Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Bedeutung, die man eigentlich realisieren wollte, stimmt dann nicht <strong>mit</strong> der allgemeinen<br />
Art und Weise überein, wie dem geäußerten Laut Bedeutung zugeschrieben<br />
wird – was man dann auch meistens selber merkt. Wäre die Verbindung zwischen<br />
einem Wort bzw. einem Lautbild und seiner semantischen Dimension<br />
beliebig, könnte jede sich ihre eigene Sprache ›basteln‹ oder bei jedem Versprecher<br />
den Anspruch erheben, dass nun eine neue Regel der Bedeutungszuschreibung<br />
existiere, was wohl offensichtlich nicht der allgemeine Fall ist. Daher müsse<br />
sich nun der objektiv-hermeneutische »Interpret […] nicht auf den Standpunkt<br />
des Senders des Textes oder des konkret anderen, der an der Interaktion beteiligt<br />
war« stellen, »sondern auf den Standpunkt des allgemeinen, gewissermaßen absoluten<br />
anderen« (Oevermann et. al. 1976: 391).<br />
1.2. Zum Verhältnis von Text und Kontext<br />
Aufgrund dieser Objektivierung bzw. innerhalb einer Kulturgemeinschaft objektiv-allgemeinen<br />
Gültigkeit von Sinnstrukturen ist von einer Objektiven Hermeneutik<br />
die Rede. Mit dem Begriff der »Hermeneutik« wird daher nicht »wie in der<br />
klassischen geisteswissenschaftlichen Tradition noch angelegt, an den verstehenden<br />
Nachvollzug subjektiver innerpsychischer Vorgänge oder Zustände« (Oevermann<br />
et. al. 1976: 390) gedacht. Vielmehr ginge es darum objektive Regeln und<br />
Strukturen der Bedeutungsgenerierung hermeneutisch zu rekonstruieren: »Gegenstand<br />
dieser <strong>Methode</strong>, die man vorläufig deshalb als ›objektive Hermeneutik‹ bezeichnen<br />
könnte, ist die Explikation und Rekonstruktion der objektiven Bedeutung<br />
protokollierbarer Symbolketten, nicht der Nachvollzug der psychischen<br />
Prozesse ihrer Produktion« (Oevermann et. al. 1976: 390). 5<br />
Aus diesem Grund steht für eine objektiv-hermeneutische Rekonstruktion der<br />
Text, also die »protokollierbaren Symbolketten«, im Vordergrund und nicht sein<br />
Kontext. Der Text stellt eine »soziale Tatsache sui generis« (Oevermann 2001: 4)<br />
dar, d. h. er zeichnet sich durch eine ihm eigene Form der Realität und Widerständigkeit<br />
aus. Demnach muss auch nicht erst in seinen psychischen und sozialen<br />
Kontexten, welche dann wiederum selbst Texte sind, gesucht werden, um ihn als<br />
sozialwissenschaftliches Analyseobjekt überhaupt zu qualifizieren.<br />
5 Auch 1979 distanzieren sich Oevermann et. al noch von der Bezeichnung »Objektive Hermeneutik«: »Wir nennen<br />
es [das Forschungsprogramm M. L.] – sicherlich nicht sehr glücklich – vorläufig ›objektive Hermeneutik‹,<br />
weil wir da<strong>mit</strong> verdeutlichen wollen, daß es ausschließlich um die sorgfältige, extensive Auslegung der objektiven<br />
Bedeutung von Interaktionstexten, des latenten Sinns von Interaktionen geht, und dieses Verfahren des rekonstruierenden<br />
Textverstehens <strong>mit</strong> einem Nachvollzug innerpsychischer Prozesse, etwa bei Interpretationen von<br />
Befragungsergebnissen oder von durch projektive Tests erzeugten Antworten, nichts zu tun hat« (381). Inzwischen<br />
ist diese vorläufige Bezeichnung zur permanenten geworden, wobei zwischendurch auch andere Bezeichnungen<br />
wie »strukturale Hermeneutik«, »genetischer Strukturalismus« gehandelt wurden (vgl. Reichertz 1997:<br />
31). Im Endeffekt geht es m. E. lediglich darum auszudrücken, dass kommunikative Strukturen in ihrer realen<br />
Operationsweise und nicht psychische Prozesse hermeneutisch rekonstruiert werden sollen. Es ließe sich daher<br />
vielleicht auch von einer »kommunikativen Hermeneutik« sprechen.<br />
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