Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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welchen Gründen, wann, wie schnell und wohin läuft etc.). Erst recht gilt dies für<br />
viel offenere ›Zeichen‹ wie zum Beispiel Pausen in Gesprächssituationen. Ob es<br />
sich bei einer Pause lediglich um den Effekt dessen handelt, dass die sprechende<br />
Person beim Sprechen Luft holen muss oder ob es sich um den Ausdruck von<br />
Scham oder Unwillen handelt auf eine Frage zu antworten, wird erst durch die<br />
spezifische Position der Pause im jeweiligen situativen Fall kenntlich (vgl. Oevermann<br />
1981: 51 f.).<br />
Durch diese sequentiell und selektiv stattfindende Art und Weise bildet sich ein<br />
»innerer Kontext« (Oevermann et. al. 1979: 415) heraus, welcher im Gegensatz<br />
zu dem schon oben in Abgrenzung zum Textbegriff eingeführten »äußeren Kontext«<br />
(ebd.) steht. Der »innere Kontext drückt die Selektivität« (ebd.: 422) des interessierenden<br />
Falles aus und ist da<strong>mit</strong> im Gegensatz zum äußeren Kontext für die<br />
empirische Rekonstruktion von Texten entscheidend. Diese Sequentialität, welche<br />
immer auch schon den Begriff der Selektion impliziert, wird in der Objektiven<br />
Hermeneutik als ein konstitutiver Mechanismus jedes Sinnprozesses aufgefasst. 8<br />
Was nun objektiv-hermeneutisch interessiert, sind die fallspezifischen Regelstrukturen<br />
– die Fallstruktur –, die bei der Selektion zum Einsatz kommen. Bei diesen<br />
Regeln handelt es sich für Oevermann nun aber nicht um eine bloße Abstraktion<br />
einer wissenschaftlichen Beobachterin, sondern vielmehr um »eine Maxime, der<br />
das Handlungssubjekt praktisch folgt« (Oevermann 2001: 7) bzw. der »wirklichen<br />
Selektivität des Falles« (Oevermann et. al. 1979: 422). Solche Regelstrukturen<br />
stehen nicht einfach isoliert da, sondern bilden ein oft verworrenes Verweisungsund<br />
Abhängigkeitsgeflecht, das es rekonstruktiv auseinander zu ›friemeln‹ gilt.<br />
Mit dem Begriff der »Rekonstruktion« soll darauf aufmerksam gemacht werden,<br />
dass die sequentiell geordnete Sinnstruktur eines Textes hermeneutisch nachgezeichnet<br />
wird. Die Konstruktion der Sinnstruktur soll materialnah eben re-konstruiert<br />
werden (vgl. dazu auch Holz 2001: 149 ff.).<br />
1.4. Sachhaltige Rekonstruktion protokollierter Wirklichkeit<br />
Doch wie sehen nun die konkreten Forschungs- und Analyseverfahren aus, <strong>mit</strong><br />
denen sich latente Sinnstrukturen rekonstruieren lassen? Hierbei ist zunächst zu<br />
beachten, dass der »konkrete Gegenstand der ›objektiven Hermeneutik‹ […] archivierbare<br />
Fixierungen« (Oevermann et. al. 1979: 378) darstellen. Die Wirklichkeit<br />
bzw. Objektivität objektiver Sinnstrukturen lässt sich nur über eine – im<br />
weitesten Sinn – Aufzeichnung, also durch eine Protokollierung, analytisch erschließen.<br />
Wenn der Untersuchungsgegenstand selbst nicht schon in solch einer<br />
Form vorliegt (wie beispielsweise bei Zeitungsartikeln, Bildern, Gebäuden etc.),<br />
8 Es mag vor dem Hintergrund dieser Konzeption von Sinn nicht verwundern, dass es inzwischen Bestrebungen<br />
gibt, die methodologischen Einsichten der Objektiven Hermeneutik auch für die Systemtheorie fruchtbar zu machen.<br />
Vgl. für methodologische Überlegungen seitens der Systemtheorie Bora (1993), Schneider (1995) und Sutter<br />
(1997) und für eine empirische Studie Holz (2001).<br />
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