BDA Informationen 1.11 - Bund Deutscher Architekten BDA
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Dank intensiver Forschung vervielfältigt sich das historische Wissen;<br />
Geschichte und Geschichtsdeutung sind zentrale Themen in<br />
Philosophie, Literatur und bildender Kunst. Doch das Verhältnis<br />
der Gesellschaft zur Geschichte ist ambivalent. Einem stark auf die<br />
Vergangenheit gerichteten kulturellen Interesse stehen ungeheure<br />
Umwälzungen auf technischem, wirtschaftlichem, politischem und<br />
gesellschaftlichem Gebiet gegenüber. In diesem Spannungsverhältnis<br />
von Vergangenheitsinteresse und Fortschrittsglauben spielt<br />
Geschichte als kulturelle Potenz durchaus unterschiedliche Rollen:<br />
Angesichts der Bedrohungen, welche die rasanten technischen und<br />
sozialen Veränderungen eben auch darstellen, kann „Geschichte“<br />
so unterschiedlichen Aufgaben dienen, wie der Gegenwart den<br />
Spiegel vorzuhalten, Neues in historischem Gewand verständlich<br />
oder wenigstens akzeptabel zu machen oder aber den Rahmen für<br />
eskapistische Gegenwartsverneinung zu bieten. Am stärksten ist<br />
der Einfluss der Historie auf die Architektur. Während auf anderen<br />
kulturellen Feldern Geschichte zum inhaltlichen Thema wird (etwa<br />
literarisch in der Form des historischen Romans), bestimmt in der<br />
Architektur die Geschichte auch die äußere Form. Der potentiell<br />
nostalgische, gegenwartsfeindliche Aspekt des Geschichtsinteresses<br />
wird hier am deutlichsten, etwa in den „Contrasts“ des <strong>Architekten</strong><br />
A.W.N. Pugin, in denen die verhasste gesellschaftliche Realität<br />
einer idealisierten Vergangenheit polemisch gegenübergestellt<br />
wird. Die Erlösung liegt für Pugin in einer Rückkehr zu den Werten<br />
des Mittelalters, veranschaulicht durch eine Wiederaufnahme<br />
gotischer Architektur.<br />
Auch wenn Architektur in Nietzsches Text nicht einmal erwähnt<br />
wird, so sind es doch genau die Gefahren einer lebensfeindlichen<br />
Geschichtsverklärung, die Nietzsche zu seiner zweiten Betrachtung<br />
veranlasst haben. Insofern lässt sich Nietzsches<br />
Text mit Gewinn auch als Grundlagentext<br />
für die Architekturtheorie lesen. Nietzsches<br />
Unterscheidungen sind über den historischen<br />
Kontext ihrer Entstehungszeit hinaus aktuell.<br />
Seinem Text stellt er das Goethezitat voran:<br />
„Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß<br />
belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren<br />
oder unmittelbar zu beleben“, und leitet daraus<br />
für seine Untersuchung folgendes Motto<br />
ab: „Nur soweit die Historie dem Leben dient,<br />
wollen wir ihr dienen.“ Historie und Geschichte<br />
sind für Nietzsche Synonyme, die in nicht<br />
weiter geklärter Begrifflichkeit die tatsächliche<br />
Ereignisgeschichte, Geschichtsschreibung oder<br />
auch Geschichtsauffassung bedeuten können.<br />
In der nachfolgenden Typologie ist Geschichte<br />
oder „Historie“ im Sinne von Geschichtsverständnis<br />
oder Geschichtsinterpretation zu<br />
verstehen. Nietzsche unterscheidet drei Typen<br />
von Historie: „In dreierlei Hinsicht gehört die<br />
Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als<br />
dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem<br />
Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem<br />
Leidenden und der Befreiung Bedürftigen.<br />
Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht<br />
eine Dreiheit von Arten der Historie: eine<br />
monumentalische, eine antiquarische und eine<br />
kritische Art.“<br />
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