Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

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09.11.2012 Aufrufe

denbaum, ewige Treue, Schwur, Kuss. Auch an Diminutiven fehlt es nicht: Liebchen, Äuglein. Das Rokoko scheint auf im sechsten Vers, im heiteren Kichern, Kosen, Küssen. Gebrochen wird die romantische Folie durch den Biss, die unzweideutige Antwort der Angesungenen. Das lyrische Ich enthält sich jedoch nicht einer differenzierten Bewertung am Schluss des Gedichts. Über 10.000 Mal wurden Gedichte aus dem »Buch der Lieder« vertont. Ein Beispiel findet sich auf der Begleit-CD. „Mir träumte wieder der alte Traum“, eine Vertonung des Gedichts im Zusammenhang mit dem Literatur-Café 22 heine_mir_traeumte_wieder_der_alte _traum.mp3 7 Bertolt Brecht: Liebeslyrik im Kontext des epischen Theaters Von der zwanzigbändigen Gesamtausgabe des Werks von Bertolt Brecht entfallen immerhin drei Bände auf Gedichte. Für diese Arbeit soll beispielhaft ein Gedicht betrachtet werden, das nicht eigentlich alleine zu betrachten ist, sondern in erster Linie als Teil eines größeren literarischen Textes, eines Stücks, wie Brecht seine Dramen nennt. Zugleich gehört es in eine Reihe von Liebessonetten zum Thema käufliche Liebe oder unpersönliche Liebe, die Brecht in den Zwanzigern schrieb. „Die Liebenden“ 61 ist als Song in der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ enthalten. In der 14. Szene, vor der Kulisse einer ärmlichen Bar, singen ihn die Prostituierte Jenny und der Holzfäller Paul Ackermann im Wechsel. Auf den kommentierenden Tafeln im Hintergrund liest der Zuschauer den minimalen Text „LIEBEN“ in riesigen Lettern. Das Gedicht ist hier im die letzten Verse auftrennenden Satz des Operntextes wiedergegeben, die Zuordnung zu Jenny und Paul in der rechten Spalte angezeigt. Die Verszahlen zeigen die Anordnung in Gedichtform. Die letzte vier Verse sind nicht in der Fassung enthalten, die Brecht 1952 in »Hundert Gedichte« aufnahm. Die Bildlichkeit dieses Gedichts kontrastiert den düsteren dramatischen Kontext, verlagert den gesamten Themenkomplex Liebe in die geradezu schwerelose Sphäre der Luft und des Fluges. Als Kraniche erscheinen die Liebenden. Die sie begleitenden Wolken sind ein Symbol für die Liebe: schwerelos, ohne Ziel treibend, ineinander verschlungen. 62 Im Dialog entfaltet sich ein Bild reiner Liebe, durch Höhe geschieden von den elenden Lebensbedingungen am Boden, dem Ort kapitalistischer Realität. Wenn sich die Prostituierte Jenny dabei dennoch eines von Schwärmerei freien Vokabulars bedient, kommt hier Brechts lyrische Position seit Mitte der zwanziger Jahre – in Abgrenzung zu Rainer Maria Rilke, Franz Werfel oder Stefan George - zum Ausdruck: Brechts revolutionärste Tat als Dichter war das, was er die ‚Sprachwaschung’ nannte. Damit, daß er seine Diktion von allem ornamentalen und sentimentalen Beiwerk entkleidete, vermied 61 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1967. Stücke, Band 2, S. 535f Manfred Zapatka liest dieses Gedicht auf der CD Ich liebe Dich. Prominente Stimmen lesen Liebeslyrik. Hrsg. von Gabriele Kreis. Hamburg, Hörbuch-Verlag, 2002 62 Langer Klaus und Steinberg, Sven: Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte in Beispielen für den Deutschunterricht. München, Bayerischer Schulbuch Verlag 2003, S. 302

er die gefährlichen Fußangeln der ‚engagierten’ Lyrik und gewann so exemplarische Bedeutung für viele jüngere Dichter nach dem zweiten Weltkrieg. 63 Hamburger bemerkt aber auch: [...] sein Lied Die Liebenden [...] ist das am nachhaltigsten beeindruckende von vielen Gedichten, in denen eine recht rauhe Wirklichkeit eine ganz eigene Zartheit der Empfindung abwirft. 64 Bertolt Brecht Die Liebenden (um 1928) Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Jenny Die Wolken, welche ihnen beigegeben Paul Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Jenny Aus einem Leben in ein andres Leben Paul 5 In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Jenny Scheinen sie alle beide nur daneben. beide Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen Jenny Daß also keines länger hier verweile Paul 10 Und keines andres sehe als das Wiegen Jenny Des andern in dem Wind, den beide spüren Die jetzt im Fluge beieinander liegen So mag der Wind sie in das Nichts entführen Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben Paul 15 Solange kann sie beide nichts berühren Jenny Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. Paul So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Jenny 20 Wohin ihr? Paul Nirgendhin. Jenny Von wem davon? Paul Von allen. Jenny 21 Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Paul Seit kurzem. Jenny 22 Und wann werden sie sich trennen? Paul Bald. Jenny 23 So scheint die Liebe Liebenden ein Halt. beide Den Raum umschreibt Brecht mit den Begriffen Wolken [...] Zogen, Höhe, Himmel, Wind, zuletzt, als Ziel, das Nichts. Die Liebenden sind repräsentiert durch die Worte Kraniche, entflogen, befliegen, im Fluge beieinander liegen, Fliegen hin. Die heraufbeschworene Harmonie stören jedoch ab etwa der Mitte des Gedichts verneinende Vokabeln: keines (2x), Nichts, nicht vergeben, nichts berühren, Nirgendhin. Und wie das kunstvoll verschränkte Reimschema ab Vers 20 abbricht, wird der fünfhebige Jambus unterbrochen, teilen sich die beiden Sprecher bis zu vierfach in einen einzigen Vers. Geradezu hektisch, hastig wirkt die zum Ende hin gesteigerte Dynamik von Rede und Gegenrede in immer 63 Michael Hamburger: Die Dialektik der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Konkreten Poesie. München 1972, S. 250 64 a.a.O., S. 255 23

denbaum, ewige Treue, Schwur, Kuss. Auch an Dim<strong>in</strong>utiven fehlt es nicht: Liebchen,<br />

Äugle<strong>in</strong>. Das Rokoko sche<strong>in</strong>t auf im sechsten Vers, im heiteren Kichern, Kosen, Küssen.<br />

Gebrochen wird die romantische Folie durch den Biss, die unzweideutige Antwort <strong>der</strong><br />

Angesungenen. Das lyrische Ich enthält sich jedoch nicht e<strong>in</strong>er differenzierten Bewertung<br />

am Schluss <strong>des</strong> Gedichts.<br />

Über 10.000 Mal wurden Gedichte aus dem »Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>« vertont. E<strong>in</strong> Beispiel f<strong>in</strong>det<br />

sich auf <strong>der</strong> Begleit-CD.<br />

„Mir träumte wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte Traum“, e<strong>in</strong>e Vertonung<br />

<strong>des</strong> Gedichts im Zusammenhang mit<br />

dem Literatur-Café<br />

22<br />

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7 Bertolt Brecht: <strong>Liebeslyrik</strong> im Kontext <strong>des</strong><br />

epischen Theaters<br />

Von <strong>der</strong> zwanzigbändigen Gesamtausgabe <strong>des</strong> Werks von Bertolt Brecht entfallen<br />

immerh<strong>in</strong> drei Bände auf Gedichte. Für diese Arbeit soll beispielhaft e<strong>in</strong> Gedicht betrachtet<br />

werden, das nicht eigentlich alle<strong>in</strong>e zu betrachten ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als Teil e<strong>in</strong>es<br />

größeren literarischen Textes, e<strong>in</strong>es Stücks, wie Brecht se<strong>in</strong>e Dramen nennt. Zugleich<br />

gehört es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von Liebessonetten zum Thema käufliche Liebe o<strong>der</strong> unpersönliche<br />

Liebe, die Brecht <strong>in</strong> den Zwanzigern schrieb.<br />

„Die Liebenden“ 61 ist als Song <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oper „Aufstieg und Fall <strong>der</strong> Stadt Mahagonny“<br />

enthalten. In <strong>der</strong> 14. Szene, vor <strong>der</strong> Kulisse e<strong>in</strong>er ärmlichen Bar, s<strong>in</strong>gen ihn die Prostituierte<br />

Jenny und <strong>der</strong> Holzfäller Paul Ackermann im Wechsel. Auf den kommentierenden Tafeln<br />

im H<strong>in</strong>tergrund liest <strong>der</strong> Zuschauer den m<strong>in</strong>imalen Text „LIEBEN“ <strong>in</strong> riesigen Lettern. Das<br />

Gedicht ist hier im die letzten Verse auftrennenden Satz <strong>des</strong> Operntextes wie<strong>der</strong>gegeben,<br />

die Zuordnung zu Jenny und Paul <strong>in</strong> <strong>der</strong> rechten Spalte angezeigt. Die Verszahlen zeigen<br />

die Anordnung <strong>in</strong> Gedichtform. Die letzte vier Verse s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung enthalten,<br />

die Brecht 1952 <strong>in</strong> »Hun<strong>der</strong>t Gedichte« aufnahm.<br />

Die Bildlichkeit dieses Gedichts kontrastiert den düsteren dramatischen Kontext, verlagert<br />

den gesamten Themenkomplex Liebe <strong>in</strong> die geradezu schwerelose Sphäre <strong>der</strong> Luft und<br />

<strong>des</strong> Fluges. Als Kraniche ersche<strong>in</strong>en die Liebenden.<br />

Die sie begleitenden Wolken s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Symbol für die Liebe: schwerelos, ohne Ziel treibend,<br />

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Im Dialog entfaltet sich e<strong>in</strong> Bild re<strong>in</strong>er Liebe, durch Höhe geschieden von den elenden<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen am Boden, dem Ort kapitalistischer Realität. Wenn sich die Prostituierte<br />

Jenny dabei dennoch e<strong>in</strong>es von Schwärmerei freien Vokabulars bedient, kommt<br />

hier Brechts lyrische Position seit Mitte <strong>der</strong> zwanziger Jahre – <strong>in</strong> Abgrenzung zu Ra<strong>in</strong>er<br />

Maria Rilke, Franz Werfel o<strong>der</strong> Stefan George - zum Ausdruck:<br />

Brechts revolutionärste Tat als Dichter war das, was er die ‚Sprachwaschung’ nannte. Damit,<br />

daß er se<strong>in</strong>e Diktion von allem ornamentalen und sentimentalen Beiwerk entkleidete, vermied<br />

61 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, Suhrkamp 1967. Stücke, Band 2, S. 535f<br />

Manfred Zapatka liest dieses Gedicht auf <strong>der</strong> CD Ich liebe Dich. Prom<strong>in</strong>ente Stimmen lesen <strong>Liebeslyrik</strong>. Hrsg.<br />

von Gabriele Kreis. Hamburg, Hörbuch-Verlag, 2002<br />

62 Langer Klaus und Ste<strong>in</strong>berg, Sven: Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte <strong>in</strong> Beispielen für den<br />

Deutschunterricht. München, Bayerischer Schulbuch Verlag 2003, S. 302

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