09.11.2012 Aufrufe

Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Das zweite hier zu erwähnende Prinzip ist in der Wörtlichkeit zu sehen. Dieses<br />

Prinzip versteht sich nach dem bisher Gesagten fast von selbst. Wenn die Selektivität<br />

eines Protokolltextes selbst in den hermeneutischen Blick genommen werden<br />

soll, dann muss wortgetreu analysiert werden. Vorschnelles Paraphrasieren<br />

und Theoretisieren als aber auch ein ›Herauspicken‹ der ›schönen Stellen‹ ist<br />

demnach zu vermeiden, wobei zum Ende einer Fallrekonstruktion vielfältige<br />

theoretische Anschlussmöglichkeiten sichtbar werden. Ab welchem Zeitpunkt<br />

theoretische Bezüge zum Einsatz kommen dürfen und auch sollten, lässt sich abstrakt-formal<br />

nicht sagen, genauso wenig ab wann Alltagstheorien aufhören und<br />

soziologische Theorien beginnen. In diesem Sinn bleibt auch die Objektive Hermeneutik<br />

eine ›Kunstlehre‹. Mir scheint es aber sinnvoll zu sein, solche Bezüge<br />

erst herzustellen, wenn sie sich schon fast wie von selbst aufdrängen und man das<br />

Gefühl hat, Mühe aufwenden zu müssen, um sie abzuweisen. Nur so lässt sich<br />

m. E. die methodische Forderung einhalten zunächst »›in der Sprache des Falles‹«<br />

(Oevermann 1981: 51) Kategorien zu bilden (vgl. Oevermann 1983a: 269; Oevermann<br />

et.al. 1976: 396 ff.; Wernet 2000: 23 ff.).<br />

Ein drittes Prinzip besteht in der Kontextfreiheit. Da<strong>mit</strong> wird nicht gesagt, dass<br />

kein Kontextwissen bei der Bildung von Lesarten <strong>mit</strong>einbezogen werden darf.<br />

Das genaue Gegenteil ist der Fall. Es sollen ja möglichst reichhaltige Lesarten gebildet<br />

werden. Jedoch darf dieses Kontextwissen nicht dafür verwendet werden,<br />

um die vom Text vorgenommene Selektion einer Lesart zu bestimmen. Dies muss<br />

stets am Text selbst gezeigt werden. (Oevermann et. al. 1979: 420 ff.; Wernet<br />

2000: 21 ff.)<br />

Mit dem Prinzip der Extensivität wird ein viertes Prinzip formuliert. Demnach<br />

soll kein Textelement bei der Rekonstruktion unberücksichtigt bleiben. Es sollen<br />

möglichst reichhaltige bzw. vielfältige Lesarten gebildet werden. Auf diese Weise<br />

kann verhindert werden, etwas Wichtiges zu übersehen. Da sich immer neue Lesarten<br />

– zumindest abstrakt – denken ließen, sei dieser Prozess aber »prinzipiell nie<br />

abgeschlossen« und könne »nur pragmatisch abgebrochen werden« (Oevermann<br />

et. al. 1976: 391). Wörtlichkeit und Sequentialität fordern eine extensive Interpretation<br />

gewissermaßen heraus (vgl. Oevermann 1983a: 280 ff.; Wernet 2000: 32 ff.).<br />

Das fünfte von der Objektiven Hermeneutik formulierte Prinzip besteht in der<br />

Sparsamkeit, welches scheinbar im Gegensatz zum vorherigen Prinzip der Extensivität<br />

steht. Da<strong>mit</strong> ist jedoch lediglich gesagt, dass erstens keine ähnlichen und<br />

redundanten Lesarten gebildet werden sollen, zweitens keine ›außergewöhnlichen‹<br />

bzw. sehr spekulativen Lesarten und drittens keine unüberprüfbaren Lesarten.<br />

Es ließe sich bei jedem Interaktionsprotokoll beispielsweise sagen, dass die<br />

Sprecherin immer genau das Gegenteil dessen ausdrücken möchte und ihre Zuhörerinnen<br />

es auch auf diese Weise verstehen, als im Protokoll sichtbar wird. Das<br />

Bilden solcher Lesarten wäre für ein textnahes Analyseverfahren, welches eben<br />

den Anspruch auf Sachhaltigkeit erhebt, nicht besonders sinnvoll (vgl. Oevermann<br />

et.al. 1979: 419 f.; Wernet 2000: 35 ff.).<br />

85

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!