlich wissenschaftliche Weise<br />
die Grundauffassung der Hindu-Tradition von der Welt auszusprechen,<br />
jedenfalls wenn man seiner Bedeutung klar genug nachgeht.<br />
Wenn man deren Formel in europäische Sprachen übersetzt, wird sie<br />
aber bei uns leicht als metaphysische Spekulation missverstanden werden:<br />
Die Welt ist eine manifeste und sie ist eine nicht manifeste zugleich.<br />
Die kernphysikalische, die mikrophysikalische Aussage stellt<br />
sich nicht als weltanschauliche Überzeugung dar, sondern als Kommentar<br />
zu einer tatsächlichen Feststellung, die mit Materie einfach das<br />
Greifbar-Messbare meint. Die Einsicht in den Doppelcharakter der<br />
Welt könnte und sollte unsere Beziehungen zur Welt verändern, wenigstens<br />
die Fixiertheit europäischen Denkens und Handelns auf das<br />
Feste öffnen für grundlegendere Seinsweisen. Diese Hoffnung wird<br />
immer wieder enttäuscht – zuletzt durch die widersinnig konkretistische<br />
Interpretation der Genforschung, als ob die Funktion mit einem<br />
DNA-Partikel identifiziert werden dürfte. Die Hoffnung, dass wir die<br />
Primitivität der Vorstellung von kleinsten Bausteinen alles Existierenden<br />
überwinden würden, erhielt in dem Satz von Hans-Peter Dürr<br />
und seiner Vorgeschichte in der Heisenbergschen Forschung einen<br />
entscheidenden Ausgangspunkt.<br />
Gleichzeitig beunruhigte mich die Formulierung empfindlich.<br />
Zunächst sah ich in jenem Gespräch die öffnende Erkenntnis, die<br />
wichtige, genauer zu verfolgende Linie. Doch schon bald meldete ich<br />
meine Bedenken gegen den Begriff an, den Dürr dem der Materie entgegensetzte.<br />
Form war mir, im Verständnis unserer Traditionen seit<br />
der griechisch antiken Aufklärung, zu statisch, um das Andere zu Ma-
Bei den Kranichen im Linumer Bruch 379<br />
terie ausdrücken zu können. Dieses Gespräch wurde zum Beginn einer<br />
langen Freundschaft. Die Frage, wie diese andere Seite genannt<br />
werden sollte, ist immer wieder aufgetaucht. Sie hat immer neue Versuche<br />
hervorgebracht und ist keineswegs abgeschlossen.<br />
Immer deutlicher ist geworden, wie schwer uns die vorherrschenden<br />
modernen Denkformen – und eben schon ihre einflussreichsten<br />
Vorläufer – es uns machen, in diese andere Seite anders hineinzudenken<br />
als mit Vorstellungen und Begriffen, die alles Fließende zum Gerinnen<br />
bringen. Selbst die Worte unserer Umgangssprachen, im Englischen<br />
noch kategorischer als z. B. im Deutschen, sind auf Feststellung<br />
getrimmt. Unsere Grammatik stellt ein Arsenal von Strategien<br />
zur Verfügung, Wirkungen, Tätigkeiten, Weisen des Sich-Ereignens<br />
zur Kristallisierung zu bringen. Und der neuere Sprachgebrauch fordert<br />
gerade diese; am deutlichsten zu erkennen darin, wie alle möglichen<br />
Vorgänge in Substantive gebracht werden und als „Hauptworte“<br />
dann unverrückbare Tatsachen behaupten.<br />
Was könnte am Grunde der Materie sein? Nein, so kommt man bestimmt<br />
nicht weiter. „Was“ richtet die Suche sofort auf etwas, auf etwas<br />
Gegenständliches. „Sein“ weckt im westlichen Gemüt die Begierde,<br />
etwas Verlässliches zu packen zu kriegen, und Verlässlichkeit wird<br />
immer im Festen gesucht. Es geht jedoch um den Fluss der Dinge in<br />
ihrem unaufhörlichen Wandel.<br />
Als erstes habe ich gefragt, ob nicht Bewegung gemeint sei. Ich<br />
dachte dabei an Kräfte, aber in ihrem Wirken; an Dynamik, aber<br />
nicht in den Termini der klassischen Physik und ihrer Mechanismen<br />
und Messungen. Dann war natürlich klar, dass jedenfalls aber diese<br />
Bewegung irgendwie Ordnung haben muss. „Geordnete Bewegung“<br />
wäre auf nicht so viel Anderes hinausgelaufen als „Form“ – zumindest<br />
so lange, wie wir bei dem Wort Ordnung an ein Muster denken, das<br />
definitiv dargestellt werden kann, also wiederum etwas Geordnetes<br />
vorstellt. Zwischenphasen meiner Überlegungen und Vorschläge sind<br />
durch die Worte „ordnungshaft“, später, schon besser, „ordnungsträchtig“<br />
gekennzeichnet. Nun haben wir uns wieder zu dieser Frage<br />
getroffen, nachdem der Begriff „Form“ bei vielen Wissenschaftlern die<br />
Aufforderung provoziert hat, Dürr solle doch dann die Form oder die<br />
Formen benennen, die er da vermute. Genau davor hatte ich bewahren<br />
wollen, was er uns zu sagen hat.<br />
Als wir nun erneut einander gegenüber saßen, hatte ich eine Formel
Hans Joachim Störig<br />
Die Zeit – eine Illusion?<br />
Nun ist er mir auch mit dem Abschied aus dieser<br />
sonderbaren Welt ein wenig vorausgegangen. Dies bedeutet nichts.<br />
Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung<br />
einer wenn auch hartnäckigen Illusion.<br />
Albert Einstein nach dem Tode seines Freundes<br />
und Kollegen Michele Besso an dessen Familie<br />
(31. 3. 1955, einige Wochen, bevor Einstein selbst verstarb)<br />
Ein Dilemma<br />
Wer diese Worte Albert Einsteins liest, dem müssen sich mehrere Fragen<br />
aufdrängen.<br />
Die erste mag lauten: Was meint er mit dem Ausdruck „gläubige<br />
Physiker“? Eins ist sicher: Bestimmt meint er nicht Gläubige im Sinne<br />
der jüdischen oder der christlichen Religion. Dem Christentum<br />
hat Einstein niemals nahe gestanden. Vom jüdischen Glauben seiner<br />
Vorfahren hat er sich ausdrücklich losgesagt. Als er mit 16 Jahren<br />
München und damit das Deutsche Reich verließ und in die Schweiz<br />
ging – teilweise wegen seiner Schwierigkeiten im Gymnasium, teilweise<br />
um sich der militärischen Dienstpflicht zu entziehen –, verzichtete<br />
er auf seine deutsche (württembergische) Staatsbürgerschaft und<br />
trat aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. Später, unter dem<br />
Eindruck der Hitler’schen Judenverfolgung, hat er sich zum Judentum<br />
als seinem „Stamm“ bekannt, nicht aber zum jüdischen Glauben.<br />
In seinem Innern war Einstein jedoch ein tief religiöser Mensch.<br />
Das bezeugen fast beliebig viele mündliche und schriftliche Äußerungen<br />
von ihm, meist sehr knapp formuliert. Die kürzeste ist wohl der<br />
Satz „Gott würfelt nicht“, mit dem er seine Reaktion auf die Ergebnisse<br />
der Quantentheorie zusammenfasste (obwohl er selber zu ihr wesentliche<br />
Anstöße und Beiträge geliefert hatte).
398 Hans Joachim Störig<br />
Zu äußerster Kürze zwang ihn auch das Telegramm, das ein New<br />
Yorker Rabbiner 1929 an Einstein schickte, als diesem von einem Bostoner<br />
Kardinal „atheistische Gedanken“ unterstellt worden waren. Es<br />
lautete: „Glauben Sie an Gott? Bezahlte Antwort 50 Worte.“ Einsteins<br />
Antwort: „Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen<br />
Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit<br />
den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“<br />
Noch ein Bekenntnis Einsteins: „Das Wissen um die Existenz des<br />
für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft<br />
und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten<br />
Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht<br />
wahre Religiosität aus; in diesem Sinne und nur in diesem gehöre ich<br />
zu den tief religiösen Menschen.“ 1<br />
Der Ausdruck „gläubige Physiker“ zielt offenbar nicht auf die Religion,<br />
sondern meint Menschen, die die Erkenntnisse der modernen<br />
Physik – zu denen Einstein das Kernstück beigesteuert hat – zur Grundlage<br />
ihres Weltbildes und ihrer Lebensanschauung gemacht haben.<br />
Die zweite Frage, die sich aufdrängen mag: Steht der alternde Einstein<br />
mit seiner Meinung vielleicht allein? Auch ein Genie kann irren,<br />
und Einstein nahm beinahe täglich neue Gedanken auf, wendete sie<br />
hin und her und ist natürlich auch ab und zu einem Irrtum erlegen.<br />
Einstein, der damals seinem Tod entgegensah, steht aber durchaus<br />
nicht allein. Von Kurt Gödel, berühmt durch sein „Unvollständigkeitstheorem“,<br />
den man als „größten Logiker seit Aristoteles“ bezeichnet<br />
hat und der – was wenig bekannt ist – in Princeton Einsteins engster<br />
Freund und (bis zu Gödels tragischem Tod) auch sein täglicher Begleiter<br />
gewesen ist, stammt der Satz: „In jedem Universum, das sich<br />
mittels der Relativitätstheorie beschreiben lässt, gibt es keine Zeit.“ 2<br />
Von dem Mathematiker Hermann Weyl stammt der lapidare Satz:<br />
„Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht.“ 3<br />
Meinen letzten Kronzeugen muss ich ausführlicher zu Worte kommen<br />
lassen. Brian Greene, einer der angesehensten Physiker, Autor<br />
weltweit verbreiteter Bücher, sagte im Einstein-Jahr 2005 eine Umwälzung<br />
in der Physik voraus, eine völlig neue Formulierung der Naturgesetze,<br />
welche die Physiker zwingen könnte, „die Raum-Zeit-Matrix,<br />
mit der sie seit Jahrhunderten gearbeitet haben, gegen etwas Fundamentaleres<br />
einzutauschen: ein Reich, in dem weder Zeit noch<br />
Raum existieren“. 4
Josef H. Reichholf<br />
Altweibersommer<br />
Verwehende Fäden eines schwindenden Phänomens<br />
Wenn das Korn geerntet war, bauten wir Drachen. Kinderdrachen,<br />
denn es war die Zeit der Kindheit. Für ein paar Pfennige gab es beim<br />
Dorfschreiner dünne Holzlatten. Die eine sollte wenigstens einen Meter<br />
messen und ein gutes Stück länger sein als die andere, die Querlatte.<br />
Zum Kreuz mussten wir sie mit Zwirn binden, denn Nägel hätten<br />
die Latten gespalten. Das war alles andere als einfach. Nur wenn im<br />
Kreuz der Zwirn gut gebunden war, konnte die Querlatte nicht verrutschen,<br />
sosehr der Wind auch daran zerrte. Auf das Kreuz spannten<br />
wir kräftiges Packpapier. An den Ecken durfte es nicht einreißen. Das<br />
ging am besten, wenn das Papier über eine außen herum gespannte,<br />
dünne Schnur umgeschlagen werden konnte. Dann blieben auch die<br />
Außenseiten stabil. Den „Kleber“ dazu machten wir uns aus Mehl und<br />
Wasser. Damit klebten wir dem Drachen aus weißem Papier auf seiner<br />
„Gesichtsseite“ auch zwei Augen und einen Halbmond als Mund. Das<br />
gab einen guten Kontrast zum braunen Packpapier. Von den Seitenecken<br />
und der oberen Spitze führten gleichfalls dünne Schnüre so<br />
zusammen, dass der Mittelpunkt eine Handbreit über die Kreuzmitte<br />
nach vorn verschoben war. Daran wurde die möglichst lange Schnur<br />
befestigt. Bevor es billige Kunststoffschnüre gab, verwendeten wir eine<br />
dünne, aber sehr reißfeste Verpackungsschnur, die vor der Verwendung<br />
auf ein handliches Aststück aufgespult werden musste, damit sie<br />
gut in der Hand abrollte, wenn der Drachen „Schnur brauchte“.<br />
Doch ob er überhaupt in die Luft aufstieg und wie er sich dort halten<br />
ließ, das hing vom Geschick ab, mit der man ihm einen Schwanz<br />
machte. Rund doppelt so lang wie der Drachen selbst sollte dieser sein<br />
und im Abstand von etwa zwei Handbreit jeweils eine „Papierfliege“<br />
tragen. Wir machten diese so groß und auch so ähnlich wie die „Fliegen“,<br />
die bei bestimmten Anlässen als Ersatz für eine Krawatte von<br />
den feinen Herren getragen wurden. Buntes Papier war für den Dra-
408 Josef H. Reichholf<br />
chenschwanz sehr begehrt, aber meistens nicht aufzutreiben. Dafür<br />
befestigten wir je eine Papierquaste an den Seitenecken („Wangen“),<br />
die an einer kurzen Schnur im Wind baumeln konnten.<br />
So einen Drachen zu machen, erforderte Geschick und recht viel<br />
Zeit. Nur ein gut gelungener stieg schön und sicher. Schlampige Produkte<br />
hielten sich nicht. Sie stürzten unter dem feixenden Gelächter<br />
der anderen Jungen ab. Lenkdrachen kannten wir noch nicht. Daher<br />
galt es beim Drachensteigen, stets weit genug voneinander Abstand zu<br />
halten, damit sich die Schnüre nicht überkreuzten. Aber was für ein<br />
Gefühl war das schließlich, wenn der Drachen im Spätsommerwind<br />
hoch stieg und sich fast auf der Stelle hielt, während der Schwanz<br />
Schlangenlinien ins Himmelsblau zeichnete! Gut gemachte Drachen<br />
schossen förmlich empor als könnten sie nicht abwarten, in die Lüfte<br />
zu steigen. Sie ließen sich mit ruhigem Aufrollen der Schnur beliebig<br />
heranziehen oder mit „mehr Schnur“ wieder zum Aufsteigen bringen.<br />
Bei stetem Wind lagen wir im Gras und machten uns flach, damit vorbeikommende<br />
Menschen uns nicht bemerkten und glauben sollten,<br />
die Drachen würden von selbst fliegen. Es gab auch recht geschickte<br />
Burschen, die das Schnurholz mit den Zehen hielten und dem Drachen<br />
eine lange Nase drehten – bis ihn ein Windstoß doch einmal<br />
dem Griff entriss, hochschießen ließ und nach wild-zackigem Kurs<br />
zum Absturz brachte.<br />
Die Drachensaison begann im August. Sie erstreckte sich, je nach<br />
Witterung, in den Herbst hinein. Die schönsten Tage kamen in der<br />
Zeit gleich nach der Kartoffelernte. Damals „klaubte“ man, wie es<br />
hieß, die Kartoffeln noch mit der Hand aus der Erde heraus, nachdem<br />
sie ausgeackert worden waren. Anfänglich zogen Pferde den Pflug,<br />
später dröhnende und viel Ruß ausspuckende Traktoren. Dabei gab es<br />
immer genügend Kartoffeln, die übrig blieben. Diese suchten wir uns<br />
zusammen, und brieten sie im Feuer aus halbdürrem Kartoffelkraut.<br />
Mit der heißen, die Außenschale kohlschwarz versengenden<br />
Aschenglut kam in den Kartoffeln ein unvergleichlicher Geschmack<br />
zustande. Die Feuer rauchten weithin sichtbar und verbreiteten einen<br />
bezeichnend süßlichen Geruch. Er gehörte zum Herbst wie der Wind<br />
und die steigenden Drachen. Für die Dorfjugend gab es kaum etwas<br />
Schöneres als neben dem Kartoffelfeuer in der Herbstsonne zu sitzen,<br />
die Drachenschnur in der Linken, die heiße Kartoffel mit dem mehlig-goldenen<br />
Inneren in der Rechten, den Duft in der Nase und den