Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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09.11.2012 Aufrufe

gestellt. Dabei versuche ich die Wahlverwandtschaft zur qualitativen Sozialforschung und zu den Rationalismus-kritischen Schülern von K. R. Popper aufzuzeigen. Im 2. Abschnitt wird exemplarisch die Fragestellung der Studie Wahnsinn und Gesellschaft nachgezeichnet. Der 3. Teil behandelt Foucaults Reflexion der eigenen Studien in der Archäologie des Wissens und die Ausformulierung eines diskursanalytischen Forschungsprogramms. Im 4. Abschnitt soll die Erweiterung der Diskursanalyse zu einer Analytik der Macht nachvollzogen werden. Abschließend wird im 5. Teil Foucaults Strategie, ein (interpretativ) unterbestimmtes Ethos der Kritik zu formulieren, erörtert. 1. Methodologie der Interpretativen Analytik Mit H. Dreyfus und P. Rabinow fasse ich die Denk- und Forschungspraxis Foucaults als »Interpretative Analytik« (Dreyfus/Rabinow 1994: 133). Damit werden Rekonstruktionen derselben als »Diskurstheorie« oder gar als »Gesellschaftstheorie«, ferner als »Philosophie« zurückgewiesen. Foucault versucht Theoriebildung, bei der kategoriale Schemata entwickelt werden, um die Wirklichkeit anschließend in das entworfene Schema zu pressen, zu vermeiden. Ähnlich der qualitativen Sozialforschung soll die (hegemoniale Stellung der) Theorie in der Logik der Forschung neu bestimmt und dezentriert werden. Implizit wird dadurch ein neuer Wert der Theorie gesetzt, der sich von den Theorien, die mit universalistisch-rationalistischen Ansprüchen auftreten, absetzt. Insofern deutet die Relevanz und Resonanz des Foucaultschen Denkens, sowie des Poststrukturalismus im Allgemeinen, die Schwächung des rationalistischen Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften an. Der Faden, der sich durch Foucaults vielschichtiges Werk zieht, ist die methodologische Haltung, stets neue Fragen zu entwerfen, die eigenen Prämissen zu variieren und möglichst unvoreingenommen für neue Horizonte zu bleiben, die sich im Laufe des Forschungsprozesses eröffnen können. Der Einstieg in den Forschungsprozess, bei dem der Forschungsstand gesichtet wird, soll die Problemwahrnehmung nicht vorschnell einengen. Am Nachdrücklichsten wurde diese methodologische Haltung in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie P. Feyerabends ausgedrückt: »Ein komplexer Gegenstand, der überraschende und unvorhergesehene Entwicklungen enthält, erfordert komplexe Methoden und entzieht sich der Analyse aufgrund von Regeln, die im Vorhinein und ohne Rücksicht auf die ständig wechselnden geschichtlichen Verhältnisse aufgestellt worden sind.« (Feyerabend 1977: 30) Auch Feyerabends Mitstreiter und Gegenspieler, I. Lakatos und T. Kuhn, haben den naiven Falsifikationismus und das Modell fortschreitender Wissensanhäufung, das K. R. Popper aufgestellt hat, zurückgewiesen. Damit befinden sich die Popper-Kritiker in geistiger Nähe zu G. Bachelard und G. Canguilhem, die ebenso ein evolutionistisches Modell der Wissenschaftsgeschichte ablehnen. De- 34

en wissenschaftshistorische Studien sind ein zentraler Ausgangsort des Foucaultschen Forschungsprogramms. Die Haltung Foucaults steht damit auch in wahlverwandtschaftlicher Nähe zum Postulat der Offenheit, welches das zentrale methodologische Prinzip der interpretativ-rekonstruktiven Forschungsprogramme, die vom Pragmatismus ausgehend entwickelt wurden, ist. Um hingegen die Differenz der Haltung Foucaults zu diesen Ansätzen zu betonen, könnte auch von einer Haltung der Skepsis, deren Sinn historisch ausgerichtet ist, gesprochen werden. Diese Haltung zeigt sich an der erkenntnisleitenden Distanzierung von vorgegebenen Wissenskonstrukten – zu denen Frage- und Problemstellungen, Begriffsbildungen, Forschungs- und Theorietraditionen gehören. Sie versucht die Ereignishaftigkeit und Historizität des scheinbar Logischen oder Notwendigen aufzuzeigen, die universalistisch auftretende Rationalität als programmatische Rationalitäten zu de- und rekonstruieren und aufzuzeigen, dass es keine Gegenstände im naturalistischen Sinne gibt, sondern diese durch bestimmte kulturelle Redeweisen und wissenschaftliche (oder pseudowissenschaftliche) Methoden erst als ein So-undnicht-anders-Seiendes produziert werden. 1 2. Die Heuristik von Wahnsinn und Gesellschaft In Wahnsinn und Gesellschaft entwirft Foucault die Frage nach dem geschichtlichen Verlauf der Trennungslinie, die den Wahnsinn von der Vernunft scheidet. Ausgehend von der Fragestellung nach den historischen Bedingungen der Erfahrung des Wahnsinns wird eine soziokulturelle, historisch veränderliche Trennungslinie zwischen Wahnsinn und Vernunft angenommen und rekonstruiert. Die begriffliche Eingrenzung und Abtrennung, sowie die sozialpraktischen Methoden von Vertreibungen und Einsperrungen des Wahnsinns bilden demnach eine der Voraussetzungen der Konstitution der abendländischen Vernunft. Der Wahnsinn wird als das Andere/ein Anderes der Vernunft (sprachlich) konstruiert und (institutionell) materialisiert. Diese perspektivische Dialektik der Aufklärung versucht nicht die (transzendentalen, erkenntnistheoretischen oder psychischen) Konstitutionsbedingungen der Rationalität an sich zu bestimmen. Stattdessen soll nur ein sozialgeschichtlicher Aspekt des Vernunftglaubens entschlüsselt und dessen Folgen dargestellt werden. Durch diese Aufklärungsarbeit wird deutlich: Weder die Erfahrung des Wahnsinns, noch die Deutung des Wahnsinns durch außenstehende, »vernünftige« Instanzen, ja nicht einmal die Instanzen (Literaten, Humanisten und Philanthropen, Stadtobrigkeiten und Staatsbeamte, Psychologen und Mediziner etc.) selbst sind über die historische Zeit hinweg dieselben. Die sprachlich-symbolische Ordnung 1 Vgl. zu diesen Punkten Foucault (1991). Zur Einführung und Kritik des Konstruktivismus siehe Hacking (1999). 35

gestellt. Dabei versuche ich die Wahlverwandtschaft zur qualitativen Sozialforschung<br />

und zu den Rationalismus-kritischen Schülern von K. R. Popper aufzuzeigen.<br />

Im 2. Abschnitt wird exemplarisch die Fragestellung der Studie Wahnsinn<br />

und Gesellschaft nachgezeichnet. Der 3. Teil behandelt Foucaults Reflexion der<br />

eigenen Studien in der Archäologie des Wissens und die Ausformulierung eines<br />

diskursanalytischen Forschungsprogramms. Im 4. Abschnitt soll die Erweiterung<br />

der Diskursanalyse zu einer Analytik der Macht nachvollzogen werden. Abschließend<br />

wird im 5. Teil Foucaults Strategie, ein (interpretativ) unterbestimmtes<br />

Ethos der <strong>Kritik</strong> zu formulieren, erörtert.<br />

1. Methodologie der Interpretativen Analytik<br />

Mit H. Dreyfus und P. Rabinow fasse ich die Denk- und Forschungspraxis Foucaults<br />

als »Interpretative Analytik« (Dreyfus/Rabinow 1994: 133). Da<strong>mit</strong> werden<br />

Rekonstruktionen derselben als »Diskurstheorie« oder gar als »Gesellschaftstheorie«,<br />

ferner als »Philosophie« zurückgewiesen. Foucault versucht Theoriebildung,<br />

bei der kategoriale Schemata entwickelt werden, um die Wirklichkeit<br />

anschließend in das entworfene Schema zu pressen, zu vermeiden. Ähnlich der<br />

qualitativen Sozialforschung soll die (hegemoniale Stellung der) Theorie in der<br />

Logik der Forschung neu bestimmt und dezentriert werden. Implizit wird dadurch<br />

ein neuer Wert der Theorie gesetzt, der sich von den Theorien, die <strong>mit</strong> universalistisch-rationalistischen<br />

Ansprüchen auftreten, absetzt. Insofern deutet die Relevanz<br />

und Resonanz des Foucaultschen Denkens, sowie des Poststrukturalismus<br />

im Allgemeinen, die Schwächung des rationalistischen Selbstverständnisses der<br />

Sozialwissenschaften an. Der Faden, der sich durch Foucaults vielschichtiges<br />

Werk zieht, ist die methodologische Haltung, stets neue Fragen zu entwerfen, die<br />

eigenen Prämissen zu variieren und möglichst unvoreingenommen für neue Horizonte<br />

zu bleiben, die sich im Laufe des Forschungsprozesses eröffnen können.<br />

Der Einstieg in den Forschungsprozess, bei dem der Forschungsstand gesichtet<br />

wird, soll die Problemwahrnehmung nicht vorschnell einengen. Am Nachdrücklichsten<br />

wurde diese methodologische Haltung in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie<br />

P. Feyerabends ausgedrückt: »Ein komplexer Gegenstand, der<br />

überraschende und unvorhergesehene Entwicklungen enthält, erfordert komplexe<br />

<strong>Methode</strong>n und entzieht sich der Analyse aufgrund von Regeln, die im Vorhinein<br />

und ohne Rücksicht auf die ständig wechselnden geschichtlichen Verhältnisse<br />

aufgestellt worden sind.« (Feyerabend 1977: 30)<br />

Auch Feyerabends Mitstreiter und Gegenspieler, I. Lakatos und T. Kuhn, haben<br />

den naiven Falsifikationismus und das Modell fortschreitender Wissensanhäufung,<br />

das K. R. Popper aufgestellt hat, zurückgewiesen. Da<strong>mit</strong> befinden sich<br />

die Popper-<strong>Kritik</strong>er in geistiger Nähe zu G. Bachelard und G. Canguilhem, die<br />

ebenso ein evolutionistisches Modell der Wissenschaftsgeschichte ablehnen. De-<br />

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