Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik

„Neue Liebe, neues Leben“, das sehr viel direkter die Angstgefühle des Liebenden, des
Geliebten anspricht, zum Ende hin gar in faustischen Tönen. Es ergeben sich inhaltliche,
zumal biografische Parallelen bei sehr verschiedener formaler und stilistischer Umsetzung.
Der Goethe-Biograph Richard Friedenthal würdigt die Lage des 26-jährigen Genies so:
„Goethe liebt auf sehr verschiedenene Weise. Hier, so scheint es, ist ihm zum einzigen Male
ein weibliches Wesen begegnet, dem er unterlegen war und dem er sich nicht oder nur sehr
schwer entziehen konnte. Diese Lili war keine ‚Schwester’-Natur. Sie war keine schon
Verheiratete oder Versagte oder allzu Junge oder Bequeme. Diese Demoiselle Elisabeth
Schönemann war sehr unbequem. Die Liebe zu ihr war eine hitzige, brennende, quälende
Angelegenheit, ein wirkliches Feuer, nicht eines, an dem man sich wärmen und von dem man
aufstehen konnte, wenn es einem zu stark wurde. Damit ist nichts über die anderen Lieben
gesagt, die andere Bedeutung hatten. Hier aber, zum ersten und wohl auch einzigen Male, hat
er sich gefangen gefühlt, ‚im Sack’ [...]“ 45
Abschließend sei ein Wort Thomas Manns zitiert:
„Was wir von Vorstellungen von Harmonie, glücklicher Ausgewogenheit und Klassizität mit
Goethes Namen verbinden, war nichts leichthin Gegebenes, sondern eine gewaltige Leistung,
das Werk von Charakterkräften, durch welche dämonisch-gefährliche und möglicherweise
zerstörerische Anlagen überwunden, genützt, verklärt, versittlicht wurden, zum Guten und
Lebensdienlichen gewendet und gezwungen.“ 46
Die von Goethe erreichte vollkommene Harmonie des lyrischen Bildes überdauert die
Klassik nicht:
„Dieses Bild [das lyrische Bild, d.Verf.] hat selbst Geschichte, und die Bedingungen, unter
denen es sich bei Goethe darstellt, sind unwiederholbar. Offenbar wohnen den Grundelementen
des Bildes zentrifugale Kräfte ein, und der Mensch liebt es, einzelnen Aspekten ein
Übergewicht vor den anderen zu geben. Die klassische Einheit dauert nicht. Man kann die
Geschichte des lyrischen Bildes als den Vorgang der Emanzipation der klassischen
Bildelemente verstehen. Dabei gewinnen entweder das subjektive Fühlen oder eine den
Gegenstand überstimmende Bedeutung den Vorrang, ganz abgesehen von der stets
gegenwärtigen Möglichkeit, das Reale an sich (das an sich gleichgültig ist) für vollkommen
wichtig zu nehmen.“ 47
5 Romantische Sprachmusik – romantische Chiffre
Liebeslyrik in der Romantik
In der Erzählung »Aus der Chronika eines fahrenden Schülers« findet sich Clemens
Brentanos berühmtes Gedicht „Der Spinnerin Nachtlied“. Entstanden ist es 1802, da
schickte der Dichter es seinem Freund Achim von Arnim in einem Brief, im Druck
erschienen jedoch erst 1818. 48
45
Friedenthal, Richard: Goethe – sein Leben und seine Zeit. München, 1963, S. 193
46
Thomas Mann (Ansprache im Goethejahr 1949)
47
Killy: Wandlungen, S. 27
48
Brentano, Clemens, Werke. Herausgegeben von Friedhelm Kemp, Bd. 1-4, München (Hanser) 1963-68,
Bd 1, S. 131 ff
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