Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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pher, die auf eine dem Problem nicht angemessene Diskussionskultur verweist. Die Diskussionsteilnehmer überböten (»legt […] obendrauf«) sich mit »›klugen‹ Vorschlägen«. Die Debatte erweckt demnach den Eindruck, dass derjenige sich durchsetzt, der die kontraproduktivsten Vorschläge macht. Die vom Text dann als Beispiele angeführten Vorschläge zeichnen sich dadurch aus, dass sie allesamt Arbeitszeiten verlängern möchten. Damit lässt sich dann auch die obige Lesart verwerfen, die davon ausging, dass die Debatte deshalb nicht gemeinsam geführt werde, weil beide Seiten aneinander vorbeiredeten. An dieser Sequenzstelle wird vom Text deutlich gemacht, dass es sich um einseitige Forderungen nach Arbeitszeitverlängerungen seitens arbeitgeberinnenfreundlicher gesellschaftlicher Kräfte handelt. Der Text macht sich also an dieser Stelle klar als arbeitnehmerinnenfreundlich kenntlich und kritisiert relativ stark die Arbeitgeberinnenseite. Der Text geht davon aus, dass es in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft) ein gemeinsames übergreifendes Muster gebe, mit Arbeitszeit umzugehen. Dieses Muster ist aus einem Bündel von Forderungen nach Arbeitszeitverlängerung zusammengesetzt und wird von ihm kritisch angesprochen. Diese Forderungen werden wie folgt durch den Text weiter beschrieben: »All dies ist unsensibel, weil es von den Arbeitnehmern als Summe von Belastungen wahrgenommen wird. Es schadet auch bei notwendigen betrieblichen Anpassungen, weil es überflüssigen Widerstand provoziert und den Blick auf die Realität ebenso versperrt wie auf das, was vorrangig zu tun ist.« Die Forderungen werden als »unsensibel« bezeichnet. Sie verletzen die Arbeitnehmerinnen, weil sie die Forderungen als »Summe von Belastungen wahrnehmen«. Die Forderungen sind demnach nicht klug, weil sie diejenigen, an die sie gerichtet sind, verletzen. Es stellt sich die Frage, warum die Forderungen unsensibel sein sollen. Eine Lesart besteht darin zu sagen, dass sie unsensibel sind, weil Arbeitszeitverlängerungen generell den Interessen der Mitarbeiterinnen widersprechen und diese daher nicht ausreichend beachten. Diese Lesart würde dann widerlegt sein, wenn der Text sich im späteren Verlauf selbst positiv auf die Verlängerung von Arbeitszeiten beruft, mit dem Anspruch, dies sensibel genug zu machen. Aus Gründen einer lineareren Darstellung soll das Sequentialitätsprinzip hier – also in der Darstellung und nicht in der Analyse – verletzt werden, indem vorgegriffen wird. Der Text vertritt später nämlich selbst die Forderung nach Arbeitszeitverlängerung. Daher kann diese Lesart schon an dieser Stelle verworfen und muss nicht unnötigerweise in der Darstellung ›mitgeschleppt‹ werden. Es muss dann eine andere Lesart entwickelt werden: Die Bezeichnung »unsensibel« kann sich auch stärker auf die Mitteilungsebene einer Aussage beziehen und nicht so sehr auf die inhaltliche Qualität der Information. Ein Gedanke kann zwar absolut richtige Gegenstandsbezüge herstellen, aber dennoch unsensibel geäußert werden (man denke etwa an eine in unangemessener Form erteilte Todesnachricht). Die Umstände, der Zeitpunkt oder die Art und Weise der Formulierung einer Äußerung können unsensibel sein, wenn sie die Adressatin oder die Person, über 94
die geredet wird, in irgendeiner Form unangemessen ansprechen – wenn sie also ihren ›Zustand‹ nicht mit berücksichtigen. Die Forderungen nach Arbeitszeitverlängerung werden gemäß dieser Lesart nicht aufgrund ihres geringen Lösungswertes kritisiert, sondern aufgrund der Form der Mitteilung, die dann auf eine bestimmte Art »wahrgenommen« werde. Durch solch ein die Wahrnehmungsmuster der Adressatinnen nicht berücksichtigendes Mitteilungsverhalten werde »überflüssiger Widerstand« provoziert und die Fähigkeit, reale Probleme zu erkennen und anzugehen, gestört. »Überflüssig« muss der Widerstand demnach sein, da es sich lediglich um eine falsche Form der Mitteilung eines prinzipiell richtigen Inhaltes handelt. Es lässt sich jetzt eine erste Regel für die Fallstruktur formulieren, die von einem Vermittlungsproblem ausgeht 17 : Demnach geht der Text davon aus, dass inhaltlich zwar richtige Vorschläge nach Arbeitszeitverlängerung gemacht werden, diese aber durch ein einseitiges, unstrukturiertes und maßloses Mitteilungsverhalten seitens arbeitgeberinnenfreundlicher Gruppen diskreditiert werden. Auf diese Weise wird Arbeitnehmerinnenprotest provoziert, der sich nicht aus Divergenzen in der Sache selbst speist, sondern lediglich aus der kommunikativen Form der Mitteilung. Der Konsens für die notwendigen Arbeitszeitverlängerungen wird so unnötigerweise verspielt. Die Arbeitszeitdebatte wird dadurch selbst zu einem Problem, anstatt Probleme zu lösen. Auf diese Weise kann sie ihr Potenzial, die Abwanderung von Arbeitsplätzen zu stoppen, nicht nutzen. Die Befürworterinnen der Arbeitszeitverlängerung verhalten sich daher unklug. Ihnen fehlt nicht so sehr das fachliche als vielmehr das rhetorische Know-how. 2.4. Gemeinsam für Arbeitsplätze Der Text fährt wie folgt fort: »Die deutschen Unternehmen müssen sich in einer globalisierten Welt behaupten. Bundespräsident Horst Köhler hat darauf hingewiesen, dass drei Milliarden erfolgshungrige, talentierte Menschen zusätzlich auf die Märkte drängen – und sie alle sind prinzipiell zu ähnlichen Leistungen fähig wie wir, aber zu einem Bruchteil der Kosten.« Im weiteren Textverlauf wird auf die Situation der »deutschen Unternehmen« aufmerksam gemacht, die aufgrund der Globalisierung durch einen erhöhten Wettbewerbsdruck gekennzeichnet sei (»sich […] behaupten«). Es wird auf eine mehr oder weniger gesicherte Aussage (»darauf hingewiesen«) der hier zugeschriebenen Autorität des Bundespräsidenten Horst Köhler verwiesen, um die neue Gefahrenlage (»erfolgshungrige, talentierte Menschen«, »drängen«) beschreiben zu können. Demnach stehen »wir«, d. h. der deutsche Industriestandort, in direkter Konkurrenz (»wie wir«) mit einer nicht mehr vorzustellenden Masse 17 Auf Seite 102 meines Textes findet sich eine tabellarische Darstellung der Fallstruktur, in welcher die einzelnen Regelstrukturen aufgeführt werden. Diese soll dem Überblick beim Lesen dienen. 95
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pher, die auf eine dem Problem nicht angemessene Diskussionskultur verweist.<br />
Die Diskussionsteilnehmer überböten (»legt […] obendrauf«) sich <strong>mit</strong> »›klugen‹<br />
Vorschlägen«. Die Debatte erweckt demnach den Eindruck, dass derjenige sich<br />
durchsetzt, der die kontraproduktivsten Vorschläge macht. Die vom Text dann als<br />
Beispiele angeführten Vorschläge zeichnen sich dadurch aus, dass sie allesamt Arbeitszeiten<br />
verlängern möchten. Da<strong>mit</strong> lässt sich dann auch die obige Lesart verwerfen,<br />
die davon ausging, dass die Debatte deshalb nicht gemeinsam geführt<br />
werde, weil beide Seiten aneinander vorbeiredeten. An dieser Sequenzstelle wird<br />
vom Text deutlich gemacht, dass es sich um einseitige Forderungen nach Arbeitszeitverlängerungen<br />
seitens arbeitgeberinnenfreundlicher gesellschaftlicher Kräfte<br />
handelt. Der Text macht sich also an dieser Stelle klar als arbeitnehmerinnenfreundlich<br />
kenntlich und kritisiert relativ stark die Arbeitgeberinnenseite. Der<br />
Text geht davon aus, dass es in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (Politik,<br />
Wissenschaft, Wirtschaft) ein gemeinsames übergreifendes Muster gebe, <strong>mit</strong> Arbeitszeit<br />
umzugehen. Dieses Muster ist aus einem Bündel von Forderungen nach<br />
Arbeitszeitverlängerung zusammengesetzt und wird von ihm kritisch angesprochen.<br />
Diese Forderungen werden wie folgt durch den Text weiter beschrieben:<br />
»All dies ist unsensibel, weil es von den Arbeitnehmern als Summe von Belastungen<br />
wahrgenommen wird. Es schadet auch bei notwendigen betrieblichen Anpassungen,<br />
weil es überflüssigen Widerstand provoziert und den Blick auf die Realität<br />
ebenso versperrt wie auf das, was vorrangig zu tun ist.«<br />
Die Forderungen werden als »unsensibel« bezeichnet. Sie verletzen die Arbeitnehmerinnen,<br />
weil sie die Forderungen als »Summe von Belastungen wahrnehmen«.<br />
Die Forderungen sind demnach nicht klug, weil sie diejenigen, an die sie<br />
gerichtet sind, verletzen. Es stellt sich die Frage, warum die Forderungen unsensibel<br />
sein sollen. Eine Lesart besteht darin zu sagen, dass sie unsensibel sind, weil<br />
Arbeitszeitverlängerungen generell den Interessen der Mitarbeiterinnen widersprechen<br />
und diese daher nicht ausreichend beachten. Diese Lesart würde dann<br />
widerlegt sein, wenn der Text sich im späteren Verlauf selbst positiv auf die Verlängerung<br />
von Arbeitszeiten beruft, <strong>mit</strong> dem Anspruch, dies sensibel genug zu<br />
machen. Aus Gründen einer lineareren Darstellung soll das Sequentialitätsprinzip<br />
hier – also in der Darstellung und nicht in der Analyse – verletzt werden, indem<br />
vorgegriffen wird. Der Text vertritt später nämlich selbst die Forderung nach Arbeitszeitverlängerung.<br />
Daher kann diese Lesart schon an dieser Stelle verworfen<br />
und muss nicht unnötigerweise in der Darstellung ›<strong>mit</strong>geschleppt‹ werden. Es<br />
muss dann eine andere Lesart entwickelt werden: Die Bezeichnung »unsensibel«<br />
kann sich auch stärker auf die Mitteilungsebene einer Aussage beziehen und nicht<br />
so sehr auf die inhaltliche Qualität der Information. Ein Gedanke kann zwar absolut<br />
richtige Gegenstandsbezüge herstellen, aber dennoch unsensibel geäußert werden<br />
(man denke etwa an eine in unangemessener Form erteilte Todesnachricht).<br />
Die Umstände, der Zeitpunkt oder die Art und Weise der Formulierung einer<br />
Äußerung können unsensibel sein, wenn sie die Adressatin oder die Person, über<br />
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