Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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09.11.2012 Aufrufe

Eine: (~~~) Tania: Ich arbeite lieber so was wie sechs Jahre in der Gemeinde (lacht) um später hierher zu kommen, (~~~) (redet leise auf Q’eqchi’ weiter und bricht in Lachen aus, auch die anderen lachen). Tania: Die Auri lacht. (Gelächter) Tania: Aaaay! ... 5.3. Interpretation Im Folgenden möchte ich im Sinne der Ethnohermeneutik mögliche Interpretationsweisen der Szene vorstellen, indem ich die Szene aus den in Kapitel 1.1. angeführten Perspektiven – der ethnographischen, soziologischen, psychoanalytischen und gruppenanalytischen Perspektive – beleuchte. Dabei fließen auch Deutungen der mich unterstützenden Interpretationsgruppe an der Universität Frankfurt/Main ein, die im Wesentlichen nach der unter Kap. 1.2. dargestellten Methode arbeitete. Auf die Gruppendynamik während der Interpretation kann ich in diesem Rahmen leider nicht ausführlich eingehen, genauso wenig wie auf die Ergebnisse der Interpretation des Gesamtgesprächs und anderer Szenen daraus, die jedoch natürlich auf die Interpretation dieser Szene zurückwirkten. Um dennoch eine nachvollziehbare Deutung zu präsentieren, halte ich mich dabei relativ nah an den Text und verzichte weitgehend auf Bezüge zu anderen Szenen des Gesprächs. 5.3.1. Ethnographische Interpretation Wie schon angeführt, wird als Initialszene generell die erste Sequenz eines Transkripts bestimmt, in der sich alle TeilnehmerInnen schon einmal zu Wort gemeldet haben. Hier zeigt sich schon eine erste Abweichung vom unterstellten Normalfall der Forschungssituation, werden doch von den zwölf Gesprächsteilnehmerinnen einige im gesamten Gespräch fast nichts sagen, was sich an diesem Punkt auch schon abzeichnet: Auf alle Fragen, die ich stelle, antwortet zunächst einmal Tania; wenn ich eine Frage in die Runde stelle, tritt keines der anderen Mädchen hervor, um für sich zu sprechen, sondern sie antworten als Gruppe oder flüstern leise auf Q’eqchi’ untereinander, womit ich vom Gespräch ausgeschlossen bin. Diese Anfangsstruktur des Gesprächs ergibt sich jedoch erst nach meinem längeren Eingangsmonolog. Davor reden die Mädchen untereinander und als Einzelne auch mit mir auf Q’eqchi’, wobei es darum geht, wer denn jetzt noch kommen wird. Das Aufnahmegerät läuft schon, als bemerkt wird, dass die Gruppe nicht vollständig ist. Die fehlenden Teilnehmerinnen werden herbeigerufen und während die anderen Mädchen auf sie warten, reden sie auf Q’eqchi’ unter sich. Sandra und ich scheinen dabei beide im gleichen Moment an die Abwesenden zu denken. 19 19 Das Warten auf die noch fehlenden Teilnehmerinnen kann vielleicht als Ausdruck des Zusammenhalts der Gruppe gelesen werden: Keine soll in diesem Gespräch außen vor bleiben. 162

Schon hier zeichnen sich verschiedene Entwürfe des Gesprächsführung ab, die im folgenden Gesprächsverlauf konfligieren werden, und in denen sich das Herkunftsmilieu der TeilnehmerInnen ausdrückt: auf der einen Seite meine in der akademischen Ausbildung erworbene Vorstellung eines »offenen, vertraulichen Gesprächs«, an dem sich alle Mädchen beteiligen – mit individuellen Beiträgen, wie mein Versuch zeigt, einen alleinigen Dialog mit Tania zu vermeiden (ich spreche die Mädchen konsequent als Gruppe an). Auf Seiten der Mädchen steht das leise Flüstern untereinander – auf Q’eqchi’ – den eloquenten Ausführungen Tanias auf Spanisch gegenüber. Tania wird offensichtlich von den anderen Mädchen delegiert, die Kommunikation mit dem Forscher zu übernehmen, sie selbst halten sich zurück. Geht man davon aus, dass Frauen von den öffentlichen Machtpositionen in den Gemeinden traditionellerweise ausgeschlossen sind bzw. zu schweigen haben, so würde das Schweigen der meisten Mädchen dieses Rollenmuster bestätigen, während Tania einen »moderneren« Umgang mit dem Fremden repräsentiert, indem sie sich eloquent und selbstbewusst mit ihm auseinandersetzt. Die Differenz des Herkunftsmilieus wird an verschiedenen Stellen indirekt angesprochen: Ich erwähne meine mangelnden Q’eqchi’-Kenntnisse; Tania scheint mit ihrem Witz auf Q’eqchi’ (»Aber ich werde nur auf Q’eqchi’ reden und die anderen übersetzen das dann.«) darauf Bezug zu nehmen: Sie thematisiert damit nicht nur die Schwierigkeiten der Verständigung, sondern auch meine Angewiesenheit auf die Mädchen. Gleichzeitig dreht dieser Witz das wirkliche Rollenverhältnis in der Gruppe um: Tanias ironische Weigerung, Spanisch zu sprechen, steht stellvertretend für die tatsächliche Verweigerung der anderen Mädchen, als deren »Übersetzerin« sie fungiert. Sie bezieht die Anderen damit in mehrfacher Weise ein: Zum einen setzt sie sich zu ihrer tatsächlichen Rolle als Repräsentantin ironisch in Distanz, nimmt gewissermaßen den Platz der Verweigerung ein und demonstriert – vielleicht im Sinne einer Aufforderung, sich zu beteiligen –, dass es auch in der eigenen Muttersprache möglich ist, sich selbstbewusst und provokativ mit dem Fremden auseinanderzusetzen. Dabei geht es auch inhaltlich und explizit um die eigene Herkunft. In ihren Ausführungen beschreibt Tania das Leben in den Gemeinden: Sie zählt all die Mühsal auf, die mit dem dortigen Alltag verbunden ist, woraufhin Victoria lachend die rhetorische Frage stellt, was man dagegen schon tun könne: »Was machst du ... mit so vielen Mosquitos?« Die übrigen Mädchen spiegeln diese Bemerkung – fast wie ein Chor im Hintergrund einer Bühne – ironisch gebrochen wider: das Leben in den Gemeinden wird auf ein langgezogenes, klagend inszeniertes »Viele Mosquiiitos, viel Schlaaamm!« reduziert. Diese Inszenierung, in der das Ausgeliefertsein an »Naturkräfte« dargestellt wird, vermittelt einen Eindruck von kaum veränderbaren Verhältnissen, über die man nur das immer gleiche, langweilige Jammern erheben kann, wozu die Mädchen sich nun lachend in Distanz setzen. Sie wirken froh und erleichtert darüber, die Gemeinden verlassen zu haben und scheinen ihre Freiheit im Internat und das Leben in der Gruppe zu ge- 163

Eine: (~~~)<br />

Tania: Ich arbeite lieber so was wie sechs Jahre in der Gemeinde (lacht) um später<br />

hierher zu kommen, (~~~) (redet leise auf Q’eqchi’ weiter und bricht in Lachen<br />

aus, auch die anderen lachen).<br />

Tania: Die Auri lacht.<br />

(Gelächter)<br />

Tania: Aaaay! ...<br />

5.3. Interpretation<br />

Im Folgenden möchte ich im Sinne der Ethnohermeneutik mögliche Interpretationsweisen<br />

der Szene vorstellen, indem ich die Szene aus den in Kapitel 1.1. angeführten<br />

Perspektiven – der ethnographischen, soziologischen, psychoanalytischen<br />

und gruppenanalytischen Perspektive – beleuchte. Dabei fließen auch Deutungen<br />

der mich unterstützenden Interpretationsgruppe an der Universität Frankfurt/Main<br />

ein, die im Wesentlichen nach der unter Kap. 1.2. dargestellten <strong>Methode</strong> arbeitete.<br />

Auf die Gruppendynamik während der Interpretation kann ich in diesem Rahmen<br />

leider nicht ausführlich eingehen, genauso wenig wie auf die Ergebnisse der Interpretation<br />

des Gesamtgesprächs und anderer Szenen daraus, die jedoch natürlich<br />

auf die Interpretation dieser Szene zurückwirkten. Um dennoch eine nachvollziehbare<br />

Deutung zu präsentieren, halte ich mich dabei relativ nah an den Text<br />

und verzichte weitgehend auf Bezüge zu anderen Szenen des Gesprächs.<br />

5.3.1. Ethnographische Interpretation<br />

Wie schon angeführt, wird als Initialszene generell die erste Sequenz eines Transkripts<br />

bestimmt, in der sich alle TeilnehmerInnen schon einmal zu Wort gemeldet<br />

haben. Hier zeigt sich schon eine erste Abweichung vom unterstellten Normalfall<br />

der Forschungssituation, werden doch von den zwölf Gesprächsteilnehmerinnen<br />

einige im gesamten Gespräch fast nichts sagen, was sich an diesem Punkt auch<br />

schon abzeichnet: Auf alle Fragen, die ich stelle, antwortet zunächst einmal Tania;<br />

wenn ich eine Frage in die Runde stelle, tritt keines der anderen Mädchen hervor,<br />

um für sich zu sprechen, sondern sie antworten als Gruppe oder flüstern leise auf<br />

Q’eqchi’ untereinander, wo<strong>mit</strong> ich vom Gespräch ausgeschlossen bin.<br />

Diese Anfangsstruktur des Gesprächs ergibt sich jedoch erst nach meinem längeren<br />

Eingangsmonolog. Davor reden die Mädchen untereinander und als Einzelne<br />

auch <strong>mit</strong> mir auf Q’eqchi’, wobei es darum geht, wer denn jetzt noch kommen<br />

wird. Das Aufnahmegerät läuft schon, als bemerkt wird, dass die Gruppe nicht<br />

vollständig ist. Die fehlenden Teilnehmerinnen werden herbeigerufen und während<br />

die anderen Mädchen auf sie warten, reden sie auf Q’eqchi’ unter sich. Sandra und<br />

ich scheinen dabei beide im gleichen Moment an die Abwesenden zu denken. 19<br />

19 Das Warten auf die noch fehlenden Teilnehmerinnen kann vielleicht als Ausdruck des Zusammenhalts der<br />

Gruppe gelesen werden: Keine soll in diesem Gespräch außen vor bleiben.<br />

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