Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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sche DiskursforscherInnen widmen. Sie offenbaren linksliberale bis libertäre Orientierungen und widmen sich in kritisierender Absicht undemokratischen Entwicklungen auf den Ebenen des Alltags, der Medien und der Politik, in thematischen Bereichen wie Rassismus und Einwanderung, Rechtsextremismus, Antisemitismus, soziale Ausgrenzung oder Biopolitik. Wesentliche Maßstäbe der Kritik – und somit auch Anzeiger der diskursiven Bedingt- und Begrenztheit der KDA selbst – sind dabei oftmals das Grundgesetz oder die allgemeinen Menschenrechte. Die Forschung zu »gesellschaftlich brisanten Themen« (Jäger 2004: 224) beinhaltet explizit auch den Wunsch nach politischer Intervention, etwa in Form der Etablierung und Unterstützung von Gegendiskursen. Das Kritikpotenzial der KDA beschränkt sich also nicht auf den dekonstruktivistischen Aspekt, der unhinterfragte »Wahrheiten« in ihrer sozialen Bedingtheit offenbart. Hinter der KDA steht die Forderung nach politischem Eingriff. Siegfried Jäger (1996) sagt, er möchte: »eine Wissenschaft, die erklären kann, wie überhaupt auf gesellschaftliche Entwicklungen Einfluß genommen werden kann – Einfluß angesichts scheinbar geradezu urgewaltiger Gegenkräfte, gegen die kein Kraut mehr gewachsen scheint. Und Diskurstheorie stellt aus meiner Sicht solche Möglichkeiten bereit – einmal prinzipielle, weil sie sich nicht direkt auf die machtvolle Welt der Vergegenständlichungen richtet, sondern auf die flüchtigere, fragilere, viel angreifbarere, durchlässige Welt auch der Gedanken und Ideen, der Pläne und Hoffnungen und der diskursiven Stützpfeiler von Institutionen und Administrationen, insgesamt auf eine Welt also, in der Wissenschaftler, aber nicht nur sie, sondern alle Menschen, über mehr power und Phantasie verfügen als etwa die Eigner der großen Kapitale oder der Großmogule der Medienlandschaft. […] Es geht mir also darum zu zeigen, daß eine prinzipielle Perspektivenänderung nötig und möglich ist, wenn es um die Frage der politischen Macht im Lande geht.« 2. Orientierung im Gewirr der Diskurse – das heuristische Strukturmodell Der gesamtgesellschaftliche Diskurs ist ein unübersichtliches und komplexes Phänomen. Die KDA hat deshalb Strukturkategorien entwickelt, welche die Navigation im »Fluss des Wissens durch die Zeit« (Jäger 2001: 82) erleichtern. Es handelt sich dabei um diejenigen Begrifflichkeiten, die einen empirischen Zugriff auf das Phänomen Diskurs erst ermöglichen. Zunächst setzt sich der gesellschaftliche Gesamtdiskurs, der in letzter Instanz ein weltgesellschaftlicher ist, aus den Spezialdiskursen (Reden und Denken v. a. innerhalb der Wissenschaften 3 ) und einem Interdiskurs (restliche diskursive Pra- 3 Inhaltlich zeichnen sich Spezialdiskurse dadurch aus, dass Reden in ihnen explizit geregelt und systematisiert ist, Definitionen notwendig sind, Widerspruchsfreiheit gefordert wird, etc. Jäger (2004: 132) weißt allerdings ebenso darauf hin, dass diese Diskursform auch außerhalb der Wissenschaft zu finden ist, genauso wie schwammigere, umgangssprachliche Elemente auch in der Wissenschaft existieren. Aus system- und differenzierungstheoreti- 56
xen) zusammen. Diese grobe Unterteilung kann verfeinert werden, indem man weitere Ebenen (je nach Fokus: Medien, Alltag, Politik, Medizin, Erziehung etc.) differenziert. Jede dieser Ebenen (re)produziert Diskurse nach eigenen Regeln und ist auf jeweils spezifische Weise mit den anderen Ebenen verbunden. 4 Inhaltliche Differenzierungen werden durch Diskursstränge markiert, die spezifische Themenbereiche oder Gegenstände repräsentieren. Diskursstränge besitzen eine hohe »diskursive Energie« (Link zit. in Jäger 2004: 159), das heißt, sie binden Ereignisse, Argumentationsfiguren, Bilder etc. über einen längeren Zeitraum hinweg an sich. Diskursstränge stehen selten isoliert. Sie verschränken sich, überlagern und beeinflussen einander. Symbole, Ereignisse oder Argumente werden in anderen Diskursen aufgegriffen oder assoziativ nebeneinandergesetzt. Inhaltliche, begriffliche und formale Gemeinsamkeiten bieten hierfür die Anschlussstellen. Schließlich können Diskursstränge hierarchisch weiter strukturiert werden, etwa wenn die Diskurse um Einwanderung, Sexismus, Behinderung unter dem Aspekt der Ausgrenzung zusammengefasst werden. Auf der untersten strukturellen Ebene setzen sich Diskurse aus Diskursfragmenten zusammen. Dies sind Texte, oder genauer Textteile, die sich auf ein Thema, d. h. einen Diskursstrang beziehen. Der Begriff Diskursfragment wird dem des Textes als die empirisch fassbare Form von Diskursen vorgezogen, da Texte oftmals mehrere Themen miteinander verknüpfen. Ein Motor und wichtiges Material für Diskurse sind diskursive Ereignisse. Ob ein Thema wichtig, ein Geschehnis ein diskursives Ereignis wird, hängt davon ab, ob es eine starke Öffentlichkeit auf sich ziehen kann. Diskursive Ereignisse werden aus bestehenden Diskursen heraus als solche wahrgenommen und gedeutet und affirmieren sie dadurch. Gleichzeitig wohnt ihnen aber auch ein Veränderungspotential inne und sie können durch ihre Dynamiken Inhalte und Kräfteverhältnisse beeinflussen. So sind beispielsweise die PalästinenserInnen als Gruppe mit nationalen Aspirationen erst durch das diskursive (Medien-)Ereignis Sechs- Tage-Krieg (1967) in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit (und auch der politischen Linken) getreten, wo sie vorher allenfalls unter »arabische Flüchtlinge« abgespeichert waren. Fortan strukturierte sich der gesamte Nahostdiskurs anders. In Deutschland markierte dieser Krieg zugleich einen Wechsel von einer vergangenheitspolitisch motivierten positiven linken Sichtweise auf Israel zu einer zumindest vordergründig gegenwartsorientierten kritischen bis feindlichen Sicht (Kloke 1994: 111 ff.). scher Perspektive wäre deshalb zu ergänzen, dass sich in allen gesellschaftlichen Teilbereichen notwendig spezielle Kommunikation bildet, die in anderen Subsystemen nicht ohne weiteres anschlussfähig ist, Spezialdiskurse somit ein universelles Phänomen darstellen. 4 Die inhaltliche Nähe der KDA zu einigen Einsichten der Systemtheorie ist am offensichtlichsten in der Unterscheidung der Ebenen, die letztlich gesellschaftliche Teilsysteme darstellen. Dass dies theoretisch kaum durchdrungen wird, ist Ausdruck der sprachwissenschaftlichen Ursprünge der KDA und somit – trotz gleicher Gegenstände – der Ferne von der soziologischen Theoriebildung. 57
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differenziert. Jede dieser Ebenen (re)produziert Diskurse nach eigenen Regeln<br />
und ist auf jeweils spezifische Weise <strong>mit</strong> den anderen Ebenen verbunden. 4<br />
Inhaltliche Differenzierungen werden durch Diskursstränge markiert, die spezifische<br />
Themenbereiche oder Gegenstände repräsentieren. Diskursstränge besitzen<br />
eine hohe »diskursive Energie« (Link zit. in Jäger 2004: 159), das heißt, sie binden<br />
Ereignisse, Argumentationsfiguren, Bilder etc. über einen längeren Zeitraum<br />
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anderen Diskursen aufgegriffen oder assoziativ nebeneinandergesetzt. Inhaltliche,<br />
begriffliche und formale Gemeinsamkeiten bieten hierfür die Anschlussstellen.<br />
Schließlich können Diskursstränge hierarchisch weiter strukturiert werden, etwa<br />
wenn die Diskurse um Einwanderung, Sexismus, Behinderung unter dem Aspekt<br />
der Ausgrenzung zusammengefasst werden.<br />
Auf der untersten strukturellen Ebene setzen sich Diskurse aus Diskursfragmenten<br />
zusammen. Dies sind Texte, oder genauer Textteile, die sich auf ein<br />
Thema, d. h. einen Diskursstrang beziehen. Der Begriff Diskursfragment wird<br />
dem des Textes als die empirisch fassbare Form von Diskursen vorgezogen, da<br />
Texte oftmals mehrere Themen <strong>mit</strong>einander verknüpfen.<br />
Ein Motor und wichtiges Material für Diskurse sind diskursive Ereignisse. Ob<br />
ein Thema wichtig, ein Geschehnis ein diskursives Ereignis wird, hängt davon ab,<br />
ob es eine starke Öffentlichkeit auf sich ziehen kann. Diskursive Ereignisse werden<br />
aus bestehenden Diskursen heraus als solche wahrgenommen und gedeutet<br />
und affirmieren sie dadurch. Gleichzeitig wohnt ihnen aber auch ein Veränderungspotential<br />
inne und sie können durch ihre Dynamiken Inhalte und Kräfteverhältnisse<br />
beeinflussen. So sind beispielsweise die PalästinenserInnen als Gruppe<br />
<strong>mit</strong> nationalen Aspirationen erst durch das diskursive (Medien-)Ereignis Sechs-<br />
Tage-Krieg (1967) in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit (und auch der politischen<br />
Linken) getreten, wo sie vorher allenfalls unter »arabische Flüchtlinge« abgespeichert<br />
waren. Fortan strukturierte sich der gesamte Nahostdiskurs anders. In<br />
Deutschland markierte dieser Krieg zugleich einen Wechsel von einer vergangenheitspolitisch<br />
motivierten positiven linken Sichtweise auf Israel zu einer zumindest<br />
vordergründig gegenwartsorientierten kritischen bis feindlichen Sicht (Kloke<br />
1994: 111 ff.).<br />
scher Perspektive wäre deshalb zu ergänzen, dass sich in allen gesellschaftlichen Teilbereichen notwendig spezielle<br />
Kommunikation bildet, die in anderen Subsystemen nicht ohne weiteres anschlussfähig ist, Spezialdiskurse<br />
so<strong>mit</strong> ein universelles Phänomen darstellen.<br />
4 Die inhaltliche Nähe der KDA zu einigen Einsichten der Systemtheorie ist am offensichtlichsten in der Unterscheidung<br />
der Ebenen, die letztlich gesellschaftliche Teilsysteme darstellen. Dass dies theoretisch kaum durchdrungen<br />
wird, ist Ausdruck der sprachwissenschaftlichen Ursprünge der KDA und so<strong>mit</strong> – trotz gleicher Gegenstände<br />
– der Ferne von der soziologischen Theoriebildung.<br />
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