Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

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kürzeren Repliken. Und der Schlussvers gar relativiert durch das lapidare scheint die alliterierend formulierte, schöne Vorstellung: die Liebe Liebenden ein Halt. Einen Halt, etwas Stabiles, Solides, eben das bietet der in ständiger Bewegung begriffene Himmelsraum nicht, das Wiegen [...] in dem Wind verweist ebenso auf das Transitorische der Liebe, wie eine ganze Reihe von Begriffen aus dem Kontext Zeit: Eile, kurz, jetzt, vergehen, bleiben, solange, (2x) wie lange, Seit kurzem, Bald. Von der Erde entkommen, die durch die Begriffe jenem Ort, Regen und Schüsse schallen angesprochen ist, zeichnet das Gedicht den Liebenden einen ungewissen Weg vor, der letztlich wohl ins Nichts führen wird; der Halt entpuppt sich als bloßer Schein, die Liebe erfüllt sich in Momenten. Heute mag man an den kurzen Zustand der Schwerelosigkeit in einem Flugzeug assoziieren, das einen entsprechenden Bogen fliegt, ein Phänomen, das Brecht noch nicht kannte. 8 Loslösung des lyrischen Bildes vom realen Gegenstand im 20. Jahrhundert Die Entwicklung der Lyrik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hinein ins 20. ist vielfältig und nicht in wenigen Zeilen zu beschreiben. Als herausragendes Phänomen mag man allerdings herausdestillieren, dass nach dem Verlust des religiösen Hintergrundes und der Vorstellung einer allgemeinen kosmischen Ordnung eine Tendenz zu erkennen ist: Die Bilder verlieren ihre Entsprechung zu konkreten Gegenständen und Begriffen. Sie entfalten mehr und mehr ein Eigenleben, bis hin zum schon in der sprachlichen Manifestation offensichtlichen Paradox, zum Widerspruch, der semantisch nicht mehr zu einem konventionellen Sinn integriert werden kann. Historische Erfahrungen, die beiden Weltkriege, der Holocaust, spielen hier eine Rolle; denken wir nur an Theodor W. Adornos Diktum: „[...] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch [...]“. 65 Anhand von Gedichten Gottfried Benns, Else Lasker-Schülers und Ingeborg Bachmanns stellt Adelheid Petruschke die Entwicklung über die absolute Chiffre hin zum lyrischen Paradox dar. Sie stütz ihre Ausführungen auf die Arbeit von Hartmut Müller. Im Rahmen dieser Darstellung ist nur Raum für eine sehr knappe Skizze. Als theoretische Einstimmung auf die Epoche des Expressionismus schalten sowohl Petruschke als auch das Redaktionsteam des Oberstufenbands von „Blickfeld Deutsch“ 66 einen Text von Kurt Pinthus ein, einen Auszug aus der Vorrede zur Anthologie »Menschheitsdämmerung«. Gottfried Benn, der die Welt als sinnentleert begreift, konstituiert neuen Sinn selbst durch sein lyrisches Schreiben. Die Chiffre als Kunstprodukt leistet dies. Die „Wirklichkeitszertrümmerung“, wie Benn es nennt, die Trennung von Wort und Gegenstand, ermöglicht erst den schöpferischen Akt. Die Bilder Benns sollen Assoziationen auslösen, die der Leser nachzuvollziehen eingeladen ist: Der Leser oder Hörer des Gedichts kann an dieser Welt teilhaben, wenn er sich den Assoziationen öffnet, die Benns Bilder in ihm evozieren wollen, wenn er sich beim Lesen und Interpretieren der Gedichte verdeutlicht, dass das lyrische Ich sich in völlige Subjektivität zurückgezogen hat, dass die Worte von Raum, Zeit und Kausalzusammenhängen losgelöst sind und in der Weise, wie sie montiert sind oder auseinander entstehen, eine neue geistige Dimension erschließen. 67 Die ‚absolute Chiffre’ kombiniert völlig unzusammenhängende Wörter und erzeugt dadurch eine neue poetische Aussage. Hartmut Müller erläutert zum Begriff der absoluten Chiffre: 65 In Adornos Essay 'Kulturkritik und Gesellschaft', 1951 66 Blickfeld Deutsch. Oberstufe, hrsg. von Peter Mettenleitner und Stephan Knöbl, Paderborn, Schöning 2003, S. 338 67 Petruschke 2004, S. 11 24

„Für ein Gefühl oder eine Erkenntnis sucht der Dichter eine bildliche Entsprechung in der sprachlichen Formulierung, ein ‚objective correlative’ (T.S.Eliot). Diese Entsprechung soll im Leser oder Hörer ein ähnliches Gefühl, eine ähnliche Vorstellung wecken. H.O. Burger hat diese moderne Metapher ‚evokatives Äquivalent’ genannt.“ 68 Als Konsequenz fällt dem Leser auf diese Weise in höherem Maße die Aufgabe zu, die Bedeutung des Gedichtes nicht nur zu rezipieren, zu erschließen, verständig aufzunehmen, sondern selbst zu konstituieren, schöpferisch tätig zu sein. Die Deutung eines lyrischen Textes selbst gerät damit in den Bereich des Subjektiven; e i n e korrekte Interpretation existiert damit noch weit weniger als in traditioneller Dichtung. Unter dem Stichwort „Spezifische Interpretationsschwierigkeiten bei ‚moderner Literatur’“ findet sich im Oberstufenband von »Blickfeld Deutsch« folgender Hinweis: „Die ‚moderne Literatur’ - eine Bezeichnung, die nicht mit Gegenwartsliteratur gleichgesetzt werden darf – gilt als spröde, fremd, esoterisch, ja sogar als unzugänglich und verschlossen (hermetisch). Dies trifft besonders auf die Lyrik zu: ‚Die europäische Lyrik des 20. Jahrhunderts bietet keinen bequemen Zugang. Sie spricht in Rätseln und Dunkelheiten.’ (Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, 1956.) Wer solche Texte verstehen und deuten will, sollte sich zwei Beobachtungen von T.S. Eliott immer wieder vergegenwärtigen: - ‚Der Sinn eines Gedichtes kann weiter reichen als die bewusste Absicht seines Dichters.’ - ‚Die Deutung des Lesers kann von der des Verfassers abweichen und doch ebenso gültig – ja, sie kann sogar besser sein. Es kann viel mehr in einem Gedicht liegen, als dem Verfasser bewusst war.’“ 69 Den Materialien auf CD-Rom ist auch ein Artikel aus dem Brockhaus mit dem Titel „Das Spektrum moderner Lyrik“ beigegeben, der zur ergänzenden Lektüre empfohlen sei. Da der Autor, Dieter Lamping, die europäische Dimension mit einbezieht, geht er auch auf Charles Baudelaire, den häufig als ersten modernen Lyriker apostrophierten französischen Dichter der Mitte des 19. Jahrhunderts, und dessen Werk »Les Fleurs du Mal« ein. Lexikonartikel: „Das Spektrum moderner Lyrik“ Liste nützliche Synopsen zum Epochenüberblick 25 Spektrum-moderne-Lyrik.doc Synopsen.doc 9 Literaturverzeichnis Die verwendete Literatur ist in den Fußnoten angeben, darüber hinaus enthalten im der Gesamt-Literaturliste zur Fortbildung (Bibliografie.doc). Kurztitel Binneberg 2007 Binneberg, Kurt: Liebeslyrik. Lektürehilfen. Stuttgart, Klett 2007 Burdorf 1997 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. aktual. u. überarb. Aufl., Stuttgart 1997 Gnüg 1989 Nichts ist versprochen. Liebesgedichte der Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg, Stuttgart, Reclam 1989 Gnüg 2003 Gnüg, Hiltrud, Hrsg.: Liebesgedichte der Gegenwart. Interpretationen. Stuttgart, Reclam 2003 Killy: Wandlungen Killy, Walther: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen 1956, 8., neu bearb. Aufl., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1998 Lindenhahn/Neugebauer Lindenhahn, Reinhard und Neugebauer, Birgit: Lyrik: Liebe vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. von 2007 Dietrich Erlach und Bernd Schurf, Berlin, Cornelsen 2007 Lindenhahn: Aufklärung Lindenhahn, Reinhard: Aufklärung. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Berlin, Cornelsen 1995 Lindenhahn: Barock Lindenhahn, Reinhard (Hrsg.): Barock. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Berlin, Cornelsen 2001 Lindenhahn: Romantik Lindenhahn, Reinhard: Romantik. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Berlin, Cornelsen 1998 Lindenhahn: Sturm und Lindenhahn, Reinhard: Sturm und Drang. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Drang Berlin, Cornelsen 1996 Lindenhahn: Weimarer Lindenhahn, Reinhard: Weimarer Klassik. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Klassik Berlin, Cornelsen 1996 Petruschke 2004 Petruschke, Adelheid: Lyrik von der Klassik bis zur Moderne. Stundenblätter Deutsch. Leipzig, Klett 2004 Petruschke 2006 Liebeslyrik, ausgewählt von Adelheid Petruschke, Stuttgart, Klett 2006 68 Zit. nach Petruschke, a.a.O., S.11 69 Blickfeld Deutsch. Oberstufe, a.a.O., S. 424

kürzeren Repliken. Und <strong>der</strong> Schlussvers gar relativiert durch das lapidare sche<strong>in</strong>t die<br />

alliterierend formulierte, schöne Vorstellung: die Liebe Liebenden e<strong>in</strong> Halt.<br />

E<strong>in</strong>en Halt, etwas Stabiles, Soli<strong>des</strong>, eben das bietet <strong>der</strong> <strong>in</strong> ständiger Bewegung begriffene<br />

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<strong>der</strong> Liebe, wie e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Begriffen aus dem Kontext Zeit: Eile, kurz, jetzt,<br />

vergehen, bleiben, solange, (2x) wie lange, Seit kurzem, Bald.<br />

Von <strong>der</strong> Erde entkommen, die durch die Begriffe jenem Ort, Regen und Schüsse schallen<br />

angesprochen ist, zeichnet das Gedicht den Liebenden e<strong>in</strong>en ungewissen Weg vor, <strong>der</strong><br />

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Brecht noch nicht kannte.<br />

8 Loslösung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> vom realen<br />

Gegenstand im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> Lyrik ab <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s 20. ist<br />

vielfältig und nicht <strong>in</strong> wenigen Zeilen zu beschreiben. Als herausragen<strong>des</strong> Phänomen mag<br />

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Bil<strong>der</strong> verlieren ihre Entsprechung zu konkreten Gegenständen und Begriffen. Sie entfalten<br />

mehr und mehr e<strong>in</strong> Eigenleben, bis h<strong>in</strong> zum schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> sprachlichen Manifestation<br />

offensichtlichen Paradox, zum Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> semantisch nicht mehr zu e<strong>in</strong>em<br />

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Weltkriege, <strong>der</strong> Holocaust, spielen hier e<strong>in</strong>e Rolle; denken wir nur an Theodor W. Adornos<br />

Diktum: „[...] nach Auschwitz e<strong>in</strong> Gedicht zu schreiben, ist barbarisch [...]“. 65<br />

Anhand von Gedichten Gottfried Benns, Else Lasker-Schülers und Ingeborg Bachmanns<br />

stellt Adelheid Petruschke die Entwicklung über die absolute Chiffre h<strong>in</strong> zum <strong>lyrischen</strong><br />

Paradox dar. Sie stütz ihre Ausführungen auf die Arbeit von Hartmut Müller. Im Rahmen<br />

dieser Darstellung ist nur Raum für e<strong>in</strong>e sehr knappe Skizze.<br />

Als theoretische E<strong>in</strong>stimmung auf die Epoche <strong>des</strong> Expressionismus schalten sowohl<br />

Petruschke als auch das Redaktionsteam <strong>des</strong> Oberstufenbands von „Blickfeld Deutsch“ 66<br />

e<strong>in</strong>en Text von Kurt P<strong>in</strong>thus e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Auszug aus <strong>der</strong> Vorrede zur Anthologie »Menschheitsdämmerung«.<br />

Gottfried Benn, <strong>der</strong> die Welt als s<strong>in</strong>nentleert begreift, konstituiert neuen S<strong>in</strong>n selbst durch<br />

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wie Benn es nennt, die Trennung von Wort und Gegenstand, ermöglicht<br />

erst den schöpferischen Akt. Die Bil<strong>der</strong> Benns sollen Assoziationen auslösen, die <strong>der</strong> Leser<br />

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Der Leser o<strong>der</strong> Hörer <strong>des</strong> Gedichts kann an dieser Welt teilhaben, wenn er sich den<br />

Assoziationen öffnet, die Benns Bil<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihm evozieren wollen, wenn er sich beim Lesen und<br />

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zurückgezogen hat, dass die Worte von Raum, Zeit und Kausalzusammenhängen losgelöst<br />

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Dimension erschließen. 67<br />

Die ‚absolute Chiffre’ komb<strong>in</strong>iert völlig unzusammenhängende Wörter und erzeugt dadurch<br />

e<strong>in</strong>e neue poetische Aussage. Hartmut Müller erläutert zum Begriff <strong>der</strong> absoluten Chiffre:<br />

65 In Adornos Essay 'Kulturkritik und Gesellschaft', 1951<br />

66 Blickfeld Deutsch. Oberstufe, hrsg. von Peter Mettenleitner und Stephan Knöbl, Pa<strong>der</strong>born, Schön<strong>in</strong>g 2003,<br />

S. 338<br />

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