Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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doch keine Forschung »neutral«, sondern sie wirkt in irgendeiner Weise auf die ForschungsteilnehmerInnen<br />
ein. Den kritischen Anspruch, die Vorannahmen und die<br />
Veränderungen in der Gruppendynamik <strong>mit</strong> den »Erforschten« gemeinsam zu reflektieren<br />
und eine bewusstere Bearbeitung der verdrängten Anteile – vielleicht<br />
Herrschaftserfahrungen – zu ermöglichen, teilt die Ethnoanalyse <strong>mit</strong> der Aktionsforschung<br />
5 oder Ansätzen solidarischer Forschung. Gleichzeitig kritisiert sie jedoch<br />
die illusionäre Konstruktion eines »herrschaftsfreien Raumes«. Es geht vielmehr<br />
um eine »Forschungseinstellung, die den verschiedenen Momenten von Macht und<br />
Herrschaft, die auf die Forschungsbeziehung übertragen werden bzw. partiell institutionell<br />
in ihr verankert sind, aufmerksam nachgehen kann.« (King 1992: 129) Im<br />
Idealfall kann dies »offensiv als Möglichkeit eines Zugangs zur Verarbeitung von<br />
Herrschaftserfahrungen« (ebd.: 115) genutzt werden. Dies gelingt dann, wenn sie<br />
den Erforschten die Gelegenheit einer Auseinandersetzung <strong>mit</strong> ihrer gesellschaftlichen<br />
Position und einer reflexiven Aneignung ihrer Geschichte bietet.<br />
Die Forschungssituation wird dabei »zu einer Art Bühne, auf der die Beforschten<br />
ihre Dramen entfalten – Dramen, die unterschiedliche Schichtungen und Ebenen<br />
ihrer Realitätsbearbeitung betreffen« (Bosse/King 1998: 220 f.). Im Anschluss<br />
an die Gespräche sollten Affektprotokolle angefertigt bzw. allgemein ein Forschungstagebuch<br />
geführt werden, in denen die erinnerbaren Irritationen festgehalten<br />
werden.<br />
Soweit möglich, sollte schon im Gespräch eine Verständigung über Deutungen<br />
des Gesagten stattfinden. Erst die nachträgliche ethnohermeneutische Interpretation<br />
ermöglicht jedoch eine gründliche Reflexion, bedarf diese doch der »Handlungsentlastetheit<br />
der wissenschaftlichen Rekonstruktionssituation« (King 2004:<br />
61). King betont dabei, dass, ähnlich wie die Gesprächsführung im Idealfall durch<br />
eine Supervision unterstützt wird, die Deutung des Textes am Besten im Rahmen<br />
einer Interpretationsgruppe geleistet wird, die in der Auflösung der Verstehenswiderstände<br />
und »blinden Flecke« der Forschenden die Funktion eines »triangulierenden<br />
Korrektivs« (ebd.) übernimmt.<br />
1.2. Ethnohermeneutische Interpretation<br />
Die Arbeitsweise der Interpretationsgruppen, an denen ich teilgenommen habe,<br />
lässt sich in vielem <strong>mit</strong> dem in diesem Band von Antje Krueger beschriebenen<br />
Verfahren der ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt vergleichen: Die Dy-<br />
5 Hier sei beispielsweise auf die »generativen Themen« bei Paolo Freire verwiesen. Hierbei geht es um Herrschaftserfahrungen,<br />
die aufgrund ihres traumatisierenden Gehalts aus der Sprache verbannt wurden, und in Freires<br />
Alphabetisierungsprogramm systematisch reflektiert werden. Das Lernen von Lesen und Schreiben soll dabei<br />
als Dechiffrierung der sozialen Realität erfolgen; ähnlich wie Freud das traditionelle Verhältnis zwischen Arzt<br />
und Patient (der Arzt diagnostiziert und erteilt Ratschläge, der Patient lässt sich über sich selbst belehren), dreht<br />
Freire da<strong>mit</strong> das Verhältnis in der Schule um, müssen die Lehrenden doch zunächst die generativen Themen der<br />
SchülerInnen eruieren und ihnen zuhören (Freire 1970: 112 ff.; Stapelfeldt 2004: 381 ff.).<br />
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