Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Wahrheitsgehalt ihrer Erinnerungen für die AnalysandInnen von großem Interesse<br />
ist, da ihr Handeln Bedeutung für sie selbst und für andere hat, nicht nur für ihre<br />
Innenwelt. Zum anderen werden so<strong>mit</strong> auch u. U. reell gegebene Unterdrückungsverhältnisse<br />
in der Kindheit ausgeklammert. Unterdrückungsverhältnisse werden<br />
also erst überhistorisch verallgemeinert und sodann schrittweise in das Innenleben<br />
der Betroffenen verlegt, unabhängig von jeglicher Realität. Subjektives wird so<br />
nicht als Aspekt der objektiven Realität in deren Ver<strong>mit</strong>teltheit konzeptualisiert, als<br />
in einem Wechselverhältnis <strong>mit</strong> dem Außen stehend, sondern als bloße mysteriöse<br />
Innerlichkeit (Holzkamp 1990a: 62). Kurz, es werden weder Leiden an der objektiven<br />
Realität noch Änderungsmöglichkeiten derselben thematisierbar, was einem<br />
Verstoß gegen die eigenen Lebensinteressen gleichkommt. 6 Statt der Möglichkeit<br />
kollektiver Kämpfe i. w. S. wird eine individuelle, abgeschottete Bearbeitung der<br />
Konflikte in der Therapie nahe gelegt (ebd.: 63 ff., Holzkamp 1984a: 34). Statt einer<br />
Therapie, die im eigenen Leben, innerhalb gesellschaftlicher Beziehungen handlungsfähig<br />
macht, reißt eine psychoanalytische Therapie die AnalysandIn nicht selten<br />
aus ihren Lebenszusammenhängen heraus, entsprechend dem schon von Freud<br />
formulierten Wunsch, er wolle das Leben seiner KlientInnen während der Therapie<br />
am liebsten anhalten und die repressiven Momente einfach abschalten können, um<br />
so in Ruhe der PatientIn zur Genesung verhelfen zu können. Nun kann es sinnvoll<br />
sein, aus besonders repressiven Zusammenhängen herausgerissen zu werden, aber<br />
diese Strategie stößt an ihre Grenzen angesichts der Tatsache, dass ein Leben in der<br />
kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft immer auch beschneidend ist. Wenn nur das<br />
individuelle Leiden, abgetrennt von der Außenwelt, bearbeitet wird, vergibt man<br />
sich die Möglichkeit, spezifischen Verhältnissen und Umständen als Leidensverursachern<br />
bewusst zu begegnen, sie zu erkennen und zu bekämpfen.<br />
Die Vorstellung von festgelegten Entwicklungsstufen, darüber hinaus ihre<br />
Einordnung in eine bestimmte Altersspanne hat (nicht nur in der Psychoanalyse,<br />
sondern in allen entwicklungspsychologischen Konzeptionen) einen streng normativen<br />
Charakter: »Die jeweiligen Stufenfolgen sind nämlich sowohl in ihrer<br />
generellen Richtungsbestimmung wie in ihrer Abfolge vom Außenstandpunkt<br />
vorgegeben oder konstruiert« (Holzkamp 1995a: 237, Hervh. entf.). 7 Außerdem<br />
wird impliziert, dass die Kindheit nur eine Vorstufe zum Erwachsensein ist und<br />
außer Acht gelassen, dass Kinder eigene soziale Lebens- und Umgangsformen<br />
entwickeln, die nicht als bloße Vorstufe zu erklären sind (Holzkamp 1997a: 87).<br />
Wird dagegen nicht die stufenartige Entwicklung eines rein innerlichen Selbst,<br />
sondern die Entwicklung von sozialen Umweltbeziehungen vorgestellt, so sind<br />
sowohl Brüche als auch Perspektivenwechsel möglich. So kann auch deutlich<br />
werden, dass sich Kindheitserinnerungen im Laufe eines Lebens, abhängig von<br />
den Lebensbedingungen, wandeln, also nicht objektiv statisch, sondern gebunden<br />
6 Die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser (1991: 43) vertritt dagegen die These der zirkulären Relation von<br />
Unbewusstem und Kultur und betont die Wichtigkeit der Anerkennung dieses Wechselverhältnisses.<br />
7 Zur Funktionskritik von Entwicklungskonzepten vgl. Holzkamp (1997: 80 ff.).<br />
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