Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Kern der objektiven Hermeneutik« (Reichertz 1997: 39), was auch nicht verwundern mag, da sie die oben als zentral herausgestellte Sequentialität von latenten Sinnstrukturen besonders berücksichtigt. Der Kerngedanke bei der Sequenzanalyse besteht – wie sich nach dem bisher Gesagten schon erahnen lässt – darin, »einen realen Prozeß der Selektivität, des Ausschließens von Optionen« (Oevermann 1997 et. al.: 422) rekonstruktiv nachzuzeichnen. 1.5. Prinzipien der Sequenzanalyse Die Sequenzanalyse zeichnet sich durch fünf methodische Prinzipien aus, welche z. T. aber auch für die anderen oben genannten Verfahren gelten (vgl. Wernet 2000: 21). Zentrales Prinzip stellt das Prinzip der Sequentialität dar. Dieses besagt, dass bei der Analyse eines Protokolltextes stets von Sequenz zu Sequenz vorgegangen werden muss und nicht auf spätere Sequenzstellen vorgegriffen werden darf. Wenn die Fallstruktur sequentiell strukturiert ist, dann muss – so das Argument – sich auch eine rekonstruktive Analyse von Sequenz zu Sequenz vortasten. Nur so könnten die sukzessiv stattfindenden Selektionen sowie das jeweilige Öffnen von neuen Anschlussmöglichkeiten erkannt werden. Um nun herauszufinden, welche Regelstruktur zum Einsatz gekommen ist, werden Lesarten gebildet. D. h. es werden verschiedene Wortbedeutungen zusammengetragen, um dann zu sehen, welche Lesart der Text selbst selektiert hat und welche nicht. Das Bilden von Lesarten wird aufgrund der oben schon erwähnten Bedeutungsoffenheit der einzelnen Zeichen notwendig. Durch das Feststellen eines bestimmten Wortes, einer bestimmten Handlung etc. werden zwar schon (Be)deutungsmöglichkeiten eingeschränkt. Dennoch werden aber oft mehr als nur eine Deutung immer noch zugelassen. Um zu prüfen, welche Bedeutungen bzw. Lesarten vom Text selbst ausgeschlossen werden und welche nicht bzw. nicht mehr plausibel sind, müssen sich weitere Sequenzstellen angeschaut werden. Die Widerständigkeit des Textes gegenüber der Bildung von Lesarten macht seine Realität aus. Nicht jede Lesart lässt sich durchhalten, es sei denn man möchte sich außerhalb des kulturell noch Versteh- und Akzeptierbaren stellen. Durch das ständige Aufstellen und Verwerfen von Lesarten lässt sich sagen, dass die objektive Hermeneutik ein streng falsifikatorisches Verfahren darstellt (vgl. Oevermann 2002: 10). Bei der Bildung von Lesarten können Duden und Lexika herangezogen werden, aber es muss in wesentlichen Teilen immer auch auf »intuitives Regelwissen« (Oevermann 1983a: 246) zurückgegriffen werden. Da sich durch das sukzessive ›Aneinanderreihen‹ von Sequenzen Stück für Stück eine Fallstruktur aufbaut, wird es zum Ende eines Textes schwieriger sein, neue Lesarten zu bilden. Dies wird u. a. in meiner Besprechung des Zeitungsartikels von Kannegiesser darin deutlich, dass die ersten Sequenzstellen sehr ausführlich gedeutet werden – fast Wort für Wort – und zum Ende hin nur noch Variationen der schon sichtbar gewordenen Fallstruktur erwähnt werden (müssen) (vgl. Oevermann 1983a: 274; Wernet 2000: 27). 84
Das zweite hier zu erwähnende Prinzip ist in der Wörtlichkeit zu sehen. Dieses Prinzip versteht sich nach dem bisher Gesagten fast von selbst. Wenn die Selektivität eines Protokolltextes selbst in den hermeneutischen Blick genommen werden soll, dann muss wortgetreu analysiert werden. Vorschnelles Paraphrasieren und Theoretisieren als aber auch ein ›Herauspicken‹ der ›schönen Stellen‹ ist demnach zu vermeiden, wobei zum Ende einer Fallrekonstruktion vielfältige theoretische Anschlussmöglichkeiten sichtbar werden. Ab welchem Zeitpunkt theoretische Bezüge zum Einsatz kommen dürfen und auch sollten, lässt sich abstrakt-formal nicht sagen, genauso wenig ab wann Alltagstheorien aufhören und soziologische Theorien beginnen. In diesem Sinn bleibt auch die Objektive Hermeneutik eine ›Kunstlehre‹. Mir scheint es aber sinnvoll zu sein, solche Bezüge erst herzustellen, wenn sie sich schon fast wie von selbst aufdrängen und man das Gefühl hat, Mühe aufwenden zu müssen, um sie abzuweisen. Nur so lässt sich m. E. die methodische Forderung einhalten zunächst »›in der Sprache des Falles‹« (Oevermann 1981: 51) Kategorien zu bilden (vgl. Oevermann 1983a: 269; Oevermann et.al. 1976: 396 ff.; Wernet 2000: 23 ff.). Ein drittes Prinzip besteht in der Kontextfreiheit. Damit wird nicht gesagt, dass kein Kontextwissen bei der Bildung von Lesarten miteinbezogen werden darf. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Es sollen ja möglichst reichhaltige Lesarten gebildet werden. Jedoch darf dieses Kontextwissen nicht dafür verwendet werden, um die vom Text vorgenommene Selektion einer Lesart zu bestimmen. Dies muss stets am Text selbst gezeigt werden. (Oevermann et. al. 1979: 420 ff.; Wernet 2000: 21 ff.) Mit dem Prinzip der Extensivität wird ein viertes Prinzip formuliert. Demnach soll kein Textelement bei der Rekonstruktion unberücksichtigt bleiben. Es sollen möglichst reichhaltige bzw. vielfältige Lesarten gebildet werden. Auf diese Weise kann verhindert werden, etwas Wichtiges zu übersehen. Da sich immer neue Lesarten – zumindest abstrakt – denken ließen, sei dieser Prozess aber »prinzipiell nie abgeschlossen« und könne »nur pragmatisch abgebrochen werden« (Oevermann et. al. 1976: 391). Wörtlichkeit und Sequentialität fordern eine extensive Interpretation gewissermaßen heraus (vgl. Oevermann 1983a: 280 ff.; Wernet 2000: 32 ff.). Das fünfte von der Objektiven Hermeneutik formulierte Prinzip besteht in der Sparsamkeit, welches scheinbar im Gegensatz zum vorherigen Prinzip der Extensivität steht. Damit ist jedoch lediglich gesagt, dass erstens keine ähnlichen und redundanten Lesarten gebildet werden sollen, zweitens keine ›außergewöhnlichen‹ bzw. sehr spekulativen Lesarten und drittens keine unüberprüfbaren Lesarten. Es ließe sich bei jedem Interaktionsprotokoll beispielsweise sagen, dass die Sprecherin immer genau das Gegenteil dessen ausdrücken möchte und ihre Zuhörerinnen es auch auf diese Weise verstehen, als im Protokoll sichtbar wird. Das Bilden solcher Lesarten wäre für ein textnahes Analyseverfahren, welches eben den Anspruch auf Sachhaltigkeit erhebt, nicht besonders sinnvoll (vgl. Oevermann et.al. 1979: 419 f.; Wernet 2000: 35 ff.). 85
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Kern der objektiven Hermeneutik« (Reichertz 1997: 39), was auch nicht verwundern<br />
mag, da sie die oben als zentral herausgestellte Sequentialität von latenten<br />
Sinnstrukturen besonders berücksichtigt. Der Kerngedanke bei der Sequenzanalyse<br />
besteht – wie sich nach dem bisher Gesagten schon erahnen lässt – darin, »einen<br />
realen Prozeß der Selektivität, des Ausschließens von Optionen« (Oevermann<br />
1997 et. al.: 422) rekonstruktiv nachzuzeichnen.<br />
1.5. Prinzipien der Sequenzanalyse<br />
Die Sequenzanalyse zeichnet sich durch fünf methodische Prinzipien aus, welche<br />
z. T. aber auch für die anderen oben genannten Verfahren gelten (vgl. Wernet<br />
2000: 21). Zentrales Prinzip stellt das Prinzip der Sequentialität dar. Dieses besagt,<br />
dass bei der Analyse eines Protokolltextes stets von Sequenz zu Sequenz<br />
vorgegangen werden muss und nicht auf spätere Sequenzstellen vorgegriffen werden<br />
darf. Wenn die Fallstruktur sequentiell strukturiert ist, dann muss – so das Argument<br />
– sich auch eine rekonstruktive Analyse von Sequenz zu Sequenz vortasten.<br />
Nur so könnten die sukzessiv stattfindenden Selektionen sowie das jeweilige<br />
Öffnen von neuen Anschlussmöglichkeiten erkannt werden. Um nun herauszufinden,<br />
welche Regelstruktur zum Einsatz gekommen ist, werden Lesarten gebildet.<br />
D. h. es werden verschiedene Wortbedeutungen zusammengetragen, um dann zu<br />
sehen, welche Lesart der Text selbst selektiert hat und welche nicht. Das Bilden<br />
von Lesarten wird aufgrund der oben schon erwähnten Bedeutungsoffenheit der<br />
einzelnen Zeichen notwendig. Durch das Feststellen eines bestimmten Wortes, einer<br />
bestimmten Handlung etc. werden zwar schon (Be)deutungsmöglichkeiten<br />
eingeschränkt. Dennoch werden aber oft mehr als nur eine Deutung immer noch<br />
zugelassen. Um zu prüfen, welche Bedeutungen bzw. Lesarten vom Text selbst<br />
ausgeschlossen werden und welche nicht bzw. nicht mehr plausibel sind, müssen<br />
sich weitere Sequenzstellen angeschaut werden. Die Widerständigkeit des Textes<br />
gegenüber der Bildung von Lesarten macht seine Realität aus. Nicht jede Lesart<br />
lässt sich durchhalten, es sei denn man möchte sich außerhalb des kulturell noch<br />
Versteh- und Akzeptierbaren stellen. Durch das ständige Aufstellen und Verwerfen<br />
von Lesarten lässt sich sagen, dass die objektive Hermeneutik ein streng falsifikatorisches<br />
Verfahren darstellt (vgl. Oevermann 2002: 10).<br />
Bei der Bildung von Lesarten können Duden und Lexika herangezogen werden,<br />
aber es muss in wesentlichen Teilen immer auch auf »intuitives Regelwissen«<br />
(Oevermann 1983a: 246) zurückgegriffen werden. Da sich durch das sukzessive<br />
›Aneinanderreihen‹ von Sequenzen Stück für Stück eine Fallstruktur aufbaut, wird<br />
es zum Ende eines Textes schwieriger sein, neue Lesarten zu bilden. Dies wird u. a.<br />
in meiner Besprechung des Zeitungsartikels von Kannegiesser darin deutlich, dass<br />
die ersten Sequenzstellen sehr ausführlich gedeutet werden – fast Wort für Wort –<br />
und zum Ende hin nur noch Variationen der schon sichtbar gewordenen Fallstruktur<br />
erwähnt werden (müssen) (vgl. Oevermann 1983a: 274; Wernet 2000: 27).<br />
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