Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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09.11.2012 Aufrufe

1. Übersetzungen Latour beschreibt den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als eine Kette von Übersetzungen. Der zentrale Akt der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion besteht dabei in der Transformation von Materie in Aufzeichnungen. Diese werden als Inskriptionen bezeichnet. Das Ausgangsmaterial wird durch Instrumente in Zeichen verwandelt, die wiederum beispielsweise in schriftliche Berichte transformiert werden (Latour 2000: 68). Die Übersetzungskette des Forschungsprozesses reicht von den Datenfixierungen, Diagrammen und Tabellen bis zu den Aussagen, die aufgrund dieser Datenfixierungen gemacht werden, und von diesen wiederum zu anderen Aussagen. Im Verlauf dieser Übersetzungen werden die wissenschaftlichen Produkte geformt und die jeweiligen Anschluss-Selektionen konfiguriert. Jede neue Übersetzung verändert auch die anderen Übersetzungen. Der Status einer Inskription – und damit einer Aussage – wird immer durch den Status der vorherigen und späteren Inskriptionen festgelegt. Die Erklärungsmacht einer auf der Grundlage dieser Inskriptionen gemachten Aussage beruht dann nur auf deren Einbindung in eine Übersetzungskette und den Verweisen auf andere Aussagen, Artefakte und Prozesse. 6 Übersetzungen sind damit keine bloßen Beschreibungen. Sie beinhalten zugleich eine Strukturierung der beteiligten Entitäten, wie es der französische Wissenschaftsforscher Michel Callon ausdrückt: »to translate is to describe, to organize a whole world filled with entities (actants) whose identities and interactions are thereby defined« (Callon 1995: 55). 7 Das Konzept der Übersetzung liefert eine treffende Beschreibung der Vorgänge im Verlauf des archäologischen Forschungsprozesses. Beispielsweise wird vor der eigentlichen Ausgrabung eine geomagnetische Messung des Bodens durchgeführt, die in ein Bild mit ›Flecken‹ und ›Linien‹ verwandelt wird. Die Flecken und Linien erscheinen nach dem Öffnen der Oberfläche im Zuge der eigentlichen Ausgrabung als Verfärbungen im Boden. Die Interpretation der Flecken als Gruben, Pfosten, Mauern oder Fußböden übersetzt den Erdboden in einen funktional definierten Befund. Die Bodenanomalie wird in Zeichnungen, Beschreibungen und Fotos transformiert und Teil einer statistischen Auswertung. Alle zusammen werden schließlich in einen Grabungsbericht übersetzt. Der britische Archäologe Gavin Lucas bezeichnet die Herstellung archäologischer Daten als eine »materializing practice« 8 , bei der die archäologischen Daten in Zeichnungen, Beschreibungen und Tabellen dargestellt werden. So wird der archäologische Befund geformt und kann Teil einer Übersetzungskette werden. Die Inskription beinhaltet dabei eine radikale Zustandsveränderung (Latour 2000: 78), denn die Erdmaterie wird in eine Zeichnung, einen Text, ein Foto oder eine Ta- 6 Ganz ähnliche Annahmen finden sich im Strukturalismus Ferdinand de Saussures. 7 »Übersetzung beinhaltet die Beschreibung und die Organisation einer Welt voller Entitäten (Aktanten), wodurch zuglich deren Identitäten und Interaktionen definiert werden.« 8 »verkörperlichende Praxis« 272

elle auf einem Blatt Papier transformiert. Die Dreidimensionalität wird zu einer Zweidimensionalität. Solange die Informationen aus Erde bestehen, können sie nur eingeschränkt wissenschaftlich ausgewertet werden, denn sie sind dann nur für vor Ort Anwesende erkennbar. Erst wenn sie in einen anderen Zustand, in eine andere Dimension, nicht zuletzt in einen anderen Maßstab verwandelt werden, sind ihre Informationen transportierbar und damit ortsunabhängig lesbar und verwertbar. Damit einher geht eine Übersetzung von einer auch ›anfassbaren‹ in eine ›lesbare‹ Information, denn die greifbare Erde wird in Zeichen verwandelt. Die Fundstelle ist dann »no longer a physical site, made of dirt and sharp stones, no longer the location of buried treasure, but an abstract, immaterial structured set of lines, numbers and text« (Lucas 2001: 58). 9 Die Ausgrabung strukturiert die vorgefundene Erde also durch ihre Einteilung in Flächen und durch Vergabe von Kodierungen, indem die Grabungsfläche durch die Anlage von künstlichen Schnitten zerteilt wird, die durch Nummerierung strukturiert werden. Ähnliches hat Latour im Hinblick auf die Bodenkunde konstatiert. Hier berichtet er von der Expedition einer interdisziplinär besetzten Forschergruppe, die sich mit Bodenbildungsprozessen in einem brasilianischen Wald beschäftigt. Er stellt dabei fest, dass auch ein solches ›nicht-laborwissenschaftliches‹ Forschungsvorhaben bestrebt ist, die Natur durch Einteilungen und Codevergabe in ein Laboratorium zu verwandeln (Latour 2000: 44). Durch Gliederung und Kategorisierung wird unstrukturierte Materie zu einem systematisch untersuchbaren Forschungsobjekt gemacht. Es findet also kein ›direkter‹ Zugriff auf den Ausgangspunkt statt, jede Forschung formatiert zugleich ihre Untersuchungsgegenstände. Eine Inskription ist eine Festschreibung, die immer einen Bruch beinhaltet, aber zugleich auch eine Kontinuität herstellt, denn alle Transformationen, Transmutationen und Übersetzungen beziehen sich auf das gleiche Ausgangsmaterial. Latour bezeichnet dieses Phänomen als »Transsubstantation« (ebd.: 78). Es ist also keine Nachahmung der vorangegangenen Schritte, sondern ein Anschluss an diese, da der Inskriptionsprozess auch wieder zurückverfolgt werden kann. Das trifft bei der Ausgrabung nur teilweise zu, stellt Gavin Lucas fest. Denn der Schritt von den Zeichnungen, Beschreibungen und Fotos zum Urzustand der Ausgrabungsstelle kann nicht mehr zurückverfolgt werden, da dieser Zustand gar nicht mehr existiert, sondern im Prozess der Materialisation zerstört wird. Die gezeichnete Dokumentation beispielsweise kann also nicht mehr mit der ursprünglichen Bodenbeschaffenheit verglichen werden, sondern nur mit anderen Dokumenten wie Fotos oder Beschreibungen oder mit anderen Ausgrabungsstätten (Lucas 2001: 213). Archäologische Befunde sind dann nur noch in Form der von ihnen hergestellten Inskriptionen sichtbar, nicht mehr in ihrer Erdform (ebd.). 9 »nicht länger eine physische, aus Dreck und scharfen Steinen bestehende Ausgrabungsstätte, nicht mehr der Ort verborgener Schätze, sondern ein abstraktes, immaterielles, strukturiertes Set aus Linien, Nummern und Text.« 273

1. Übersetzungen<br />

Latour beschreibt den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als eine Kette von<br />

Übersetzungen. Der zentrale Akt der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion<br />

besteht dabei in der Transformation von Materie in Aufzeichnungen. Diese werden<br />

als Inskriptionen bezeichnet. Das Ausgangsmaterial wird durch Instrumente<br />

in Zeichen verwandelt, die wiederum beispielsweise in schriftliche Berichte transformiert<br />

werden (Latour 2000: 68). Die Übersetzungskette des Forschungsprozesses<br />

reicht von den Datenfixierungen, Diagrammen und Tabellen bis zu den Aussagen,<br />

die aufgrund dieser Datenfixierungen gemacht werden, und von diesen<br />

wiederum zu anderen Aussagen. Im Verlauf dieser Übersetzungen werden die<br />

wissenschaftlichen Produkte geformt und die jeweiligen Anschluss-Selektionen<br />

konfiguriert. Jede neue Übersetzung verändert auch die anderen Übersetzungen.<br />

Der Status einer Inskription – und da<strong>mit</strong> einer Aussage – wird immer durch den<br />

Status der vorherigen und späteren Inskriptionen festgelegt. Die Erklärungsmacht<br />

einer auf der Grundlage dieser Inskriptionen gemachten Aussage beruht dann nur<br />

auf deren Einbindung in eine Übersetzungskette und den Verweisen auf andere<br />

Aussagen, Artefakte und Prozesse. 6 Übersetzungen sind da<strong>mit</strong> keine bloßen<br />

Beschreibungen. Sie beinhalten zugleich eine Strukturierung der beteiligten Entitäten,<br />

wie es der französische Wissenschaftsforscher Michel Callon ausdrückt:<br />

»to translate is to describe, to organize a whole world filled with entities (actants)<br />

whose identities and interactions are thereby defined« (Callon 1995: 55). 7<br />

Das Konzept der Übersetzung liefert eine treffende Beschreibung der Vorgänge<br />

im Verlauf des archäologischen Forschungsprozesses. Beispielsweise wird vor<br />

der eigentlichen Ausgrabung eine geomagnetische Messung des Bodens durchgeführt,<br />

die in ein Bild <strong>mit</strong> ›Flecken‹ und ›Linien‹ verwandelt wird. Die Flecken und<br />

Linien erscheinen nach dem Öffnen der Oberfläche im Zuge der eigentlichen Ausgrabung<br />

als Verfärbungen im Boden. Die Interpretation der Flecken als Gruben,<br />

Pfosten, Mauern oder Fußböden übersetzt den Erdboden in einen funktional definierten<br />

Befund. Die Bodenanomalie wird in Zeichnungen, Beschreibungen und<br />

Fotos transformiert und Teil einer statistischen Auswertung. Alle zusammen werden<br />

schließlich in einen Grabungsbericht übersetzt.<br />

Der britische Archäologe Gavin Lucas bezeichnet die Herstellung archäologischer<br />

Daten als eine »materializing practice« 8 , bei der die archäologischen Daten<br />

in Zeichnungen, Beschreibungen und Tabellen dargestellt werden. So wird der archäologische<br />

Befund geformt und kann Teil einer Übersetzungskette werden. Die<br />

Inskription beinhaltet dabei eine radikale Zustandsveränderung (Latour 2000: 78),<br />

denn die Erdmaterie wird in eine Zeichnung, einen Text, ein Foto oder eine Ta-<br />

6 Ganz ähnliche Annahmen finden sich im Strukturalismus Ferdinand de Saussures.<br />

7 »Übersetzung beinhaltet die Beschreibung und die Organisation einer Welt voller Entitäten (Aktanten), wodurch<br />

zuglich deren Identitäten und Interaktionen definiert werden.«<br />

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