Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Verhältnisse sind, sondern bestimmte Aspekte der subjektiven Situation der Menschen unter diesen Verhältnissen so differenziert und schonungslos in verallgemeinerter Weise abbilden, daß sich jeder darin wiederfinden und seine individuelle Befindlichkeit als Spielart der generellen Unterdrückung erfassen kann. [...] Andererseits aber offenbart Freud aus seiner [...] Auffassung von der schicksalhaften Unveränderbarkeit gesellschaftlicher Unterdrückung subjektiver Lebensansprüche gerade durch die Berücksichtigung des subjektwissenschaftlichen Niveaus der in dieser Voraussetzung gegründeten Kategorien erst ihre volle Problematik: Indem hier nämlich die unterschiedlichen subjektiven Erscheinungsformen des Scheiterns, der Realitätsverleugnung, aber auch des Sich-Einrichtens und Zurechtkommens angesichts der unaufhebbaren Unterdrückung [...] in generalisierter Weise ,für jeden‹ nachvollziehbar werden, wird stets aufs Neue die Prämisse bekräftigt: Die Erscheinungsformen wechseln, die Unterdrückung aber bleibt.« (Holzkamp 1984a: 33, Hervh. entf.). Dabei handelt es sich nicht um einen Folgerungsfehler oder um Mangel an Mut von Seiten Freuds, sondern entspricht den basalen Freudschen Annahmen und ist somit nur konsequent. Menschliche Bedürfnisse sind für ihn grundsätzlich durch mangelnde Befriedigung und Versagung charakterisiert, die menschliche Natur durch Aggressivität, Neid und Konkurrenzdenken geprägt, die Kultur als repressive gedacht; Individuum und Gesellschaft stehen sich also grundsätzlich dualistisch gegenüber, ihr Konflikt ist permanent (Lichtman 1990: 52 ff.). Es »liegt das Fatale darin, daß er [Freud, J. M.], gegen die bürgerliche Ideologie, materialistisch das bewußte Handeln hinab auf seinen unbewußten Triebgrund verfolgte, zugleich aber in die bürgerliche Verachtung des Triebs einstimmte, die selber das Produkt eben jener Rationalisierungen ist, die er abbaut.« (Adorno: 2003a: 67) Das macht es theoretisch unmöglich, mit Freudschen Grundannahmen spezifische und somit veränderbare gesellschaftliche Unterdrückung zu thematisieren oder sie mit einer Wissenschaft wie der marxistischen zu vereinbaren, die davon ausgeht, dass »die gesellschaftliche Totalität den einzelnen Aspekten ihre Bedeutung verleiht« (ebd.: 52), menschliche Entwicklung historisch ist, dass »Bedürfnisse die Quelle einer wachsenden Teilhabe an der humanisierten Natur« (ebd.: 53) sind, menschliche Destruktivität durch die Verhältnisse bedingt und wandelbar ist sowie Freiheit sich nur aus der Teilhabe an nicht-repressiver gesellschaftlicher Ordnung ergibt. Gegenwärtige Unterdrückungsverhältnisse und persönliche Probleme werden somit ausgeklammert und deren Ursachen in die Kindheit verschoben, i. d. R. auf Primärkonflikte mit den Eltern. Ein weiterer Schritt wird gemacht, indem der Realitätsbezug der Kindheitserinnerungen für belanglos erklärt wird. Die Konflikte werden nun in die innere Psyche verschoben, in einen Bereich, der als weitestgehend abgetrennt von der Außenwelt vorgestellt wird 5 . Dieses Vorgehen ignoriert zum einen, dass der 5 Das klassische, aber nicht einzige Beispiel ist Freuds allmählich entwickelte Annahme, dass in der Analyse erinnerte sexuelle Misshandlungen in der Kindheit allein der Phantasie der Betroffenen entsprängen. Vgl. Markus (1991: 169 ff.). 176
Wahrheitsgehalt ihrer Erinnerungen für die AnalysandInnen von großem Interesse ist, da ihr Handeln Bedeutung für sie selbst und für andere hat, nicht nur für ihre Innenwelt. Zum anderen werden somit auch u. U. reell gegebene Unterdrückungsverhältnisse in der Kindheit ausgeklammert. Unterdrückungsverhältnisse werden also erst überhistorisch verallgemeinert und sodann schrittweise in das Innenleben der Betroffenen verlegt, unabhängig von jeglicher Realität. Subjektives wird so nicht als Aspekt der objektiven Realität in deren Vermitteltheit konzeptualisiert, als in einem Wechselverhältnis mit dem Außen stehend, sondern als bloße mysteriöse Innerlichkeit (Holzkamp 1990a: 62). Kurz, es werden weder Leiden an der objektiven Realität noch Änderungsmöglichkeiten derselben thematisierbar, was einem Verstoß gegen die eigenen Lebensinteressen gleichkommt. 6 Statt der Möglichkeit kollektiver Kämpfe i. w. S. wird eine individuelle, abgeschottete Bearbeitung der Konflikte in der Therapie nahe gelegt (ebd.: 63 ff., Holzkamp 1984a: 34). Statt einer Therapie, die im eigenen Leben, innerhalb gesellschaftlicher Beziehungen handlungsfähig macht, reißt eine psychoanalytische Therapie die AnalysandIn nicht selten aus ihren Lebenszusammenhängen heraus, entsprechend dem schon von Freud formulierten Wunsch, er wolle das Leben seiner KlientInnen während der Therapie am liebsten anhalten und die repressiven Momente einfach abschalten können, um so in Ruhe der PatientIn zur Genesung verhelfen zu können. Nun kann es sinnvoll sein, aus besonders repressiven Zusammenhängen herausgerissen zu werden, aber diese Strategie stößt an ihre Grenzen angesichts der Tatsache, dass ein Leben in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft immer auch beschneidend ist. Wenn nur das individuelle Leiden, abgetrennt von der Außenwelt, bearbeitet wird, vergibt man sich die Möglichkeit, spezifischen Verhältnissen und Umständen als Leidensverursachern bewusst zu begegnen, sie zu erkennen und zu bekämpfen. Die Vorstellung von festgelegten Entwicklungsstufen, darüber hinaus ihre Einordnung in eine bestimmte Altersspanne hat (nicht nur in der Psychoanalyse, sondern in allen entwicklungspsychologischen Konzeptionen) einen streng normativen Charakter: »Die jeweiligen Stufenfolgen sind nämlich sowohl in ihrer generellen Richtungsbestimmung wie in ihrer Abfolge vom Außenstandpunkt vorgegeben oder konstruiert« (Holzkamp 1995a: 237, Hervh. entf.). 7 Außerdem wird impliziert, dass die Kindheit nur eine Vorstufe zum Erwachsensein ist und außer Acht gelassen, dass Kinder eigene soziale Lebens- und Umgangsformen entwickeln, die nicht als bloße Vorstufe zu erklären sind (Holzkamp 1997a: 87). Wird dagegen nicht die stufenartige Entwicklung eines rein innerlichen Selbst, sondern die Entwicklung von sozialen Umweltbeziehungen vorgestellt, so sind sowohl Brüche als auch Perspektivenwechsel möglich. So kann auch deutlich werden, dass sich Kindheitserinnerungen im Laufe eines Lebens, abhängig von den Lebensbedingungen, wandeln, also nicht objektiv statisch, sondern gebunden 6 Die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser (1991: 43) vertritt dagegen die These der zirkulären Relation von Unbewusstem und Kultur und betont die Wichtigkeit der Anerkennung dieses Wechselverhältnisses. 7 Zur Funktionskritik von Entwicklungskonzepten vgl. Holzkamp (1997: 80 ff.). 177
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unter diesen Verhältnissen so differenziert und schonungslos in verallgemeinerter<br />
Weise abbilden, daß sich jeder darin wiederfinden und seine individuelle Befindlichkeit<br />
als Spielart der generellen Unterdrückung erfassen kann. [...]<br />
Andererseits aber offenbart Freud aus seiner [...] Auffassung von der schicksalhaften<br />
Unveränderbarkeit gesellschaftlicher Unterdrückung subjektiver Lebensansprüche<br />
gerade durch die Berücksichtigung des subjektwissenschaftlichen Niveaus<br />
der in dieser Voraussetzung gegründeten Kategorien erst ihre volle Problematik: Indem<br />
hier nämlich die unterschiedlichen subjektiven Erscheinungsformen des Scheiterns,<br />
der Realitätsverleugnung, aber auch des Sich-Einrichtens und Zurechtkommens<br />
angesichts der unaufhebbaren Unterdrückung [...] in generalisierter Weise ,für<br />
jeden‹ nachvollziehbar werden, wird stets aufs Neue die Prämisse bekräftigt: Die<br />
Erscheinungsformen wechseln, die Unterdrückung aber bleibt.« (Holzkamp 1984a:<br />
33, Hervh. entf.).<br />
Dabei handelt es sich nicht um einen Folgerungsfehler oder um Mangel an Mut<br />
von Seiten Freuds, sondern entspricht den basalen Freudschen Annahmen und ist<br />
so<strong>mit</strong> nur konsequent. Menschliche Bedürfnisse sind für ihn grundsätzlich durch<br />
mangelnde Befriedigung und Versagung charakterisiert, die menschliche Natur<br />
durch Aggressivität, Neid und Konkurrenzdenken geprägt, die Kultur als repressive<br />
gedacht; Individuum und Gesellschaft stehen sich also grundsätzlich dualistisch gegenüber,<br />
ihr Konflikt ist permanent (Lichtman 1990: 52 ff.). Es »liegt das Fatale<br />
darin, daß er [Freud, J. M.], gegen die bürgerliche Ideologie, materialistisch das bewußte<br />
Handeln hinab auf seinen unbewußten Triebgrund verfolgte, zugleich aber in<br />
die bürgerliche Verachtung des Triebs einstimmte, die selber das Produkt eben jener<br />
Rationalisierungen ist, die er abbaut.« (Adorno: 2003a: 67) Das macht es theoretisch<br />
unmöglich, <strong>mit</strong> Freudschen Grundannahmen spezifische und so<strong>mit</strong> veränderbare<br />
gesellschaftliche Unterdrückung zu thematisieren oder sie <strong>mit</strong> einer Wissenschaft<br />
wie der marxistischen zu vereinbaren, die davon ausgeht, dass »die<br />
gesellschaftliche Totalität den einzelnen Aspekten ihre Bedeutung verleiht« (ebd.:<br />
52), menschliche Entwicklung historisch ist, dass »Bedürfnisse die Quelle einer<br />
wachsenden Teilhabe an der humanisierten Natur« (ebd.: 53) sind, menschliche Destruktivität<br />
durch die Verhältnisse bedingt und wandelbar ist sowie Freiheit sich nur<br />
aus der Teilhabe an nicht-repressiver gesellschaftlicher Ordnung ergibt. Gegenwärtige<br />
Unterdrückungsverhältnisse und persönliche Probleme werden so<strong>mit</strong> ausgeklammert<br />
und deren Ursachen in die Kindheit verschoben, i. d. R. auf Primärkonflikte<br />
<strong>mit</strong> den Eltern. Ein weiterer Schritt wird gemacht, indem der Realitätsbezug<br />
der Kindheitserinnerungen für belanglos erklärt wird. Die Konflikte werden nun in<br />
die innere Psyche verschoben, in einen Bereich, der als weitestgehend abgetrennt<br />
von der Außenwelt vorgestellt wird 5 . Dieses Vorgehen ignoriert zum einen, dass der<br />
5 Das klassische, aber nicht einzige Beispiel ist Freuds allmählich entwickelte Annahme, dass in der Analyse erinnerte<br />
sexuelle Misshandlungen in der Kindheit allein der Phantasie der Betroffenen entsprängen. Vgl. Markus<br />
(1991: 169 ff.).<br />
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